Entrechtete Körper: Vergleichen – Urteilen – Normieren – Leben

Entrechtete Körper: Vergleichen – Urteilen – Normieren – Leben

Organisatoren
Antje Flüchter, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld; Claudia Jarzebowski, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin; Cornelia Aust, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld
Ort
Online
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2020 - 16.06.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Malte Wittmaack, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld Email:

Den Auftakt der im Online-Format durchgeführten Konferenz bildete eine Einführung der Veranstalterinnen ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld), CLAUDIA JARZEBOWSKI (Berlin) und CORNELIA AUST (Bielefeld), die den Körper als Träger von Rechten und Informationen konzeptualisierte. Die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1288 (Praktiken des Vergleichens) organisierte Konferenz fragte danach, welche Formen der Entrechtung von Körpern sich in unterschiedlichen Situationen und Kontexten aufzeigen ließen. Die einführenden Überlegungen behandelten auch die Anschlussfähigkeit des Konferenzgegenstandes an tagespolitische Diskussionen. Gerade die in den Medien derzeit wieder heftig geführte Debatte um Rassismus – vor allem im Kontext der Proteste gegen Polizeigewalt – zeige, so die Veranstalterinnen, dass die Konferenz einen tagesaktuellen Bezug und das Thema eine hohe Relevanz habe. Der Körper und die Genese seiner Bedeutung für die Ordnung von Menschen mit Blick auf die Frühe Neuzeit zu hinterfragen und auszuleuchten, sei ein wichtiger Beitrag zu dieser Debatte. Zum Forschungsstand merkten die Veranstalterinnen an, dass mit Blick auf die Ergebnisse der Intersektionalitätsdebatte darauf zu achten sei, dass der Dreisatz von Geschlecht – Klasse –Ethnie (race) erweitert werden müsse. Claudia Jarzebowski betonte, dass ein unreflektierter Gebrauch von „race“ im Sinne von „Rasse“ die wissenschaftlich überholte Vorstellung, es gäbe „Menschenrassen“, perpetuiere. Insofern müsse es darum gehen, Geschlecht und Klasse mit anderen Kategorien wie Herkunft, Hautfarbe oder Alter zu verknüpfen, damit die Verflechtung von Kategorien sichtbar werde. Antje Flüchter wies auf die wichtige Rolle der Vergleiche und Vergleichspraktiken für die Fragen nach Körper und Körperlichkeit hin. Es gehe hier darum, den Wandel von religions- zu körperbezogenen Vergleichselementen in Kontaktsituationen zu untersuchen und besonders auch auf deren Verflechtungen einzugehen.

Alle Beiträger/innen bezogen die Aspekte des Vergleichens, Urteilens, Normierens und Lebens je spezifisch auf ihren eigenen Untersuchungskontext. So zeigten zu Beginn CHRISTINA SCHRÖDER (Bochum) und SUSANNE H. BETZ (Wien), wie besonders der weibliche Körper in der Frühen Neuzeit beurteilt und damit politisiert werden konnte. Christina Schröder gab dafür spannende Einblicke in die Erbfolgestreitigkeiten des Fürstentums Nassau-Siegen und legte dar, wie zwei verwitwete Fürstinnen und ihre Körper über deren Schwangerschaften in die konfessionell-politischen Auseinandersetzungen eingebunden waren und die Fürstinnen dort als Akteurinnen in Erscheinung traten. Ihre Schwangerschaften wurden über Vergleiche miteinander in Beziehung gesetzt. Die Schwangerschaften und deren erfolgreicher Ausgang, nämlich die Geburt eines männlichen Thronfolgers, wurden von allen Akteuren beobachtet und die Vergleichspraktiken können als ein Mechanismus verstanden werden, um die unsichere Situation beherrschbar zu machen. Die Diskussion des Arbeitspapiers ließ deutlich werden, wie der weibliche Körper von den frühneuzeitlichen Akteur/innen als politisches Kapital verstanden wurde, dem gerade in unsicheren Herrschaftskonstellationen große Bedeutung zukam.

