Diversität statt Urbanität. Orte jüdischen Lebens zwischen Zentren und Peripherie vom 15. bis 19. Jahrhundert

Diversität statt Urbanität. Orte jüdischen Lebens zwischen Zentren und Peripherie vom 15. bis 19. Jahrhundert

Organisatoren
Interdisziplinäres Forum „Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit“; Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.02.2020 - 09.02.2020
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Von
Oliver Kruk / Helena Kappes, Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg

Lange Zeit dominierte in der Geschichtsschreibung die Vorstellung, dass nach einer Zeit der relativen Blüte des aschkenasischen Judentums im Mittelalter eine Epoche des Niedergangs in der Frühen Neuzeit folgte, in der jüdische urbane Zentren durch ländliche Gemeinden abgelöst wurden. Trotz der Forschungsfortschritte zu Land- und Hofjudentum sowie zu städtischen Gemeinden in der Frühen Neuzeit seit den späten 1980er Jahren hielt sich das Paradigma vom omnipräsenten Landjudentum hartnäckig – auch, weil nicht zwischen unterschiedlichen Siedlungsregionen im Reich differenziert wurde. Diese Problematik wurde bereits auf der Tagung des Forums 2019 unter dem provokanten Titel „Die Stadt als Ort jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit“ diskutiert. Es wurden städtische Großgemeinden wie Frankfurt am Main und Worms, die Sonderfälle des Marktes Fürth und der Reichstagsstadt Regensburg sowie landesherrliche Residenz- und Kleinstädte v.a. im süddeutsch-österreichischen Raum in den Blick genommen. Sollten das alles Ausnahmen sein, oder, so das Fazit, könnte es an der Zeit sein, das Paradigma vom allein prägenden Landjudentum zu relativieren und zu differenzieren?

Zur Beantwortung dieser Frage sollte die diesjährige Tagung einen Beitrag leisten.1 Dazu sollten nicht nur ein größerer geographischer Raum in den Blick genommen, sondern auch zentrale Begriffe wie Urbanität und Zentralität bestimmt und in ihrem jeweiligen Verhältnis zu „Stadt“ als (jüdischem) Raum untersucht werden. Die Tagung wurde konzipiert und vorbereitet von Ulrich Hausmann (Mainz), Ursula Reuter (Köln), Rotraud Ries (Würzburg), Wolfgang Treue (Duisburg-Essen) und Petra Steymans-Kurz (Stuttgart) als Akademiereferentin.

Ihr lag die Arbeitshypothese zugrunde, dass die urbanen Gemeinden des Mittelalters in der Frühen Neuzeit durch eine große Diversität von jüdischen Lebens- und Siedlungsformen abgelöst wurden. Als Indiz sei u.a. anzusehen, dass die Merkmale von jüdischer Zentralität (dazu gehören insbesondere die notwendigen Institutionen wie Betraum/Synagoge, Mikwe, Bildungseinrichtungen, rabbinische Gerichtsinstanzen und ein Friedhof) nicht mehr zwangsläufig an Urbanität gekoppelt waren. Bei der Bezeichnung der Siedlungsorte habe man zeitgenössisch differenziert zwischen Kehille (Gemeinde) und Jischuv (Siedlung). Die Vielfalt von Siedlungs-, Lebens- und Organisationsformen zwischen Dorf und Metropole stand folglich im Fokus der diesjährigen Tagung. Ihre Themenstellung bot die Möglichkeit, folgende Aspekte zu reflektieren: Wie lassen sich unterschiedliche Siedlungsformen wie Metropole, Vorort, Kleinstadt oder Dorf überhaupt definieren? Welche Beispiele für jüdische Ansiedlungen gibt es im Reich? In welchem Verhältnis zueinander stehen herrschaftliche Rahmenbedingungen und jüdische Siedlungs- und Organisationsoptionen?

Als Ergebnis wurde deutlich, dass Zentralität neu definiert werden muss. Denn die Koppelung von Urbanität und Zentralität löste sich nach den spätmittelalterlichen Vertreibungen auf und wurde durch eine Reihe unterschiedlicher Ausprägungen von Zentralität ersetzt. Rainer Josef Barzen (Münster) zeigte, dass Strukturen der einst urbanen Gemeinden auch in der Frühen Neuzeit in ländlichen Siedlungen weiterbestanden. So ging etwa der Rechtsraum (Medinat) der städtisch-jüdischen Gemeinde Würzburg in die Medinat Franken über. Darüber hinaus konnte Lucia Raspe (Frankfurt am Main) anhand der Untersuchung von west-aschkenasischen minhagim-Büchern (Brauchbüchern) feststellen, dass Juden in peripheren Siedlungen noch Jahrhunderte später an Riten ihrer einstigen urbanen Gemeinden festhielten.

Die Tagung stellte zudem heraus, dass jüdische und christliche Zentralitätsfaktoren nicht immer deckungsgleich waren; vermeintliche Peripherie konnte auch jüdisches Zentrum sein. Aufgrund des Fehlens wirtschaftlicher und politischer Zentren bezeichnete Maximilian Grimm (Eichstätt) das Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens in Franken und Schwaben als Peripherie. Nichtsdestotrotz richteten die nichtjüdische wie die innerjüdische Verwaltung eigene Zentren innerhalb des Territoriums ein, während das religiöse Leben und die wirtschaftlichen Aktivitäten der jüdischen Bewohner nicht selten nach außen gerichtet waren.

