Die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts (Studienkurs)

Die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts (Studienkurs)

Organisatoren
Deutsches Studienzentrum in Venedig (DSZV)
Ort
Venedig
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2020 - 28.09.2020
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Von
Elias Wöllner, Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar

Das Deutsche Studienzentrum in Venedig (DSZV) hat auch in diesem Jahr trotz der Corona-Pandemie zu einem Studienkurs eingeladen. Das Thema war „Die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts“. Der interdisziplinäre Studienkurs wurde von zwei Experten wissenschaftlich geleitet: ALBERT GIER (Bamberg), Prof. i.R. für romanische Philologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und Gründer des „Dokumentationszentrums für Librettoforschung“ und MICHAEL KLAPER (Weimar), Professor für Musikwissenschaft, Musik des Mittelalters und der Renaissance sowie Notationsgeschichte am gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. MICHAELA BÖHRINGER (Venedig), Bibliothekarin des Studienzentrums, oblag als Koordinatorin die Organisation und sie sorgte gemeinsam mit den Mitarbeitern des Studienzentrums für einen reibungslosen Ablauf des Studienkurses. Dessen 15 Teilnehmer (bei einem Frauenanteil von zwei Dritteln) waren fortgeschrittene Bachelor- und Masterstudenten sowie Doktoranden aus den Fachrichtungen Musikwissenschaft, Romanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte.

Neben den Referaten, welche die Studienkursteilnehmer zu ihren Themen präsentierten, wurden auch zwei Vorträge von externen Experten gehalten: ALESSANDRA SCHIAVON (Venedig) vom Staatsarchiv in Venedig gab eine Einführung in die Arbeit und Bestände ihrer Institution; PAUL ATKIN (Venedig) berichtete von dem von ihm geleiteten Projekt der Wiedererrichtung des ersten öffentlichen Opernhauses in Venedig und seinem Ziel der Etablierung der Stadt als ein Zentrum für historisch informierte Aufführungspraxis. Besuche in der Markusbasilika, dem Dogenpalast und der Biblioteca Nazionale Marciana rundeten das ausgewogene Programm des Studienkurses ab.

Nach einem geselligen Abend zum gegenseitigen Kennenlernen im Studienzentrum begann am Montag die intensive Beschäftigung mit unterschiedlichen Aspekten der venezianischen Oper im 17. Jahrhundert. Die Sitzungen fanden immer im Palazzo Barbarigo della Terrazza, dem Sitz des DSZV, statt. Frau Böhringer achtete stets gewissenhaft auf die Einhaltung des Hygienekonzepts, welches insbesondere das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und die Wahrung von Abständen in geschlossenen Räumen verpflichtend vorsah. Vor Beginn der Sitzungen wurden jedes Mal beim Betreten des Hauses die Körpertemperatur der Teilnehmer kontrolliert und Desinfektionsmittel bereitgestellt.

Im ersten Vortrag beleuchtete NILS JONAS WEBER (Heidelberg) Aspekte der Entstehungsgeschichte der Oper, die im höfischen Kontext angesiedelt ist. Als Kunsthistoriker stellte er das Phänomen Oper in einen Zusammenhang mit anderen Formen der Kunstpatronage als Repräsentationsstrategie an den Höfen, insbesondere in Florenz und Mantua. In der anschließenden Diskussion kamen bereits zahlreiche weitere Gesichtspunkte zur Sprache, die teils auf die Themen folgender Vorträge vorausgriffen, so etwa, inwieweit auch Commedia-dell’arte-Wandertruppen an den höfischen Aufführungen beteiligt gewesen sein mögen und dass der Versuch der Wiederbelebung des hohen Stils des antiken Theaters in der Oper im Grunde von Anfang an problematisch gewesen sei. Gier verwies dabei auf die Unterschiede zwischen den antiken, quantitierenden Sprachen und dem modernen, betonungssetzenden und silbenzählenden Italienisch. Diese bedeuteten eine größere Nähe von Sprache und Musik in der Antike als im modernen Italienisch. So erwies sich eine dem antiken Vorbild folgende durchgehende Verwendung des sprachlichen hohen Stils, mit der ausschließlichen Verwendung der entsprechenden italienischen Versmaße des Sieben- und Elfsilblers, in der modernen Oper als nicht praktikabel.

