Das demokratische Jahr der DDR – Zwischen Friedlicher Revolution und deutscher Einheit

Das demokratische Jahr der DDR – Zwischen Friedlicher Revolution und deutscher Einheit

Organisatoren
Thüringer Landeszentrale für politische Bildung; Stiftung Ettersberg
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2020 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Emilia Henkel, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität-Jena

Die öffentliche Erinnerungskultur lebt von Jahrestag zu Jahrestag. Politisch wirkmächtige Erzählungen werden dann um einzelne, mit Bedeutung überladene Daten gesponnen. Im letzten Jahr war ein solches Datum der 9. November. Als 30. Jubiläum der Maueröffnung in Berlin wurde der Tag repräsentativ für das Ende der DDR in zahlreichen Festakten, Zeitzeugengesprächen und Symposien reflektiert und gefeiert. Andere Meilensteine des Herbstes 1989, etwa der 7. Oktober, an dem in Leipzig von tausenden Demonstranten zeitgleich zu den großen Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der DDR eine Reform des Sozialismus gefordert wurde, oder der 12. Dezember, an dem der Runde Tisch zum ersten Mal zusammen kam, gingen daneben unter. In seiner Begrüßungsansprache zu dem diesjährigen Tagesseminar der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Ettersberg kritisierte FRANZ-JOSEF SCHLICHTING (Erfurt) dieses auf die Maueröffnung verkürzte öffentliche Erinnern, das weder der historischen Komplexität des Zusammenbruchs der DDR noch der demokratiepädagogischen Bedeutung der Friedlichen Revolution gerecht werde.

Um die Versäumnisse des Erinnerungsjahres 2019 nicht zu wiederholen, widmeten die Gastgeber/innen deshalb das Tagesseminar bewusst nicht dem erinnerungskulturellen Höhepunkt des Jahres 2020, dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit vom 3. Oktober, sondern dem ganzen Jahr 1990, in dem der demokratische Aufbruch und das Ende der DDR zusammenfielen. Im Mittelpunkt der Tagung standen, wie JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar/Jena) in seiner Einführung betonte, nicht die staatliche Einheit, sondern die vielfältigen Formen der ostdeutschen Selbstdemokratisierung zwischen den Massenprotesten im Herbst 1989 und dem Beitritt der DDR zum Gebiet der Bundesrepublik. Im Kontrast zu den seit der Bundestagswahl 2017 verstärkt diskutierten Entmündigungs- und Abwertungserfahrungen von Ostdeutschen im Zuge des Beitritts, der manchmal auch mit einer Kolonialisierung des Ostens durch den Westen verglichen wird, sollte mit dem Schlüsselbegriff ,Selbstdemokratisierung‘ der eigenständige Aufbruch der DDR-Bürger/innen in die Demokratie unterstrichen werden. Im Fokus der von den Veranstalter/innen aufgeworfenen Fragen standen daher die ostdeutschen Akteur/innen der Umgestaltung der DDR: Wie begegneten sich die Repräsentant/innen des Wandels und die alten Eliten? Welche Probleme mussten sie gemeinsam lösen, welche politischen Konzeptionen konkurrierten miteinander? Welche Erfolge konnten die demokratischen Reformer/innen erzielen und welche Probleme blieben ungelöst?

Trotz der Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie konnte das Tagesseminar am 26. September 2020 in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße unter strengen Hygienevorkehrungen und in einem Hybrid-Format stattfinden, bei dem das Publikum sowohl in der Andreasstraße als auch über einen Youtube-Livestream den digital oder vor Ort gehaltenen Vorträgen folgen konnte. Die Mischung verschiedener Medien und Kommunikationsformen ermöglichte auch nach den aus der Distanz gehaltenen Vorträgen rege Diskussionen fast ohne technische Beeinträchtigungen und zeigte, dass in Zeiten von Abstandsgeboten wissenschaftlicher Austausch auch digital möglich ist. Eingeladen waren neben Lehrer/innen, Multiplikator/innen der politischen Bildung, Journalist/innen und Studierenden auch interessierte Bürger/innen.

