Kulturen des Kompromisses

Kulturen des Kompromisses

Organisatoren
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI) / Ute Schneider, Historisches Institut der Universität Duisburg-Essen (UDE) / Ulrich Willems, Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU)
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.07.2019 - 12.07.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Nils Bennemann, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen; Manon Westphal, Institut für Politikwissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vom 11.7. bis 12.7.2019 fand am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen der Workshop „Kulturen des Kompromisses“ statt. Die interdisziplinäre Veranstaltung brachte Politik-, Sozial-, Geschichts-, Kultur- und Rechtswissenschaftler/innen zusammen, um sich dem „Kompromiss“ als Kulturtechnik aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Der Workshop brachte seinem explorativen Charakter entsprechend mehrere Perspektiven zum Vorschein, die bei einer zukünftigen Untersuchung von „Kulturen des Kompromisses“ leitend sein könnten.

In ihrem Auftaktvortrag legten die Organisator/innen UTE SCHNEIDER (Essen) und ULRICH WILLEMS (Münster) grundsätzliche Überlegungen und Perspektiven zum Kompromiss anhand des aktuellen Forschungsstandes dar. Dabei warfen sie erstens Fragen nach der Statik und Dynamik von Kompromissen auf, d.h. welche Charakteristika und Typen von Kompromissen identifiziert werden können und inwiefern diese von unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Faktoren abhängen. Zweitens warfen sie Fragen nach der Kontextualität und Kontingenz von Kompromissen und damit nach den Merkmalen unterschiedlicher Kompromisskulturen auf. So lassen sich zum Beispiel institutionelle und soziale Arrangements, kulturelle Kontexte und etablierte Praktiken des Kompromisses unterscheiden.

Eine Reihe von Vorträgen thematisierte grundlegende theoretische und methodische Aspekte einer Erforschung von Kompromissen. JULIKA GRIEM (Essen) schlug vor, eine empirische Untersuchung von Kompromissgeschehen und Kompromissbildung vorzunehmen, die sich auf einer „Hinterbühne“ vollziehen würden, sowie eine Untersuchung der Inszenierung von Kompromissen auf der „Vorderbühne“. ROLF PARR (Essen) plädierte in seinem Beitrag dafür, Kompromisse nicht alleine aufgrund von interaktionistischen Modellen zu betrachten, wie dies in der Forschung bisher der Fall gewesen sei. Massendynamische und massenmediale Faktoren würden zur Rahmung von Kompromisshandeln beitragen, sodass sich die Frage danach stellt, inwiefern Kompromisse im Rahmen dessen geschlossen würden, was gesellschaftlich als „normal“ anzusehen sei. Parr schlägt daher vor, Normalismustheorien in die Untersuchung von Kompromisskulturen zu integrieren. JENS-MARTIN GURR (Essen) näherte sich der Thematik aus der Perspektive der narrativen Inszenierung von „vermittelnden Positionen“ in der Literatur: So gebe es mehrere Denkfiguren im Umgang mit Oppositionen, deren Erzählung die Grenze zwischen Prozess und Ergebnis verwische. Somit könne die Frage aufgeworfen werden, inwiefern Erzählen im Zusammenhang mit Kompromissen stehe.