ELISABETH ANNA HÖSL (München) ging in ihrem Vortrag auf die frühen Jahre der Oper in Venedig ein, welche im Jahr 1637 mit der Darbietung der ersten öffentlichen, auf Profit ausgelegten Oper im Teatro San Cassiano begann, und stellte die Bedeutung der Accademia degli Incogniti als eines intellektuellen Zirkels hinter dem Opernschaffen heraus. Hösl ging auch auf die besondere Bedeutung des venezianischen Karnevals ein, welcher schon damals weit über die Stadt hinaus ausstrahlte. JOHANNA GREMME (Bonn/Florenz) vertiefte in ihrem Vortrag diesen Aspekt noch weiter. Nur in der Zeit vom Stephanustag (26. Dezember) bis zum Karnevalsdienstag durfte in den ersten Jahren Oper gespielt werden. Beide Referentinnen verdeutlichten, dass darüber hinaus in der Karnevalszeit auch weitere Verbote, wie die von Prostitution oder Glücksspiel, aufgehoben waren, und wie die Umstände des Karnevals in Venedig die Blüte der frühen Oper befördert haben. So sei wohl anzunehmen, dass zunächst insbesondere reiche und oft adlige „Touristen“ in die Oper gehen konnten und das einfache Volk wohl eher selten in den Genuss dieser Aufführungen kam, wie auch in den anschließenden Diskussionen festgehalten wurde.

Sowohl Hösl als auch VALERIE PAULINA WALTER (Bonn) und JANA FREHN (Duisburg-Essen) gingen dezidiert auf das Libretto bzw. Argomento ein – oftmals die einzigen Zeugnisse von Opern, wenn deren Musik verschollen ist. Einerseits dienten Libretto (Textbuch) und Argomento (Vorgeschichte/Begründung der librettistischen Besonderheiten) als Vermarktungsmöglichkeiten für Librettisten (Hösl), im höfischen Kontext aber auch als Erinnerung (Frehn). Auch die Unterschiede von Librettotext und Dramentext wurden diskutiert (Walter). NICOLA RUHNAU (Köln) zeigte am Beispiel von „La Didone“, einem Gemeinschaftswerk Giovanni Francesco Busenellos und Francesco Cavallis, wie die Dramenhandlung und Personencharakterisierung im Vergleich zum Vorbild der „Aeneis“ Vergils verändert wurde.

Nicht auf die Libretto- und Argomentodrucke, sondern auf die musikalischen Quellen ging LAURA BOU-VINALS (Leipzig) in ihren Ausführungen ein. Sie verdeutlichte, dass zahlreiche Kopisten (bisweilen waren es Frauen) an den Abschriften von Kompositionshandschriften beteiligt waren und eher selten in den Quellen sämtliche Stimmen notiert wurden. Beim Studium der Quellen sei daher immer auf die Funktion derselben acht zu geben.

Die librettistische Verarbeitung von Themen mit Venedig-Bezug stand im Vortrag von MARIA ISABELLA VESCOVI (Weimar/Jena) im Vordergrund. Die Bezüge auf griechische und trojanische Helden wie etwa Odysseus sind in der venezianischen Oper evident. Als Seefahrernation mit besonderen Beziehungen zu Südosteuropa und der Levante boten sich solche Thematiken zur Identifikation an. Insbesondere der über zwanzig Jahre währende Candia-Krieg im 17. Jahrhundert habe das Interesse an östlichen Themen befördert.