Susanne H. Betz analysierte, wie die Körper der Heiratskandidatinnen Maria Magdalena und Konstanze von Habsburg miteinander verglichen wurden, um für Cosimo de Medici die passende Ehefrau zu finden. Betz arbeitete dabei besonders die Vergleichshinsichten (tertia) heraus, die genutzt wurden, um die Körper der beiden Schwestern in Hinsicht auf ihre Gesundheit zu beurteilen. Es zeige sich jedoch in den Quellen, dass die Schwestern nicht nur miteinander verglichen wurden, sondern, dass ihre Körper auch in Relation zu Cosimo de Medici betrachtet wurden. Der von schwacher Konstitution gekennzeichnete Cosimo sollte mit einer Frau verheiratet werden, die sich durch eine gute Gesundheit auszeichnete. Die weiblichen Körper der potentiellen Bräute wurden daher nicht nur miteinander relationiert, sondern der Vergleich erhielt seine Konturen und Schwerpunktsetzungen auch über Vergleiche mit dem „schwachen“ Körper des Bräutigams. Betz konnte in ihrem Beispiel gleichfalls zeigen, welche Bedeutung den beteiligten Akteuren im Prozess der Brautwahl und bei der Wahl der Vergleichselemente zukam, denn der Vergleich wurde nicht etwa von Cosimo selbst angestellt, sondern vom Nuntius Girolamo Portia. Die Körper der Schwestern erwiesen sich auch in diesem Beispiel als politisches Kapital. Auch bei Praktiken der Eheanbahnung konnten Vergleiche in der anschließenden Diskussion als Mechanismus zur Überwindung von Unsicherheiten herausgearbeitet werden: Die Vergleiche waren der Versuch, eine ungewisse Zukunft beherrschbar zu machen.

EVA LEHNER (Duisburg-Essen) und JOSEPHINE SPELSBERG (London) diskutierten das Thema der Konferenz in religiösen Kontexten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Eva Lehner zeigte anhand von Tauf- und Sterbebucheinträgen aus Sulzbach im 16. und 17. Jahrhundert, wie Pfarrer in dieser Zeit die Körper neugeborener Kinder miteinander verglichen, sie normierten und über sie urteilten. Der lebendige Körper erwies sich dabei als wichtiger Indikator für die Beseeltheit der Neugeborenen. Der Körper und besonders dessen Unversehrtheit, so legte Lehner am Beispiel einer Wundertaufe dar, wurde von den Pfarrern mit großer Sorgfalt beobachtet und dokumentiert. Diese Unversehrtheit wurde jedoch nicht nur von Pfarrern oder Hebammen beobachtet, sondern es war dafür auch ein gewisser Grad an Öffentlichkeit von Bedeutung: Die anwesende Gemeinde bezeugte die körperlichen Anzeichen, die während der Wundertaufe auftraten und auf die Seele des Kindes verwiesen. Kinder, die lebten, auch missgestaltete, gelegentlich „Monstrum“ genannt, waren Ausdruck des göttlichen Willens, sie waren beseelt. Die anschließende Diskussion griff den Zusammenhang zwischen der Beseeltheit und dem Körper auf und erinnerte daran, dass der Körper in der Vormoderne auch in seiner religiösen Zeichenhaftigkeit verstanden und analysiert werden müsse.

Der Beitrag von Josephine Spelsberg lenkte die Aufmerksamkeit auf die Frage des Zusammenhangs von Körper und Gender in der Vormoderne. Am Material der Historia Calamitate des Petrus Abaelard führte die Referentin in ihr Dissertationsprojekt ein. Sie ging dabei der Frage nach, ob es für Kleriker in der Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts eine andere Konzeptualisierung von Geschlecht gegeben habe, die auch Auswirkungen auf das Körperempfinden und somit auch auf das Männlichkeitsempfinden der Akteure hatte. Spelsberg ging davon aus, dass der Körper zur Identifikation der eigenen Männlichkeit weniger von Bedeutung war, sondern dass vielmehr eine Emotional Community untersucht werden müsse, der sich Abaelard nach seiner in der Historia Calamitate beschriebenen, erzwungenen Kastration zugehörig fühlte. Sein Körper sei für seine eigene Identifikation als Mann offenbar weniger von Bedeutung gewesen. In der Diskussion wurde betont, dass Geschlecht, auch Männlichkeit, in der Vormoderne weniger stark an den Körper und seine Materialität gebunden waren, und dass bei der Untersuchung von Männlichkeit der performative Charakter vormoderner Geschlechterkonstruktionen hervortrete und somit auch Männlichkeit als relationale Kategorie verstanden werden kann.