Die Tagungsbeiträge beleuchteten in einer losen Chronologie wichtige Institutionen der Selbstdemokratisierung, aber auch deren Grenzen und langfristige Wirkungen. Die ersten beiden Beiträge erschlossen den eigenständigen Aufbruch in die Demokratie über die zentralen Institutionen dieses Prozesses, die Runden Tische in der Frühphase und die 10. Volkskammer der DDR nach der Wahl am 18. März 1990. FRANCESCA WEIL (Dresden) referierte in einem zuvor aufgezeichneten Vortrag von einer sonnigen Dresdener Parkbank aus über die Vielfalt und das demokratiegeschichtliche Vermächtnis der Runden Tische in der DDR. Heute fordern viele Ostdeutsche, dass die Runden Tische, nach Jahren westdeutscher Abwertung aufgrund mangelnder demokratischer Legitimation, als Orte der Selbstdemokratisierung von DDR-Bürger/innen gewürdigt werden. Im Gegensatz dazu blicken einige Mitglieder der Runden Tische kritisch auf ihre Arbeit zurück, lenkte sie die Aufmerksamkeit doch weg von den Hinterstübchen, in denen die eigentlich wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Weil dekonstruierte den Mythos einer herrschaftsfreien, friedlichen Debattenkultur an den Runden Tischen. Auf Nachfrage aus dem Publikum stellte sie außerdem klar, dass Konflikte um Stasi-Informant/innen angesichts des geringen Kenntnisstandes über die Unterlagen des MfS im Winter 1989/90 kaum eine Rolle spielten, obwohl Serien wie „Weißensee“ das suggerieren.

Wie auch im Jahr 1990 wurden die Runden Tische als Diskussionsthema abgelöst von dem ersten demokratischen Parlament der DDR, der 10. Volkskammer, das BETTINA TÜFFERS (Berlin) im zweiten Vortrag des Tages als ein Parlament im Umbruch, geprägt durch Provisorien, Unsicherheiten und Lernprozesse, vorstellte. Sie beschrieb das Entsetzen vieler Abgeordneter, denen erst nach ihrer Wahl klar wurde, dass ihr Mandat in einer repräsentativen Demokratie einen Umzug nach Berlin und die Aufgabe ihrer vorherigen Berufstätigkeit erforderte. Viele parlamentarische Abläufe mussten erst eingeübt werden, die Parlamentarier/innen kannten sich kaum und dabei mussten sie ein unglaubliches Aufgabenpensum unter großem Zeitdruck abarbeiten. Das Verhältnis zum westdeutschen Bundestag verglich Tüffers mit der Beziehung zu einem älteren Geschwisterkind, von dem man sowohl unterstützt als auch bevormundet wird. Diese Metapher stieß in der Diskussion mit dem Publikum auf Kritik, weil sie den Entstehungskontext des heute noch bestehenden Machtgefälles zwischen ostdeutschen und westdeutschen Parteipolitiker/innen zu verniedlichen scheint. Gefragt wurde außerdem, was aus den Abgeordneten des ersten demokratischen Parlaments der DDR wurde. Tüffers erklärte dazu, dass nur wenige in den Ende 1990 neugewählten Bundestag wechselten, einige aber in die Landes- oder Kommunalpolitik gingen. Viele der Abgeordneten stellten für sich fest, dass der Politikstil der BRD ihnen nicht gefiel und schieden daher aus.

Die Grenzen der Selbstdemokratisierung von DDR-Bürger/innen im Jahr 1990 machten die nächsten beiden Vorträge noch deutlicher. Der Fokus verschob sich im zweiten Teil vom Aufbruch zur Auflösung der DDR im Jahr 1990. Wiederum loteten die Vortragenden anhand von Institutionen Möglichkeiten der Mitgestaltung für DDR-Bürger/innen in diesem Prozess aus. In seinem Beitrag zur Treuhand, der den Höhepunkt der Tagesseminars bildete, diskutierte MARCUS BÖICK (Bochum) unter Rückgriff auf seine breit rezipierte Doktorarbeit frühe Konzeptionen der Behörde. Er zeichnete nach, wie sich der Auftrag der Treuhand, die von der Modrow-Regierung zur Bewahrung des volkseigenen Vermögens gegründet worden war, im Zuge des zunehmend westdeutsch dominierten Einigungsprozesses ins Gegenteil verkehrte. Dabei stellte Böick heraus, dass der marktliberale Ansatz der Treuhand, die mit ihrer ,Schocktherapie‘ schließlich die wirtschaftliche Transformation prägen sollte, keineswegs alternativlos war. Der in dieser Zeit in Westeuropa vorherrschende Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Marktes setzte sich allerdings gegen eine große Bandbreite anderer Vorstellungen durch. Als Folge dieses Denkens wurden leitende Positionen in der Behörde mit westdeutschen Managern statt Beamten oder Juristen besetzt, die soziale Kosten der Abwicklung in den ersten Jahren weitestgehend ignorierten und die Privatisierung des Volkseigentums innerhalb kürzester Zeit forcierten. Die lebhafte Diskussion, die auf den Vortrag folgte, verdeutlichte, wie stark gerade die Treuhand als „erinnerungskulturelle Bad Bank“ heute die Asymmetrie im Vereinigungsprozess symbolisiert. Aus dem Publikum kam zudem die Frage, ob es bessere Wege in die Wirtschaftsunion gegeben hätte. Böick wies auf andere osteuropäische Länder hin, die alternative Wege der wirtschaftlichen Transformation gewählt hätten, heute aber mit ähnlichen oder noch gravierenderen Problemen zu kämpfen haben.