Eine weitere Gruppe von Vorträgen rückte Überlegungen in den Vordergrund, die Anhaltspunkte für empirische begriffs- und realgeschichtliche Untersuchungen lieferten. Als einen Zugang zur empirischen Untersuchung von Kompromissen rückte THOMAS BAUER (Münster) numismatische Quellen in den Mittelpunkt. So inszenierten die Münzprägungen der Abbassidenkalifen Kompromisse in Bezug auf Nachfolgeregelungen oder sprachliche Vielfalt in ihrem Herrschaftsbereich. JAN-HENDRYK DE BOER (Essen) zeigte zum einen auf, dass der moderne Kompromiss-Begriff von jenem des Mittelalters zu unterscheiden ist: So bezeichnete compromissum im Mittel ein spezifisches Verfahren der Entscheidungsfindung auf der Basis eines Schiedsspruches durch ein Sondergremium, das auf einer „institutionalisierten Hinterbühne“ agierte. Zum anderen lotete er das Potential des Tagungsthemas für die Mediävistik aus, indem er Schlaglichter auf die Goldene Bulle, das Interregnum in Aragon und die Kompromisse in der höfischen Literatur warf. JOHANNES HAHN (Münster) zeigte im zeitlichen Längsschnitt, dass sowohl der griechischen wie auch der römischen Antike der Kompromiss eher fremd war. In Athen dienten Schiedssprüche, ähnlich denen, die bereits Jan-Hendryk de Boer vorstellte, der Minderung sozialer Konflikte, kamen allerdings eher im Kontext von Koloniegründungen zum Tragen, die Bereitschaft zu Schiedssprüchen war nur wenig ausgeprägt. Gleiches stellt er für die Römische Republik fest, deren Konkurrenzkultur der Kompromiss fremd war und wo Fortschritte gewaltsam erzwungen wurden. Einzige Kompromissgeneratoren, die Hahn als „Verhinderungsmacht“ bezeichnete, stellten die Kollegialität der beiden Konsuln und die Blockade durch Volkstribune dar. In der Spätantike traten dann Bischöfe als Schlichter in innergemeindlichen Streitfällen auf, ebenso einzelne holy men als charismatische Schlichter.

BARBARA BUCHENAU (Essen) stellte anhand des Missouri Compromise (1820), der Philadelphia Convention (1787) und der Festlegung des Wahlspruches (1956) dar, wie sich Konsens, Dissens und Kompromiss in der US-amerikanischen politischen Kultur manifestierten. Dabei betonte sie, dass im Falle der Philadelphia Convention die Delegierten keinerlei Kommunikation nach außen pflegen sollten, sich das Kompromissgeschehen abseits der Öffentlichkeit vollzog. UTE SCHNEIDER (Essen) stellte erste Befunde zu einer Begriffsgeschichte des Kompromisses vor, da bislang nur unzureichend berücksichtigt wurde, wo und wann der Begriff „Kompromiss“ verwendet wird, obschon in der Literatur immer wieder auf Friedensverträge als Beispiele für Kompromisse verwiesen wird. So wiesen die „Geschichtlichen Grundbegriffe“ keinen Eintrag zum Kompromiss aus, ebenso wenig das Grimm’sche Wörterbuch; Zedlers Universallexikon führe unter compromissum das bereits von Jan-Hendryk de Boer skizzierte Verständnis aus. Aus dieser Überlegung ließen sich mehrere Untersuchungen zum jeweils zeitgenössischen Kompromissverständnis ableiten, zum einen eine ereigniszentrierte Untersuchung von Friedensvertragsschlüssen, zum anderen eine akteurszentrierte Untersuchung anhand persönlicher Aufzeichnungen, z.B. anhand des langjährigen Verfassungsrichters Ernst Benda. Für ANDREA SZUKALA (Münster) stellte sich insbesondere die Frage, inwiefern die Erforschung von Kompromisskulturen greifbare Produkte liefern kann, die auch in Bildungskontexten nutzbar sind. Die Schule sei ein compromising device, die auf didaktische Strategien und Narrative um Einwohnerschaft angewiesen sei, um demokratischen Zusammenhalt ohne Ausschließungen zu generieren.

