„Vor dem Ende …“ – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lich)en

„Vor dem Ende …“ – Sichtungen zu einer Kulturgeschichte des Antichrist(lich)en

Organisatoren
Christoph Augustynowicz, Universität Wien; Christof Paulus, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
online
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2020 - 02.10.2020
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Von
Barbara Schratzenstaller, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Übercodierung der Figur des Antichrist sowie des Antichristlichen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert bildete das Leitmotiv der Tagung, die aufgrund der Corona-Pandemie digital stattfand. Sie näherte sich aus kulturgeschichtlicher Perspektive den vielfältigen Erscheinungsformen des Antichristlichen, wobei konzeptionalisierende an Stelle instrumentalisierender Diskurse im Zentrum standen. Die Figur des Antichrist kann mit diesem Verständnis, wie die Organisatoren in ihrer Einführung hervorhoben, nicht nur für destruktive, sondern auch für kulturell konstituierende Kräfte Verwendung finden.

Die Fresken, die Luca Signorelli von 1499 bis 1503 in der Kapelle im rechten Querschiffarm des Doms von Orvieto schuf, standen im Zentrum der eröffnenden Keynote von CLAUDIA MÄRTL (München). Sie gelten aus zwei Gründen als kunsthistorisches Unikum: Zum einen bieten sie die in der Monumentalmalerei singuläre Kombination von Taten des Antichrist, Zeichen vor dem Weltende und Jüngstem Gericht, zum anderen stellen sie die Taten des Antichrist mit Bildformeln dar, die auf Miniaturen und Holzschnitte nordalpiner Provenienz zurückgehen. Das Zusammentreffen einer exzeptionellen künstlerischen Leistung im Stil der Hochrenaissance mit selten gewählten Bildthemen und der Aufnahme nördlicher Vorbilder hat die kunsthistorische Forschung vor Rätsel gestellt. Märtl befasste sich einleitend mit den Darstellungsprinzipien des Antichristfreskos, ehe sie die seitens der Forschung bisher vorgebrachten Überlegungen zur Motivation – Bezüge zu Girolamo Savonarola oder dominikanischen Antichristtexten im Umfeld der Kurie – diskutierte. Anschließend präsentierte Märtl Indizien, die einen Zusammenhang der Malereien mit den kulturellen Interessen des mit dem Deutschen Reich eng verbundenen Kardinals Francesco Todeschini Piccolomini und seines Sekretärs Antonio Albèri nahelegen: Letzterer, von 1497 bis 1503 Archidiakon in Orvieto, ließ am dortigen Dom eine Bibliothek errichten, für deren Ausmalung er die Werkstatt Signorellis beschäftigte. Das Bildprogramm von Bibliothek wie Kapelle weist Überschneidungen auf und ist vor allem vom selben dezidiert humanistischen Geist inspiriert, der in der Darstellung des Antichrist als orator zum Ausdruck kommt. Die Erklärung des Bildprogramms und seiner Umsetzung aus dem Kontext der im Umkreis Todeschini Piccolominis herrschenden Bildungsinteressen bietet auch eine plausible Lösung für den Transfer nordalpiner Bildmotive.

Die erste Sektion, die sich Figuren und Konjunkturen des Antichristlichen widmete, eröffnete SIMON DEGENHART (München) mit einem vergleichenden Blick auf die europäische Mongolendeutung im 13. Jahrhundert. Anhand der Analyse verschiedener Quellentexte der Jahre 1237 bis 1247 zeigte er auf, dass in Europa unterschiedliche Deutungsmuster für die 1241 eingefallenen Mongolen nebeneinander existierten, die im Laufe des 13. Jahrhunderts kaum Veränderungen durchliefen. Zwei divergente Deutungsweisen prägten wesentlich das Bild der Mongolen: Einerseits wurden sie als Vorboten des Jüngsten Tages oder als Heerscharen Antichristi gedeutet; in ihrer Ankunft schienen sich tradierte Endzeitprophetien zu erfüllen. Andererseits entstanden zeitgleich detaillierte Beschreibungen des fremden Reitervolks, die zu ersten empirischen Erklärungsversuchen führten. Durch vergleichende Betrachtungen der zwischen Eschatologisierung der Gegenwart und Entzauberung der Mongolen oszillierenden Berichterstattung lassen sich die individuellen Assoziationen und Erkenntnishorizonte der Autoren profilieren.

Darauffolgend befasste sich INGRID WÜRTH (Halle-Wittenberg) mit Endzeitvorstellungen thüringischer Geißler im 14. und 15. Jahrhundert. Schon kurz nach der Entstehung der Bewegung in Thüringen in Folge der Geißlerzüge 1348/49 deuten Aussagen ihrer Gründungsfigur Konrad Schmid eine Identifikation der Kirche und des Klerus mit dem apokalyptischen Tier aus dem Abgrund an. Die Bezeichnung des Papstes bzw. der Kirche als Antichrist findet sich allerdings erst 1414 in den sogenannten Sangerhäuser Articuli, in denen die Glaubenssätze der Geißler zum Zwecke ihrer Verurteilung durch ein Inquisitionsgericht zusammengefasst wurden. In diesen Articuli nimmt Konrad Schmid als Richter im Jüngsten Gericht eine herausgehobene, christusgleiche Position im apokalyptischen Geschehen ein. Nicht eindeutig zu klären ist, ob dieses eschatologische Konstrukt ein authentisches Zeugnis der geißlerischen Vorstellungen darstellt oder ihnen dieses erst im Kontext des Inquisitionsverfahrens zugeschrieben wurde. Jedenfalls muss ein Kontakt Schmids mit apokalyptischen Schriften vor- und frühhussitischer Kreise in Prag in Betracht gezogen werden. Für den Zusammenhalt der Geißler erfüllte eine Selbststilisierung als auserwähltes Volk und die Abgrenzung von Rom als der Kirche des Antichrist die Funktion, die Dringlichkeit der Treue zum Geißlerglauben angesichts des nahen Weltendes zu verschärfen.

In der zweiten Sektion über Orte des Antichristlichen analysierte zunächst ISABEL GRIMM-STADELMANN (München) die Darstellung der byzantinischen Kaiserin Zoe (978–1050) in der "Chronographia" des Geschichtsschreibers Michael Psellos. In seiner Kaiserbiographie bietet jener eine ausführliche Schilderung von Zoes Persönlichkeit und Verhaltensweisen, wobei ihr Extravaganz und Verschwendungssucht, Hybris und Skrupellosigkeit als zentrale Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Ihre Handlungen sind gekennzeichnet von Willkür und Maßlosigkeit, gepaart mit übersteigerter Frömmigkeit; eine Neigung zu alchemistischen Experimenten bewertet der Chronist als ihrer gesellschaftlichen Stellung unangemessen. Neben einer auf antike Erzähltraditionen zurückgreifenden Interpretation – Tyrannentopik und Cäsarenwahnsinn – lässt sich das Bild, das Psellos von der Kaiserin zeichnete, auch als männlich codierte weibliche Antichristfigur deuten.

Die sogenannten Deutschen Berichte über den walachischen Woiwoden Vlad Ţepeş Drăculea, überliefert in acht Handschriften und seit 1488 bis ins 16. Jahrhundert hinein in rascher Folge im Druck verbreitet, standen im Zentrum des Vortrags von CHRISTOF PAULUS (München). Der antichristliche Gehalt der propagandistischen, „kunstvoll kunstlosen“ Prosaschrift, deren „Urfassung“ mit hoher Wahrscheinlichkeit am Hof des Ungarnkönigs Matthias Corvinus entstanden ist, lässt sich auf der Wort- wie der Bildebene belegen. Nicht zuletzt wurde das antichristliche Generalmotiv der dissimulatio herausgearbeitet, die oftmals im Katalog der Grausamkeiten Vlads aufscheint und wiederum mit einer auch andernorts nachzuweisenden Tendenz zur kumulierenden Exaltation der Gewalttaten korrespondiert. Zugleich kann die Rezeptionshistorie der Deutschen Berichte motivgeschichtlich im Rahmen der Barbarisierung eines vermeintlich wilden Ostens gelesen werden.