Einen Einblick in die Entstehungszusammenhänge der venezianischen Oper im 17. Jahrhundert bot NASTASIA TIETZE (Weimar/Jena) mit ihren Ausführungen zum Opernschaffen Marco Marazzolis. Dabei erläuterte sie, dass Komponisten und Librettisten überaus mobil waren und zwischen der Stadt und Höfen, etwa in Ferrara oder Rom, pendelten, um ihre Werke zur Aufführung zu bringen und zu exportieren. Dass hierbei auch teilweise vor Verleumdungen unter Komponisten nicht zurückgeschreckt wurde, verdeutlichte Tietze am Beispiel des Konflikts zwischen Marazzoli und Filippo Vitali um den Zuschlag für eine Opernproduktion in Venedig.

Das Problem der Glaubwürdigkeit der Oper und der Wahrscheinlichkeit (verosimiglianza) des Geschehens war Thema im Vortrag von HEIDRUN EBERL (Weimar/Jena). Die Referentin ging auf das Vorbild der aristotelischen Poetik mit der Einheit von Ort, Handlung und Zeit und das grundsätzliche Problem der Angemessenheit der musikalischen Ausdrucksweise ein. Zentral war für sie jedoch die Frage der Rollenbesetzungen mit Frauen-, Männer- und Kastratenstimmen. Dabei wies sie darauf hin, dass nicht nur in Rom, sondern auch in Venedig von Anfang an Kastraten auf der Bühne eingesetzt wurden, was aber durchaus nicht zwangsläufig als Verstoß gegen das mehr oder minder verbindliche Gebot der verosimiglianza verstanden werden muss. Eberl warf unter anderem die Frage auf, ob nicht möglicherweise Kastraten in der damaligen Ästhetik mit dem Göttlich-Geschlechtslosen verbunden gewesen sein könnten, was die regelmäßige Besetzung von Göttinnen mit Kastraten erklären könnte. In der anschließenden kontroversen Diskussion wurde die These aufgestellt, Kastraten hätten im 17. Jahrhundert als geschlechtslos gegolten bzw. de facto ein drittes Geschlecht repräsentiert. Dieser vielleicht insbesondere für die Genderforschung interessante Gedanke konnte weder belegt noch widerlegt werden.

Die Rezeption der venezianischen Oper außerhalb Venedigs behandelten auch die beiden leitenden Experten in einem gemeinsamen Vortrag. Gier ging vor allem auf den Wiener Hof ein, der allein schon aufgrund der Nähe zu Venedig, später freilich auch aus politischen Gründen, eine enge Verbindung zur Lagunenstadt hatte. Die Rivalität zwischen Leopold I. von Habsburg und dem französischen König Ludwig XIV. beförderte die Opernproduktion. Klaper ging auf die französische Rezeption der Oper ein und vertiefte die bereits von Eberl angesprochene Besetzungsfrage. Als besonderen Unterschied stellte Klaper heraus, dass in Paris die männlichen Hauptrollen nicht von Kastraten gesungen wurden, was er mit der Identifikation des Helden mit dem König erklärte.

Mit dem Bezug auf die Antike und die aristotelische Tragödie in der Oper beschäftigte sich im Besonderen AVI LIBERMAN (Hamburg). Er wies auf den häufig gegebenen pastoralen Bezug in den frühen Opern hin, welche als Gegenpol zum hohen Stil des antiken Dramas gesehen werden müsse. Somit bediene sich die Oper gewissermaßen eines mittleren Stils, was sowohl aus der Mischung der Versmaße und der Verwendung von sowohl strophischen als auch nicht-strophischen Teilen, als auch aus dem nicht immer hohen Stand der Figuren abzuleiten sei.

MARCO AGNETTA (Saarbrücken) beleuchtete in seinem Vortrag einen Protagonisten der frühen venezianischen Oper, den Komponisten, Librettisten und Lautenisten Benedetto Ferrari. Dieser schrieb unter anderem das Libretto für die erste öffentlich aufgeführte Oper im Jahr 1637. Agnetta verdeutlichte anhand der Werke Ferraris die Herausbildung von Opernkonventionen und Szenentypen, etwa die häufig auftretende Rolle der Amme oder die im frühen 17. Jahrhundert beliebte Echoszene.