Von der Treuhand als Akteur wirtschaftlicher Abwicklung hin zu der Abwicklung des Militärs der DDR lenkte den Blick NINA LEONHARD (Potsdam). In ihrem Vortrag zeichnete sie anhand von Interviews mit ehemaligen Offizieren nach, wie sich die NVA zu der politischen Transformation verhalten hatte. Hinsichtlich des zentralen Deutungskonflikts, ob die Revolution friedlich blieb, weil die NVA auf der Seite des Volkes war und so einen wichtigen Beitrag zur Einheit leistete, oder ob die Gewaltfreiheit eher auf Passivität der Führungsriege zurückzuführen sei, stellte Leonhard fest: Ihre Interviewpartner hatten im Herbst 1989 zwar das Vertrauen in die eigene Regierung verloren, aber keinesfalls mit einer deutschen Einheit als Ergebnis der Proteste gerechnet, geschweige denn dazu beitragen wollen. Im Winter 1989/90 wurden auch in der NVA Kommissionen und ein Runder Tisch gebildet, Reformen diskutiert und in einer eigenen Zeitschrift transparent kommuniziert. Erste wichtige Veränderungen wurden schon im Februar 1990 umgesetzt. Als im Juni Gorbatschow der Bündnisfreiheit des vereinten Deutschland zustimmte und damit den Weg für eine einheitliche Armee frei machte, endeten die Bemühungen um Selbstdemokratisierung in einem Auflösungsprozess, in dem es für die ostdeutsche Seite kaum Möglichkeiten gab, eigene Interessen zu vertreten.

Die letzten beiden Tagungsbeiträge spürten den Erwartungen und langfristigen Folgen nach, die mit dem Ende der DDR und dem Entstehen eines einzigen deutschen Staates verbunden waren. In ihrem Vortrag zu Zukunftserwartungen in Ost und West im Jahr 1990 präsentierte HELENA GAND (Berlin) erste Zwischenergebnisse ihres Dissertationsprojektes, für das sie Briefe der Bevölkerung an west- und ostdeutsche Spitzenpolitiker/innen und Parteien analysiert. Die Briefe dienten den Absendern/innen oft dazu, ihre eigenen Gedanken zu der sich rasant ändernden Welt zu ordnen. Ostdeutsche äußerten darin ihre großen Hoffnungen auf politische Partizipation, schrieben aber auch über starke Verunsicherung, Angst angesichts der rechtsradikalen Gewalt und dem Verschwinden ihrer Heimat und über die Enttäuschung, als die Hoffnungen auf einen eigenen, dritten Weg in die Demokratie nach den Wahlen im März zerplatzten. Westdeutsche fürchteten eher um den eigenen Wohlstand und äußerten selten Solidarität oder Sorge um ihre Nachbar/innen in der DDR. In der anschließenden Diskussion wurde die Nutzung solcher Briefe als Quellengrundlage kritisch diskutiert, vor allem aufgrund des wenig repräsentativen Ausschnitts der Bevölkerung, der solche Briefe verfasste. Für Gand sind die Briefe aber in einer qualitativen Studie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, eine lohnenswerte Grundlage, da kaum andere Quellen aus der Zeit existieren, die Aufschluss über Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen in diesem entscheidenden Jahr geben, ohne sich durch das nachträgliche Erinnern zu verändern. Dieses emotionsgeschichtliche Forschungsanliegen spiegelte den Anspruch der Veranstalter/innen an das Tagesseminar insofern, da auch Gand die Ereignisse und die Atmosphäre des Jahres 1990 losgelöst von den Verwerfungen des Vereinigungsprozesses der folgenden Jahre betrachtet, die unsere nachträglichen Fragen an diese Zeit so oft beeinflussen.