Die Frage nach den Voraussetzungen gelingender Kompromissbildungsprozesse wurde sowohl mit Blick auf unterschiedliche Politikebenen als auch auf konkrete Politikfelder diskutiert. KARSTEN MAUSE (Münster) argumentierte, dass eine systematische Erforschung der Voraussetzungen von Kompromissen die Mikro-, Meso- und Makroebene in den Blick nehmen müsse. Auf der Mikroebene etwa gilt es, zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich die Kooperationsbereitschaft von Menschen erhöht; auf der Mesoebene muss der gleichen Frage unter Berücksichtigung der besonderen Konstitution von kollektiven Akteuren wie etwa Interessengruppen nachgegangen werden; und auf der Makroebene schließlich muss gefragt werden, was Staaten dazu an- oder davon abhält, Kompromisse einzugehen. OLIVER TREIB (Münster) stellte die Frage nach den Bedingungen von Kompromissen in den Kontext europäischer Politik. Die Europäische Union zeichne sich durch eine Gleichzeitigkeit von vielen Einigungen und einer Erosion der Einigungsfähigkeit ab. Solch einen ambivalenten Befund gilt es zunächst einmal zu erklären, zum Beispiel indem Kenntnisse darüber gewonnen werden, welche Techniken die EU überhaupt einsetzt, um politische Einigungen zu erreichen. Aber auch die Grenzen politischer Kompromissfähigkeit angesichts der Besonderheiten von EU-Politik müssten reflektiert werden. DORIS FUCHS (Münster) warf die Frage auf, wie man Kompromisse von bloßen Deals unterscheiden könnte, und regte einen kritischen Blick auf sogenannte „faule“ Kompromisse an, die aus Perspektive der Natur etwa in der Umweltpolitik auszumachen sind. Allerdings sind die Besonderheiten bestimmter Politikfelder auch relevant für spezifischere Fragen an das Konzept des Kompromisses. Lässt sich die Natur zum Beispiel überhaupt als Teil eines Kompromisses verstehen und sind zukünftige Generationen als Kompromissteilnehmer/innen denkbar?

Ein weiterer Fokus des Workshops war die Frage, inwiefern der Kompromiss als ein normatives Ideal oder als eine Interpretationsfolie für die Deutung von politischer Ordnungsgenese dienen kann. CORINNA MIETH (Bochum) schlug vor, im Konzept des Kompromisses eine mögliche Alternative zu John Rawls‘ Idee des überlappenden Konsenses zu sehen. Während der überlappende Konsens von einer beträchtlichen Schnittmenge zwischen divergierenden weltanschaulichen Perspektiven ausgeht, könnte ein Kompromiss ein alternativer und realistischerer Weg zu gesellschaftlicher Kohäsion sein. Auch lässt sich ein Kompromiss als Vorstufe zu einem vernünftigen Konsens denken, insofern sich aus einem Kompromiss konsentierte Schnittmengen gesellschaftlicher Normen entwickeln können. ULRICH WILLEMS (Münster) schlug ebenfalls vor, mit dem Kompromiss über Rawls und den politischen Liberalismus hinaus zu denken, allerdings mit einem Blick auf Möglichkeiten der Konstruktion und Reproduktion liberaler politischer Ordnungen. Sofern man die Geschichte der Genese dieser Ordnungen durch die Brille des politischen Pluralismus als eine Geschichte der Kompromissbildung liest, könnte man zu einer anderen Erzählung gelangen als Rawls, der sie als Resultate der Genese einer jenseits weltanschaulicher Differenzen stehenden politischen Vernunft deutet. Das Feld der Religionspolitik böte sich für ein solches Unterfangen besonders an, weil Regelungen hier häufig Ergebnisse von Aushandlungen zwischen divergierenden Interessen sind.

Der Kompromiss wurde allerdings auch kritischen Betrachtungen unterzogen. THOMAS GUTMANN (Münster) argumentierte aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, dass die Funktion des Rechts gerade darin besteht, von der Notwendigkeit zu entlasten, Kompromisse schließen zu müssen. Das Rechtssystem klärt, welche Ansprüche zu Recht geltend gemacht werden und welche nicht, und zwar unabhängig davon, welche Machtressourcen der Einzelne hat. Weil Kompromisse aber stets Ausdruck von asymmetrischen Machtverhältnissen sind, sei die Perspektive des Rechts, die den Schutz von Individuen als Gleiche anmahnt, genuin kompromiss-skeptisch. OLIVER LEPSIUS (Münster) fokussierte die Logik der Verfassungskontrolle und argumentierte, dass es für Gerichte prinzipiell schwierig sei, den Kompromisscharakter von Gesetzen zu berücksichtigen. Die Verfassungskontrolle wägt Zweck und Mittel von Eingriffen in Grundrechte ab. Gesetze, die aufgrund ihres Kompromisscharakters nicht klar angeben, was ihr Zweck ist, sind für die juristische Prüflogik deshalb notwendig ein Problem. Auch seien bestimmte Grundrechte, wie zum Beispiel die Religionsfreiheit, besonders kompromissfeindlich – hier könne man von den Rechteträger/innen gar keine Kompromissbereitschaft erwarten. STEFAN HUSTER (Bochum) schloss an die Debatte zur juristischen Verhältnismäßigkeitsprüfung an, konturierte jedoch perspektivisch Möglichkeiten für eine Verzahnung von politikwissenschaftlichen und rechtsdogmatischen Perspektiven. So ließe sich etwa prüfen, inwiefern politikwissenschaftliche Erkenntnisse zu dem unterschiedlichen Wesen und unterschiedlichen Herausforderungen von Wert- und Interessenkonflikten in der Verhältnismäßigkeitsdogmatik systematisch berücksichtigt werden könnten. Auch die Praxis schiedsrichterlicher Verfahren zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten könnte Möglichkeiten bieten, abwägungsskeptische Rechtsdiskurse für eine Befassung mit Kompromissen zu öffnen.