Die Rezeption der venezianischen Oper in der modernen Aufführungspraxis stellte MILAN SCHOMBER (Detmold/Paderborn) am Beispiel der Arie „Delizie contenti“ aus Cavallis „Il Giasone“ vor. Er verglich dabei Inszenierungen aus Innsbruck (1988), Gent (2010) und Sidney (2013) miteinander. Ein wichtiger Punkt für Schomber war, inwieweit die Instrumentalbesetzung (mit Flöten oder ohne) variabel sein dürfe. Auch beleuchtete er Aspekte der Fragestellung, inwieweit sich historisch informierte Aufführungspraxis streng am historischen Vorbild zu orientieren habe, oder ob sie sich die Freiheit der Neuinterpretation nehmen dürfe oder gar müsse, um auch heute zeitgemäß zu sein.

ELIAS WÖLLNER (Weimar/Jena) stellte in seinem Vortrag die Beziehungen von musikalischer und sprachlicher Metrik in der Oper des 17. Jahrhunderts vor. Er verdeutlichte den Wandel der musikalischen Ästhetik von der Mensuralmusik zum Akzentstufentakt, welcher auch durch das Aufeinandertreffen von Musik und Sprache in der Oper vorangetrieben worden sei. Zudem ging er auf Problemstellungen der musikalischen Ausdeutung von sprachlichen Texten ein und verdeutlichte den Zusammenhang und die Unterschiede von textlichen und musikalischen Eigenheiten zwischen Rezitativ und Arie.

Der Studienkurs zur venezianischen Oper im 17. Jahrhundert bot für die Teilnehmer die Gelegenheit, sich aus interdisziplinärer Perspektive eine Woche lang intensiv mit einem speziellen Phänomen des Musiktheaters auseinanderzusetzen und sich gemeinsam auszutauschen. Durch das hohe Interesse der vom Studienzentrum ausgewählten Teilnehmer an diesem Thema war für eine angeregte Diskussionsatmosphäre gesorgt. Insbesondere auch die Ergänzung des Programms durch Vorträge externer Referenten und die Besuche in wichtigen kulturhistorischen Einrichtungen der Stadt ermöglichten abwechslungsreiche und inspirierende Eindrücke für alle Teilnehmer dieses anregenden Studienkurses.

Konferenzübersicht:

Nils Jonas Weber (Heidelberg): Anfänge der Operngeschichte

Elisabeth Anna Hösl (München): Anfänge der Oper in Venedig

Valerie Paulina Walter (Bonn): Poetik des Librettos

Laura Bou-Vinals (Leipzig): Musikalische Quellen

Johanna Gremme (Bonn/Florenz): Die venezianische Oper und der Karneval

Maria Isabella Vescovi (Weimar/Jena): Der Venedig-Mythos als Thema

Nastasia Tietze (Weimar/Jena): Produktions- und Entstehungsbedingungen

Heidrun Eberl (Weimar/Jena): Sänger, Rollen und verosimiglianza

Marco Agnetta (Saarbrücken): Die venezianischen Opern von Benedetto Ferrari

Avi Liberman (Hamburg): Die frühen Opern als ‚unmögliche Tragödien‘

Nicola Ruhnau (Köln): Das Libretto im literarischen Kontext

Milan Schomber (Detmold/Paderborn): Die frühvenezianische Oper in der heutigen Inszenierungspraxis

Jana Frehn (Duisburg-Essen): Das Libretto als ‚Buch‘

Alessandra Schiavon (Venedig): Einführung in das Staatsarchiv von Venedig

Elias Wöllner (Weimar/Jena): Metrik und musikalische Form

Paul Atkin (Venedig): The Reconstruction of the First Public Opera House in the World

Albert Gier (Heidelberg) und Michael Klaper (Weimar/Jena): Rezeption der venezianischen Oper außerhalb Venedigs


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