Im dritten Panel zeigte RUTH VON BERNUTH (Chapel Hill), dass Kleinwüchsigkeit in der Vormoderne nicht primär als Einschränkung zu verstehen ist, sondern im Sinne der Dis/ability History auch als Form der Ability verstanden werden kann. Dabei ging es ihr besonders um Jakob Ries, der über mehrere Jahre als sogenannter „Hofzwerg“ tätig war. Von Bernuth verwies in ihrem Vortrag vor allem darauf, dass die Darstellung von Zwergenfiguren in der Frühen Neuzeit eine große Popularität erfuhr und der „Hofzwerg“ Jakob Ries als eine historische Persönlichkeit in dem „Neu eingerichteten Zwergenkabinett“ (nach 1711) dargestellt und beschrieben wurde. Es vermischten sich in der untersuchten Quelle daher die Darstellungen eines historischen kleinwüchsigen Menschen mit der Darstellung von historisch nicht zu belegenden Kleinwüchsigen. Ruth von Bernuth stellte die Frage, wie die Darstellungsweise und die Zusammenstellung eines historisch belegbaren „Hofzwergs“ zusammen mit erfundenen Zwergfiguren zu interpretieren seien. Die Teilnehmer/innen diskutierten die Frage auch im Kontext der Beschreibung von „Zwergenvölkern“ in Enzyklopädien der Frühen Neuzeit.

KSENIA GUSAROVA (Moskau) lenkte den Blick der Tagung auf Konzepte der Hydrotherapie in der Mitte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Vincenz Priessnitz. Gusarova arbeitete heraus, dass sich in der Hydrotherapie die Widersprüchlichkeit moderner medizinischer Konzepte in einer Transformationsphase aufzeigen ließe. So wurde diese Form der Therapie zwar als moderne Weiterentwicklung im medizinischen Kontext aufgefasst, doch gleichzeitig bezogen sich die Konzepte der Hydrotherapie auf Körperkonzepte, die Akteuren der Vormoderne ebenso vertraut gewesen wären. Während die moderne Medizin mit ihrer Professionalisierung hier schon zu erkennen sei, war die Sicht auf den Körper der Patient/innen von einer hohen, auf der Humoralpathologie beruhenden, Individualisierung geprägt, die den Körper nicht generalisierte: In diesem Punkt zeigte sich die Widersprüchlichkeit medizinischer (Körper-)Konzepte am Übergang zur Moderne. Die Diskussion fragte vor allem nach den Diskursen, mit denen Priessnitz in Kontakt kam und die ihm ein Körperwissen vermittelten, das dem Diskurs der frühneuzeitlichen Medizin sehr ähnlich war.

Am zweiten Konferenztag beschäftigte sich CORINNA PERES (Wien) mit dem Kauf möglichst dunkelhäutiger Kleinkinder durch Isabella d‘Este. Die Markgräfin von Mantua ließ die kleinen Kinder durch ihren Agenten Brognolo begutachten und forderte ihn auf, ein Kind mit möglichst dunkler Hautfarbe zu erwerben. Peres zeigte, wie Brognolo verschiedene Praktiken des Vergleichens, Normierens und Urteilens im Erwerbungsprozess vollzog. Isabella d‘Este, so Peres, war den Kindern zugewandt und sah es als Aufgabe, die Potentiale der Kinder zu fördern und sie an den Hof zu gewöhnen, um sie dort als Sklav/innen zu integrieren. Die abschließende Diskussion beschäftigte sich mit der Frage nach der Bedeutung der Hautfarbe in der Vormoderne und wies auf die Gefahr hin, dass der Hautfarbe durch Historiker/innen zu viel Bedeutung beigemessen werde. An Peres‘ Beispiel seien vielmehr auch Fragen der Bedeutung von Kindern und Kindheit in der vormodernen Gesellschaft zu diskutieren und zu berücksichtigen, die dem Kind und seiner Erziehung und Charakterbildung eine große Bedeutung beimaßen. Der Körper müsse daher auch in Relation zu anderen Kategorien wie Alter gesehen werden.

Der Kulturkontakt mit dem Osmanischen Reich und die Wahrnehmung des Körpers durch die Reisenden war das Thema von MALTE WITTMAACK (Bielefeld). Er versuchte mit einer Unterscheidung von Körper und Leib zu zeigen, dass neben der religiösen Differenz auch eine körperliche von Reisenden ins Osmanische Reich wahrgenommen und verglichen wurde. Dabei wurden Fragen nach der Entstehung einer Dominanz körperlicher Differenz gegenüber religiösen Differenzen herausgestrichen. Die Religion, so eine These Wittmaacks, werde gar im Laufe der Moderne vom Körper in der Beurteilung von Menschen abgelöst. Die Teilnehmer/innen wiesen jedoch auch darauf hin, dass die beschriebene Entwicklung nicht auf eine Ablösung, sondern auf eine neue Ordnung und Verflechtung der Differenzmerkmale hindeute und so untersucht werden müsste.