Mit Ausführungen zum Antichrist im sogenannten Investiturstreit eröffnete MARION WEIDNER (München) die Sektion über Medien des Antichristlichen. Eine vergleichende Betrachtung von Briefen, Streitschriften und Dekreten aus päpstlichem wie kaiserlichem Umfeld zeigte apokalyptische Dimensionen in der verschriftlichten Wahrnehmung und Argumentationsweise auf. Zwar entwickelte sich auf beiden Seiten ein eschatologisch definiertes Feindbild, das die Konfliktsituation verstärkte und sie in endzeitlichem Licht erscheinen ließ; doch wurde in Medien der gregorianischen Seite stärker explizit antichristliche Motivik in die Schriften einbezogen, wogegen in Texten von Unterstützern Heinrichs IV. die Aspekte der Zerstörung der Kirche und einer gegenwärtigen confusio alles Irdischen als Vorzeichen der Apokalypse markant hervortreten. Beiderseits lässt sich – neben biblischer Terminologie – ein Rekurs auf das Werk De ortu et tempore Antichristi des Adso de Montier-en-Der fassen.

Mit apokalyptischen und antichristlichen Assoziationen im Osmanenbild der dalmatinischen Renaissance-Literatur befasste sich ALOJZ IVANIŠEVIĆ (Wien). Das militärische Vordringen der Osmanen in den dalmatinischen Raum im ausgehenden 15. Jahrhundert führte zu einer Intensivierung antiosmanischer Motivik in der zeitgenössischen dalmatinischen Publizistik. Ein Vergleich dreier Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts, Marko Marulić, Petar Zoranić und Petar Hektorović, sowie verschiedener Textformen – Romane, Lieddichtung, Briefe – zeigte zentrale Topoi auf, so die Selbstwahrnehmung als antemurale christianitatis und die Anwendung des Motivs exaltierter Grausamkeit auf die Osmanen. Der Abwehrkampf wurde teilweise mit eschatologischer Dramatik aufgeladen, so im kroatischsprachigen Werk Planine (Die Berge) von Petar Zoranić, worin dieser mit dem Sturz des Drachen durch den Erzengel Michael verglichen wird. Die explizite Bezeichnung der Osmanen als antichristlich findet sich etwa in einem offenen Brief von Marko Marulić an Papst Hadrian VI. aus dem Jahr 1522.

Der Wahrnehmung von Juden als antichristlich in Reiseberichten über Polen-Litauen aus dem 17. Jahrhundert widmete sich CHRISTOPH AUGUSTYNOWICZ (Wien). Die typologischen Vorstellungen westlicher Reisender prägten die Perzeption der im Gebiet Polen-Litauens lebenden Juden und wirkten durch die Verbreitung von Reiseberichten im Westen weiter. Zwei Merkmale in der Darstellungspraxis weisen auf „antichristliche“ Typologisierungen hin: Als dominant zeigen sich erstens die Arbeit mit physiognomischen Merkmalen und ein impliziter Bezug zwischen apokalyptischem und antijüdischem Denken, wie es sich etwa in den Beschreibungen von Jean Le Laboureur fassen lässt. Konkreter hinsichtlich der Figur des Antichrist und seines Milieus fallen die Vorstellungen von Unreinheit ins Auge, die in einen biblischen Kontext gestellt wurden, so im Bericht des nicht genauer zu bestimmenden Payen von 1668. Die Reisenden lassen sich verorten an einer chronologischen Nahtstelle, einerseits als Nachzügler mittelalterlicher Vorstellungen, gleichzeitig als Vorläufer aufgeklärter Ressentiments unter lebhafter Bezugnahme auf apokalyptische Narrative.

OLAF TERPITZ (Graz) thematisierte Topoi in der jüdischen Literatur, die sich als Reaktion auf gewaltsame gesellschaftliche Umbrüche und damit einhergehende traumatische Erfahrungen begreifen lassen. Bis zur Moderne habe in jüdischer Literatur die traditionell religiöse Deutung von „churban“ bzw. „khurbm“ (Zerstörung, Verwüstung) dominiert; um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde dieser Deutungskreis in motivischer und narrativer Weise erweitert: Hinzu traten ethnografische Erzählstrategien, Übertragungen christlich konnotierter Deutungsmuster, schließlich universal humanistische Überlegungen. Die Wiederlektüre von Lamed Shapiros jiddischer Pogromerzählung Das Kreuz (1908), Simon Dubnovs russischsprachiger Erzählung Geschichte eines jüdischen Soldaten (1917) und Joseph Roths deutschsprachiger Essaysammlung „Der Antichrist“ (1934) spürte der Frage nach, wie sich diese Transformationen in der literarischen Repräsentation vollzogen. Bei Joseph Roth findet schließlich das Deutungsmuster des Antichristlichen, von religiösen Konnotationen befreit, Anwendung auf die eigene Gegenwart: Im Sinne einer Zeitdiagnose der Moderne dient es als Signum kultureller Verfallsprozesse und ideologischer dissimulatio.