Für den Abendvortrag hatten die Organisator/innen den ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, JÜRGEN RÜTTGERS (Pulheim), gewonnen. In seinem Vortrag reflektierte Rüttgers vor dem Hintergrund seiner politischen Erfahrungen, welche Voraussetzungen und Funktionen der Kompromiss in der Demokratie hat. Zwar habe der Kompromiss in Deutschland lange Zeit einen schlechten Ruf gehabt – man denke an die Rede vom „faulen Kompromiss“ – aber die Demokratie setze die Bereitschaft zu Konflikt und Kompromiss geradezu voraus. Der Kompromiss kann helfen, gesellschaftliche Konflikte zu überwinden, und an solchen mangelt es gegenwärtig nicht. Mit Blick auf die politische Repräsentation, die Rolle politischer Parteien, die Regierungspraxis, demokratische Teilhabe und Europa erleben Demokratien derzeit Umbrüche und Herausforderungen, bei deren Bewältigung der Kompromiss eine wichtige Rolle spielen könnte.

Die Ausführungen Rüttgers‘ unterstrichen damit die prinzipielle Bedeutung, die dem Kompromiss in (demokratischen) Gemeinwesen zukommt, und bekräftigten, dass die interdisziplinäre Erforschung von Kompromisskulturen, deren Kontingenz und Kontextualität, ein lohnenswertes Forschungsfeld ist, das über die Erkenntnisziele einzelner wissenschaftlicher Disziplinen hinausweist.

Konferenzübersicht:

Ute Schneider (Essen) / Ulrich Willems (Münster): Begrüßung und Einleitung

Karsten Mause (Münster): Der Kompromiss als Forschungsgegenstand: polit-ökonomische Perspektiven

Thomas Gutmann (Münster): Das Versprechen des Rechts: Entscheidung statt Kompromiss

Julika Griem (Essen): Deliberation – Drama

Thomas Bauer (Münster): Kompromissmünzen

Jan Hendrik de Boer (Essen): Präsenz und Abwesenheit des Kompromisses in der historischen Mediävistik

Barbara Buchenau (Essen): Antonyme der U.S.-amerikanischen politischen Kultur. Konsens – Dissens – Kompromiss – Übereinkunft/Deal

Rolf Parr (Essen): Kompromisse – interaktionistisch, massendynamisch, normalistisch?

Doris Fuchs (Münster): Natürliche Kompromisse?

Jens Gurr (Essen): Graustufen, sowohl/als auch, Aufhebung: Literaturwissenschaftliche Überlegungen zu narrativen Inszenierungen vermittelnder Positionen

Öffentlicher Abendvortrag, Jürgen Rüttgers (Pulheim): Demokratie und Kompromiss

Johannes Hahn (Münster): Der Kompromiss im politischen System der römischen Republik

Oliver Treib (Münster): Kulturen des Kompromisses im EU-Mehrebenensystem

Oliver Lepsius (Münster): Kompromiss vor dem Richtstuhl

Andrea Szukala (Münster): Neo-Patriotismus als Kompromiss?

Corinna Mieth (Bochum): Kompromisse in der politischen Philosophie

Stefan Huster (Bochum): Wert- und Interessenkonflikte als Gegenstand von Kompromissen

Ute Schneider (Essen): Begriffsgeschichte des Kompromisses. Erste Überlegungen und Befunde

Ulrich Willems (Münster): Der Kompromiss als Element der Konstitution und Reproduktion politischer Ordnung


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts