Wissenschaftliche Zeitlichkeiten der Moderne im Spiegel des Anthropozäns

Wissenschaftliche Zeitlichkeiten der Moderne im Spiegel des Anthropozäns

Organisatoren
Moritz Ingwersen, Universität Konstanz / Sina Steglich, German Historical Institute London
Ort
online
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2020 - 25.09.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Joshua Klein, Seminar für Medienwissenschaft, Universität Basel

Mit der Ausrufung des Anthropozäns wurde der Moderne eine neue Zeitlichkeit eingeschrieben, die den Menschen in geologische Formationsprozesse einbettet und nichtmenschliche Zeitskalen in den Vordergrund rückt. Doch welche Wissenschaften autorisieren und produzieren dieses Zeitwissen überhaupt? Welche Konzeptionen von Zeit liegen dem Anthropozän zugrunde bzw. gingen ihm voraus? Diesen Fragen ging der von der Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik geförderte Online-Workshop nach. Sechs Präsentationen mit jeweils zwei Repliken sowie drei Keynotes explizierten die epistemischen Eigenlogiken und historischen Hintergründe modernespezifischer Denk- und Darstellungsweisen von Zeit an der Schnittstelle von Natur-, Lebens- und Geisteswissenschaften. Das Anthropozän galt dabei als gemeinsamer Ausgangspunkt und thematische Klammer, ohne dass die Beiträge sich darauf beschränkten. In den Diskussionen kamen verschiedene Begriffe, Medien und Skalen von Zeit zusammen.

Mit dem Forschungsparadigma des Anthropozäns erfuhr in den vergangenen Jahren auch die aus der Erdgeschichte des 18. Jahrhunderts abgeleitete Tiefenzeit Konjunktur. SIMON PROBST (Vechta) problematisierte die konzeptuelle Nähe zwischen den beiden Diskursen und ihre Differenzen. Er zeigte anhand der zeitgenössischen Tiefenzeit-Rezeption, dass alte Deutungsmuster – etwa die anthropologische „Kränkung“ durch die Entdeckung eines über-menschlichen Zeitmaßstabs – die heutige Situation nicht adäquat abbilden. Dipesh Chakrabartys Überlegungen zur „Anthropocene time“ folgend, möchte Probst Erdgeschichte eher als neue Herausforderung für den Menschen verstanden wissen: in historiografischer Hinsicht, aber auch auf der ethischen und politischen Handlungsebene.

JUSTUS PÖTZSCH (Mainz) illustrierte am Beispiel der Pedosphäre als Grenzschicht zwischen Mensch und Planet das auch der Anthropozän-Debatte zugrundeliegende Problem der modernen Trennung zwischen Kultur und Natur. Die Gletscherschmelze sei so etwa gleichermaßen als ein natürlicher Vorgang wie auch als menschenverursacht zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund fragte Pötzsch nach Möglichkeiten der Synchronisierung von Menschheits- und Erdgeschichte und schlug vor, „Verzeitlichung“ im Anthropozän anhand der Stratifizierungsprozesse von Mensch und Umwelt zu verstehen: Der Mensch trägt ebenso Erdschichten ab, wie er andere anhäuft, und erzeugt auf diese Weise gemeinsam mit der Natur immer wieder neue (Ge-)Schichten. Bleibt die Frage, von wem und wie genau diese am besten „abzutragen“ sind, denn auch die Schrift hat ihre spezifische Zeitlichkeit. Lässt sich mit den aktuellen Mitteln der Geschichtswissenschaft das Anthropozän überhaupt erschreiben?

In seiner Keynote zeigte HENNING SCHMIDGEN (Weimar) zunächst zusammenfassend auf, wie es zur gegenwärtigen Konjunktur der Erforschung von Zeitlichkeit kam: Waren es bis in die 2010er Jahre moderne „Orte des Wissens“ (Labor, Rechenzentrum, usw.), die von den weitgehend „zeitlos“ gebliebenen Laboratory Studies untersucht wurden, ließ sich erst über den Umweg der Lebenswissenschaften „Biologie, Zeit und Gesellschaft“ als zusammenhängender Komplex beschreiben. Ursprünge dieses Wissenskomplexes sieht Schmidgen bei Walter Benjamin und Gaston Bachelard – beiden attestierte er eine gesteigerte Aufmerksamkeit für unterschiedliche Zeitlichkeiten, die sie in ihren Werken auf Begriffe wie „Augenblick“, „Plötzlichkeit“ und „zeitlicher Bruch“ brachten. Explizit wurde die Forderung nach einer Analyse der „Vielheit der Zeiten“ laut Schmidgen schließlich bei Georges Canguilhem, der mit der „naturgeschichtlichen Zeit“ zudem darauf hinwies, dass Leben und Umwelt selbst in die Geschichte (des Menschen) verstrickt und somit historisch seien. Aus diesem genealogischen Aufriss ist mitzunehmen, dass Zeiten-HistorikerInnen nicht beim einfachen Konstatieren von solchen Eigenzeiten stehenbleiben sollten, sondern diese miteinander vergleichen, in ihrer spezifischen Funktionalisierung und Notwendigkeit beschreiben und in den allgemeinen Kontext der gesellschaftlichen Zeit integrieren sollen.

TILMAN RICHTER (Bochum) sprach über diplomatische Wissenschaften und die bedeutende Rolle von Akten und Unterschriften vor 1800 als historische Medien, die Individualität aufzeichneten und in Verwaltungsvorgänge einschrieben. Auf diese Weise konnten Dokumente nicht zuletzt zum Fundament von Dingen und Ideen langer Dauer werden (in der Frühen Neuzeit etwa das Deutsche Reich). Mit der Etablierung des Archivs wurde Vergangenheit schließlich zur „Ressource“ von Deutungshoheit in der Gegenwart. Entscheidend war nun die Frage, wer vergangene Zeiten autorisieren und interpretieren durfte bzw. überhaupt Zugang zu ihnen gewährt bekam. Eine besondere Rolle nahmen dabei die Kanzleischreiber ein, die sich durch die dichte Dokumentation des bisherigen (Rechts-)Geschehens nun Gedanken über ihre Stellung in der Geschichte machten und ihre Schriften stets auch für eine „imaginierte Nachwelt“ im Hinterkopf produzierten. Diese Durchlässigkeit zwischen den Zeiten bezeichnete Richter als „Ökologisierung“ der Vergangenheit, die durch ihre formalisierten und standardisierten Dokumente bis in die (materielle) Umwelt der Gegenwart hineinreiche.

CLARA FRYSZTACKA (Frankfurt/Oder) stellte die Frage, wie historische Zeit konstruiert wird und was demgegenüber als nicht-historische Zeit bezeichnet werden kann. Am Beispiel von Zeitschriften in polnischen Teilungsgebieten 1880–1914, in denen oftmals andere zeitgebende Institutionen (Kirche, Schule, Verwaltung) fehlten, führte sie die Bedeutung von Periodika als Zeit-Geber auf. Besonders plausibel beschrieb sie die räumliche und zeitliche „Semi-Peripherialität“ der Slawen zwischen Ost und West bzw. zwischen Mythos und Geschichte – ihr Interesse an der Anwendbarkeit von Post-colonial Studies im Kontext der osteuropäischen Geschichte lenkte den Blick auf die (zeitlichen) Grenzen eurozentrischer Geschichtsschreibung, die schriftliche Quellen bevorzugt behandelt und folglich die schriftlosen Slawen als „Naturvolk“ konzipierte, das erst mit dem Krieg gegen die Germanen „von außen“ in die Geschichte eingeschrieben wurde. Jedoch sei es keineswegs so, dass es den Slawen an Konzepten von Zeitlichkeit gefehlt habe; sie ließen sich durch fehlende Datierungen und Quellen schlicht nicht ohne Weiteres in Europas Geschichtsmodell übersetzen.

Ein kulturwissenschaftliches Panorama zum Verhältnis von Anthropologie und Zeit lieferte die Keynote von ERHARD SCHÜTTPELZ (Siegen), in der es um Allochronie im 19. Jahrhundert und heute, letztlich aber vor allem um das Primitive als Schlüsselkategorie moderner Zeitlichkeit ging. In Bezug auf das Primitive dominierten lange Zeit zugespitzte Zeitkategorisierungen wie zum Beispiel „Überzeitlichkeit“ oder kanonisierte Denkfiguren wie die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Doch seit einigen Jahrzehnten dekonstruiere die Ethnologie den Begriff des Primitiven und nehme sich seiner komplexen Zeitlichkeit an, etwa in der Datierung von Fossilien oder anhand der Frage nach biologischen Harmonisierungsprozessen, die bis in die Vorgeschichte reichten. Auf diese Weise ergäben sich in der Gegenwart variable Skalierungsmöglichkeiten, die sich nicht mehr lediglich als archäologische oder geologische Zeitrechnung äußerten, sondern als deep oder big history auch die Geisteswissenschaften beschäftigen. Für Schüttpelz ist „Anthropozän“ ein zwar schön klingender, aber schlecht gewählter Begriff, da er eine holistische Figur beschreibe, die „von oben“ wirken soll und doch unverbindlich bleibt (nicht anders die davon abgeleiteten Konzepte wie Bruno Latours „Gaia“). Schüttpelz sieht in den konkreten Bewegungen „von unten“ das größere Handlungspotenzial. Statt sich mit den „immer gleichen Figuren“ von Natur und Ökologie zu beschäftigen, plädiert er für die ethnologische und historische Auseinandersetzung mit den technischen Innovationen der vermeintlichen Naturvölker, wie den Gartenbauvölkern des Amazonas. Dann hätte das Anthropozän dennoch sein Gutes: die Aktualisierung bzw. Rekonfiguration der Allochronie.

Einen konkreten Versuch der Historisierung des Anthropozäns legte PATRICK STOFFEL (Lüneburg) in seiner als „Bildungsgeschichte“ angekündigten Keynote über das Menschsein angesichts der Tiefenzeit vor. Am Beispiel von Franz Ungers um 1850 erschienenem, populärwissenschaftlich aufbereitetem und in pädagogischen Kontexten verwendetem Urwaldatlas veranschaulichte Stoffel, welche Vorstellungen von Vorgeschichte im langen 19. Jahrhundert zirkulierten. Die prähistorischen Landschaftsbilder sollten die Entwicklung der Natur erfahrbar machen, folgten letztlich aber noch einem vordarwinistischen Evolutionsmodell und zeigten die Aneignung der prähistorischen Landschaften durch den Menschen, der sich als letzte Stufe der Erdgeschichte einschrieb. Mit dem Urwaldatlas verhandelte Stoffel visuelle Strategien der Verzeitlichung von Landschaft und verdeutlichte den Unterscheid zwischen Tiefenzeit und Anthropozän. In Franz Ungers typisierten und symbolischen Urzeitbildern geht die Zeit des Menschen (Geschichte) noch aus der Zeit der Natur (geologische Tiefenzeit) hervor, wohingegen im Anthropozän umgekehrt der Mensch sich nun als geologische Triebkraft jenseits klarer Natur-Kultur-Grenzen versteht.

Die Zeitkonzepte anderer Wissenschaften wirken sich auch auf das Verständnis von Geschichte aus. Nachdem Henning Schmidgen den Einfluss der Lebenswissenschaften aufgezeigt hatte, beschäftigte sich MARIA SAVINA (Berlin) anhand von Walter Benjamin und dessen theologisch geprägtem Geschichtsdenken mit der modernen Zeitlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Benjamin entwickelte für seine Geschichtsphilosophie eigene Zeitbegriffe wie „Ursprung“, „Urgeschichte“, „Unterbrechung“ und „Jetztzeit“, die für ihn nicht bloß Gegenwart meinte, sondern die gesamte Menschheitsgeschichte umfassen sollte. Savina erläuterte, dass auch geologische Metaphern in Benjamins Geschichtstheorie eingingen, wenn er zum Beispiel die Erde als Verkörperung von Geschichte konzipierte. In diesem Kontext wäre es interessant gewesen, noch mehr über die Rezeption von Benjamins Zeitdenken zu erfahren; so hatte er mit dem selbsternannten Realisten Siegfried Kracauer einen anerkennenden Kritiker, den Benjamins Schriften zwar zu eigenen historiografischen Arbeiten inspirierten, den aber zugleich dessen „utopischer“ Begriffsapparat störte. Nicht abschließend geklärt werden konnte, wie sehr sich Benjamin selbst mit den zeitgenössischen Konzeptionen von Tiefenzeit auseinandersetzte und in welchem Verhältnis sie – über den Metaphergebrauch hinaus – zu seinem theologischen Zeitdenken standen. Dennoch zeigte Savinas Beitrag, dass sich angesichts der aktuellen ökonomischen und ökologischen Krisen auch eine (Re-)Lektüre von Klassikern moderner Zeitreflexionen wie Benjamins Ideen zum Begriff der Geschichte und der Katastrophe lohnen kann.

LUKAS DOIL (Köln) beschloss die Tagung mit einem Beitrag über die Technikfolgenforschung der 1970er Jahre und Zukünfte im „Technozän", das für ihn mit dem Anthropozän als gemeinsame Erzählung zusammengedacht werden kann. Beiden Bereichen ginge es schließlich um autorisiertes und codiertes Expertenwissen, das auf mögliche Zukünfte verweist. Doil interessierte sich in diesem Zusammenhang insbesondere für die Transformation „vergangener Zukünfte“, wie sie sich etwa in der Umwidmung von Organisationsbegriffen wie „Machbarkeit“ und „Planung“ zu „Management“ und „Szenario“ ausdrückte, deren Semantiken und Rezeptionen es noch zu untersuchen gelte. Ergänzend wäre hier möglicherweise noch ein Begriff wie „Solutionismus“ zu nennen, nach dem auf soziale, ökologische und politische Probleme stets mit technischen Lösungen zu antworten sei. Mit den Beschäftigungsfeldern des Solutionismus – künstliche Intelligenz, Posthumanismus, Unsterblichkeit, Marsexpedition – stellt sich nämlich auch die Frage nach (wissenschaftlicher) Zeitlichkeit und Zukunftsdenken wieder von Neuem.

Sein Ziel, „durch den interdisziplinären Austausch […] für disziplinäre Eigenzeitlichkeiten zu sensibilisieren und die Kategorie Zeit als gleichsam kultur- und naturkonstituierenden Parameter ‚moderner‘ Wissenspraxis greifbar zu machen“, konnte der Workshop trotz der Online-Hürde dank seiner pointierten Präsentationen, die stets zum Austausch anregten, umsetzen. Es ist nicht zuletzt den thematischen Leitfragen der VeranstalterInnen zu verdanken, dass sich die Diskussion dabei trotz der disparaten Fachinteressen nicht im Konstruieren von Zusammenhängen verlor, sondern immer wieder auf den Kern des Themas zurückkam: Welche Rolle wird der jeweiligen Wissenschaft bei der Konzeptualisierung, Autorisierung, Vermittlung oder auch Herstellung spezifischer Zeitlichkeiten zugesprochen?

Konferenzübersicht:

Simon Probst (Vechta): Wie die Geschichte der Erde bewohnen? Tiefenzeit zwischen Moderne und Anthropozän

Justus Pötzsch (Mainz): (Re-)Synchronisierung auf dem Boden der Tatsachen? Die Pedosphäre als Übersetzungsregion anthropologischer und geologischer Zeitlichkeit

Henning Schmidgen (Weimar): Kritische Zeiten. Über eine Begegnung zwischen Frankfurter Schule und Historischer Epistemologie

Tilman Richter (Bochum): Akten und Unterschriften. Die Zeit der diplomatischen Wissenschaften

Clara Frysztacka (Frankfurt/Oder): Die Zeit der Geschichte. Temporale Konstruktion des Historischen in der polnischsprachigen Presse 1880–1914

Erhard Schüttpelz (Siegen): Allochronie im 19. Jahrhundert und heute

Patrick Stoffel (Lüneburg): Menschsein angesichts der Tiefenzeit. Eine Bildungsgeschichte

Mariya Savina (Berlin): Walter Benjamins Eschatologie der Katastrophe. Fortschritt, Unterbrechung und das Ende der Geschichte

Lukas Doil (Köln): Zukünfte im „Technozän“ – Technikfolgen als Wissensfeld in den 1970er Jahren

Abschlussrunde – Roundtable