Die Diversität jüdischer Lebens- und Organisationsformen, so Rotraud Ries (Würzburg) in ihrem Werkstattbericht, drückte sich darüber hinaus in Anlage und Nutzung neuer, außerstädtischer Friedhöfe aus, die sich als Merkmal jüdischer Zentralität verselbständigten. Doch nicht überall. Während ländliche Bestattungsorte z.B. in Franken über lange Zeit gemeinsam von ganzen Bezirken genutzt wurden, findet man im Raum Niedersachsen zunächst weiterhin urbane Standorte. Seit dem 18. Jahrhundert begannen jedoch viele Gemeinden ihren eigenen Kleinfriedhof anzulegen. Zudem zeigte die Tagung auf, dass der Zentralitätsbegriff auch durch Zuschreibungen wie etwa „Sehnsuchtsort“ erweitert werden muss. So stellte Elisabeth Loinig (St. Pölten) die Stadt Wien vor, die sich im 18. Jahrhundert auch ohne jüdisch-gemeindliches Zentrum als Anziehungspunkt jüdischer Zuwanderung herauskristallisierte und sich erst im 19. Jahrhundert zum religiösen Zentrum entwickeln konnte.

Die Untersuchungen von Dieter Wunder (Bad Nauheim) zu den reichsritterschaftlichen Dörfern Wilhermsdorf und Mansfeld, von MichaEl Green (Kopenhagen) zu Amsterdam, Andreas Göller (Darmstadt) zu Trier und Koblenz sowie Maria Ciesla (Warschau) zur Privatstadt Słuck im heutigen Litauen verdeutlichten außerdem die hohe Bedeutung von Politik und herrschaftlicher Verwaltung für die Siedlungs- und Zentralitätspotentiale jüdischer Gemeinden in der Frühen Neuzeit. Die Herausbildung eines zentralörtlichen Charakters hing in vielen Fällen maßgeblich von den jeweiligen Herrschaftsträgern ab. Außerdem lässt sich eine Fülle jüdischer Lebensformen erkennen, die insbesondere von der Schutzausübung, aber auch von Rechten und Pflichten unter dem jeweiligen Landesherrn abhingen. Verschiedene Formen von Zentralität zeichnen sich also durch die unterschiedliche Zusammensetzung von administrativen, herrschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren aus.

Die Tagung konnte an einigen Beispielen zeigen, dass die Frage nach der Diversität der Siedlungs- und Lebensformen in der Frühen Neuzeit ergiebig, aber noch nicht erschöpfend beantwortet ist. Gleiches gilt für Charakter und Wandel jüdischer Zentren. Für eine weiterführende Untersuchung sollten der Raum außerhalb Süddeutschlands stärker einbezogen sowie besonders Kleinstädte und vorstädtische „Ersatzsiedlungen“ vergleichend berücksichtigt werden. Auch den Verbindungen zwischen Orten, den großen Handelsrouten und den an ihnen liegenden Siedlungen kommen Zentralitätsqualitäten zu, die bislang zu wenig untersucht wurden. Neue Erkenntnisse versprechen zudem mikrohistorische Herangehensweisen, da einzelne Personen für die Entwicklung prägend sein und sich aus individuellen Akteuren größere Strukturen entwickeln konnten. Besonders aufschlussreich hierfür sind Familiennetzwerke, die jüdische Gemeinden in Zentrum und Peripherie miteinander verbinden konnten. Um diesen Aspekt weiterzuentwickeln, beschäftigt sich die nächste Tagung des „Forums für Jüdische Geschichte in der Frühen Neuzeit“ mit dem Schwerpunktthema Familie. Das Thema ist in weitere Richtungen anschlussfähig und soll einen Blick auf unterschiedliche soziale Schichten öffnen.

Aufgrund der aktuellen Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird die nächste Tagung des Forums erst im Februar 2022 stattfinden.

Konferenzübersicht:

Ursula Reuter (Köln): Einführung

Rainer Josef Barzen (Münster): Von der Peripherie zum Zentrum? Kontinuität und Bedeutungswandel ländlicher jüdischer Siedlungen zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit

Lucia Raspe (Frankfurt am Main): Peripherie ohne Zentrum. Bedingungen jüdischer Religionsausübung im Spiegel jiddischer Brauchbücher des 16. Jahrhunderts

Andreas Göller (Darmstadt): Urbane jüdische Lebensräume am Mittelrhein und an der Mosel in den Dynamiken des 30jährigen Krieges

Maria Ciesla (Warschau): Słuck als urbanes jüdisches Zentrum im Großfürstentum Litauen im 17. Jahrhundert

Dieter Wunder (Bad Nauheim): Reichsritterschaftliche Gutsdörfer mit zentralörtlichen Funktionen. Mansbach und Wilhermsdorf vom 15. bis 18. Jahrhundert

Maximilian Grimm (Eichstätt): Die jüdischen Siedlungen im Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens von 1650 bis 1809. Zentralität in der Peripherie?

Rotraud Ries (Würzburg): Urbane Zentren, Vorortgemeinden und ländliche Peripherie. Ein Überblick am Beispiel der Friedhöfe in Norddeutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert

Michael Green (Kopenhagen): Jewish Life in Early Modern Amsterdam through the Prism of Privacy

Elisabeth Loinig (St. Pölten): Ein Zentrum mit engen Grenzen? Jüdische Räume in der Residenzstadt Wien und ihrem Umland im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Anmerkung:
1 Eine ausführliche Fassung des Berichts auf der Grundlage der Zusammenfassungen der Referent*innen finden Sie unter http://www.forum-juedische-geschichte.de (21.10.2020).