MICHAEL LEEMANN (Göttingen) und ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld) griffen in ihren anschließenden Beiträgen die Fragen nach Religion und Körper in ihrer Verflechtung in Vergleichspraktiken wieder auf. Leemann zeigte am Beispiel der Mission der Herrnhuter-Brüdergemeine, dass Religion und Körper von Missionaren nicht als etwas gegensätzliches verstanden, sondern eine Verflechtung wahrgenommen wurde, die Akteure auch in Reiseberichten und Tagebüchern artikulierten. Antje Flüchter verwies in ihrer Darstellung der europäischen Wahrnehmung der indischen Bevölkerung darauf, dass die Suche nach einem einheitlichen tertium comparationis den europäischen Akteuren zunächst schwerfiel. Auch sei mit Blick auf die Moderne nicht von einem einfachen Umschlagen von Religion zu „Rasse“ als Vergleichskategorie zu sprechen. So wurde in Rassenlehren des 19. Jahrhunderts beispielsweise diskutiert, ob kulturellen gegenüber körperlichen Unterschieden in Bezug auf die Differenzierung von Menschen der Vorzug zu geben sei. Die situativen Kontexte und Diskurse, in die der Körper als Gradmesser für Differenz eingebunden war, wurden aufgezeigt und ihr dynamisierendes Moment für die Bedeutung des Körpers verdeutlicht.

Die Konferenz beleuchtete die Fragen des Körpers für Prozesse des Vergleichens, Normieren, Urteilens und Lebens aus unterschiedlichen Perspektiven. Als Fazit der Tagung konnte herausgearbeitet werden, dass die Untersuchung des Körpers und von Körperlichkeit in Relation zu anderen Kategorien, wie Geschlecht, Religion, Hautfarbe/ethnische Herkunft und Alter gesehen werden muss. Des Weiteren müssen Körper in der Vormoderne in ihrer oftmals auch konfligierenden Zeichenhaftigkeit verstanden und analysiert werden. In Zukunft sollen die Fragen von religions- und körperbezogenen Vergleichselementen, deren Überscheidungen und Wandel, in einem (beantragten) Teilprojekt des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 1288 (Praktiken des Vergleichens) weiterführend bearbeitet werden.

Konferenzübersicht:

Vorstellungsrunde und Einführung

Christina Schröder (Bochum): "nie zuvor ein solchen leib besessen". Sichtweisen auf vermutete Schwangerschaften fürstlicher Witwen in Nassau-Siegen 1734/35

Susanne H. Betz (Wien): Competing Bodies: In Search of an Ideal Bride for Cosimo (II.) de‘ Medici

Kommentar: Claudia Jarzebowski (Berlin)

Eva Lehner (Duisburg-Essen): „schön zusammen gewachsen, und eine andere gestalt (andern kindern gleich) erlanget“: Praktiken des Vergleichens von Kindern und ihren Körpern in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern

Josephine Spelsberg (London): A Third Gender or an Emotional Community? Shades of Masculinity in the Late Middle Ages

Kommentar: Antje Flüchter (Bielefeld)

Ruth von Bernuth (Chapel Hill): “Ein Ries dem Nahmen nach, ein Zwerg in seiner Länge“: Jakob Ries und die „Zwergenmode“ in der Frühen Neuzeit

Ksenia Gusarova (Moskau): “Not two persons were treated exactly alike“: Establishing Embodied Difference in Mid-Nineteenth-Century Hydropathy

Kommentar: Cornelia Aust (Bielefeld)

Corinna Peres (Wien): Versklavte Babys und Kleinkinder auf Bestellung: Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Isabella d’Este und Giorgio Brognolo (15. Jh.)

Malte Wittmaack (Bielefeld): Der Körper der „Turken“: Der körperliche Leib in Vergleichspraktiken aus deutschsprachigen Reiseberichten während des Kulturkontaktes zwischen Europa und dem Osmanischen Reich

Kommentar: Juliane Schiel (Wien)

Michael Leemann (Göttingen): Von Religion zu ‚Rasse‘: Die Ordnung der Körper in der dänisch-westindischen Mission der Herrnhuter Brüdergemeine, 1740–1770

Antje Flüchter (Bielefeld): Den Körper vergleichen? Frühneuzeitliche Wahrnehmung Indiens zwischen Religion, Ethnie und Rasse

Kommentar: Kirsten Kramer (Bielefeld)

Abschlussdiskussion


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