Abschließend widmete sich GERHARD LANGER (Wien) den Erzählmotiven des Messianischen und Antichristlichen im Roman Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth von Soma Morgenstern (1890–1976). Morgenstern befasste sich in seinen Romanen intensiv mit jüdischer Tradition, Chassidismus und Mystik sowie der Begegnung mit dem Christentum. In der ab 1948 verfassten Blutsäule versucht er, die Verbrechen des Nationalsozialismus anhand einer Erzählung über ein ukrainisches Dorf aufzuarbeiten, in dem nach der Befreiung durch die Rote Armee ein Gericht über Deutsche tagt, die ein Massaker an den jüdischen Bewohnern verübt hatten. Der Roman spielt intensiv auf jüdische Traditionen an, weist vielfach Semantik der apokalyptischen Literatur auf und ist – analog zur hebräischen Bibel – in 24 Kapitel geteilt. Das Motiv des Antichrist wird in diesem Werk gegen die Nationalsozialisten angewendet, deren furchtbare Gräueltaten, vor allem an Kindern, als „Anfang der messianischen Erlösung“ interpretiert werden, die letztlich nach Israel führt.

Am Ende der kulturgeschichtlichen Umschau lässt sich festhalten: Der Topos des Antichristlichen erweist sich als omnipräsent und adaptiv. Seit der Spätantike fassbar, in Mittelalter und Früher Neuzeit beständig rezipiert und ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erneut intensiv aufgegriffen, fand er Anwendung nicht nur auf Herrscherpersönlichkeiten, sondern ebenso auf krisenhafte Entwicklungen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Das breite Spektrum der kulturschaffenden Antichristrekurse wurde auf der Tagung durch die zeitlich wie räumlich weit gefassten Themenfelder deutlich. Deutlich wurde aber auch der Cantusfirmus mancher Elemente, wie das der dissimulatio in Ausformung des biblischen Bezugstextes, die in ständig aktualisierender Arbeit am Mythos den Antichristdiskurs weiterschrieben.
Die Tagungsakten sollen, angereichert durch weitere Beiträge, publiziert werden.

Konferenzübersicht:

Christoph Augustynowicz (Wien) und Christof Paulus (München): Eröffnung und Einführung

Keynote

Claudia Märtl (München): Der Antichrist im Kirchenstaat. Luca Signorellis Fresken im Dom zu Orvieto

Sektion I: Figuren und Konjunkturen des Antichristlichen

Simon Degenhart (München): Satellites Antichristi? Vergleichende Blicke auf die europäische Mongolendeutung im 13. Jahrhundert

Ingrid Würth (Halle-Wittenberg): Weltenrichter Konrad Schmid und der Papst als Antichrist – Endzeitvorstellungen der thüringischen Geißler im 14. und 15. Jahrhundert

Sektion 2: Orte des Antichristlichen

Isabel Grimm-Stadelmann (München): Zoe (978–1050) – Kaiserin und Alchemistin

Christof Paulus (München): Antichrist und wilder Osten. Vlad Țepeș Drăculea

Sektion 3: Medien des Antichristlichen I

Marion Weidner (München): Antichrist im Investiturstreit. Zur eschatologischen Begrifflichkeit in Quellen des Streits zwischen Regnum und Sacerdotium

Alojz Ivanišević (Wien): Der Antichrist und das Osmanenbild in der dalmatinischen Renaissance-Literatur

Sektion 4: Medien des Antichristlichen II

Christoph Augustynowicz (Wien): Die Wahrnehmung von Juden als antichristlich in Reiseberichten über Polen-Litauen im 17. Jahrhundert

Olaf Terpitz (Graz): Der gekreuzigte Mensch – das gekreuzigte Volk. Jüdische Erfahrung und literarischer Topos

Gerhard Langer (Wien): Der Antichrist in Soma Morgensterns Blutsäule


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