Zum Abschluss des Tagesseminars präsentierte der Journalist ANDREAS METZ (Berlin) Bilder aus seinem Fotoband „Ost Places – Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR“, in dem er architektonische Überreste des sozialistischen Staates dokumentiert. Seine große Sammlung umfasst neben stereotypen Motiven von ergrauten Hausfassaden und verlassenen LPG-Gebäuden auch Details wie Straßenlaternen und Eingangstore sowie zahlreiche Bilder, die die Vielfalt der Architektur in Plattenbausiedlungen einfangen. Einige von Metz´ Motiven sind inzwischen schon verschwunden oder werden immer seltener in der ostdeutschen Landschaft, andere werden aufwendig restauriert und neu gewürdigt. Letzteres gilt vor allem für die Kunst am Bau, die einen prominenten Platz in Metz´ fotografischem Schaffen einnimmt. Er hielt in seinen Bildern die aufwendige Wiederanbringung von Josep Renaus Monumental-Wandbild „Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik“ in Erfurt ebenso fest wie die „Löffelfamilie“ an der ehemaligen VEB Feinkost Leipzig, die nur durch lokale Initiativen über die 1990er und frühen 2000er Jahre gerettet wurde, in denen alles mit der DDR verbundene als Makel angesehen war. Metz´ Bilder riefen bei den Betrachter/innen zahlreiche Assoziationen und Ideen für „Ost Places“ hervor. Im Gespräch reflektierte der Journalist zudem, wie sein westdeutscher Blick von außen seine fotografische Arbeit zu dem ästhetisch wie politisch umstrittenen architektonischen Erbe der DDR ermöglicht und beeinflusst hat.

Mit diesen Eindrücken von Verfall und Restaurierung, von Wiederentdecktem und Vergessenem endete das Tagesseminar in der Andreasstraße in Erfurt. Die Vorträge zeigten, dass es im Jahr 1990 zahlreiche Initiativen für demokratische Aufbrüche gegeben hatte und dass viele DDR-Bürger/innen, sei es als Mitglieder der Runden Tische oder der Volkskammer, als Zuschauer/innen der Live-Übertragung aus Berlin, Soldat/innen oder Briefschreiber/innen, Begeisterung, Hoffnung und zum Teil übermenschliche Kräfte in diesen Neustart unter schwierigen Bedingungen gesteckt hatten. Die Vorträge machten aber auch deutlich, dass die Bemühungen um Selbstdemokratisierung schon im gleichen Jahr zunehmend ins Leere liefen. Je näher die deutsche Einheit rückte, desto weiter schwanden die Möglichkeiten einer selbstbestimmten demokratischen Umgestaltung. Die vielfältigen Perspektiven in den Beiträgen und Diskussionen des Tagesseminars zeigen, dass 1990 beides war – Aufbruch und Enttäuschung. Diese Ambiguität macht das Jahr zu einem Schlüssel für unsere gegenwärtigen Bemühungen, den Einigungsprozess mit all seinen Defiziten und langfristigen Folgen neu zu verstehen.

Konferenzübersicht:

Franz-Josef Schlichting (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) / Jörg Ganzenmüller (Stiftung Ettersberg): Begrüßung und Einführung

Francesca Weil (Dresden): Zivilgesellschaftliche Institutionen? Zu den Runden Tischen 1989/90 in der DDR

Bettina Tüffers (Berlin): Die 10. Volkskammer der DDR. Ein Parlament im Umbruch

Marcus Böick (Bochum): Die Treuhand – frühe Konzeptionen

Nina Leonhard (Potsdam): Auflösung staatlicher Strukturen – Von der NVA zur ›Armee der Einheit‹

Helena Gand (Berlin): Zukunftserwartungen in Ost und West im Jahr 1990

Andreas Metz (Berlin): Vom Verschwinden der DDR – Vorstellung des Fotobandes ›Ost Places‹


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