Historische Beneluxforschung und Digital History

Historische Beneluxforschung und Digital History

Organisatoren
Arbeitskreis Deutsch-Niederländische Geschichte / Werkgroep Duits-Nederlandse Geschiedenis (ADNG/WDNG); Arbeitskreis Historische Belgienforschung (AHB); Fachinformationsdienst (FID) Benelux / Low Countries Studies
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2020 - 26.09.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Lina Schröder, Lehrstuhl Fränkische Landesgeschichte, Universität Würzburg

Die drei Organisatoren hatten ursprünglich gemeinsam mit den beiden Partnerinstitutionen – dem Duitsland Instituut Amsterdam und dem Zentrum für Niederlande-Studien (Universität Münster) – zu einem Treffen nach Münster eingeladen. Coronabedingt fand dieses nun digital statt. Ziel der Veranstaltung war zu diskutieren, wie sich die Digitalisierung auf die aktuellen Fragestellungen und Projekte im Feld der Beneluxgeschichte auswirkt, wie sie den Blick auf die Gegenstände der historischen Forschung verändert und welche Methoden und Quellen sie mit sich bringt. Im Fokus standen entsprechend verschiedene, digital arbeitende Forschungsprojekte, Ausstellungen und Enzyklopädien aus dem Beneluxraum.

In einer Keynote führte GERBEN ZAAGSMA (Luxemburg) zunächst aus, auf welche Weise sich die Praxis des digitalen Arbeitens in den letzten Jahren verändert hat. Hier müsse sowohl auf Kontinuitäten als auch auf Brüche geschaut werden. Schon 2013 hatte er in einen Aufsatz proklamiert, dass Hybridität das neue Normal sei – er hatte in diesem Zusammenhang von einem Digital Turn gesprochen.1 Jetzt ergänzte er, dass Hybridität nicht auf einen Ablöseprozess, sondern auf Integration abziele. Dabei zeige sich im konkreten Arbeitsprozess, dass sich hinsichtlich der Archivierung häufig gestellte Fragen, was aufzubewahren respektive zu digitalisieren sei, wiederholen. Auch müsse an die Folgekosten der Digitalisierung (Stichwort „ständige technische Weiterentwicklung“) gedacht sowie die Verantwortung der Entscheidungsträger berücksichtigt werden. Dazu gehört die Frage, ob beispielsweise mit digitalen Quellen arbeitenden HistorikerInnen gleichfalls eine ökologische Verantwortung zukomme oder ob diese ausschließlich bei den ComputerfachexpertInneen liegt.

Die erste Sektion, in der es um zwei derzeit laufende digitale Forschungsprojekte ging, eröffnete CARLO LEJEUNE (Büllingen) vom Zentrum für Ostbelgische Geschichte. Dieses versteht sich als Schnittstelle zwischen an der Geschichte Ostbelgiens interessierter Wissenschaft und engagierter Öffentlichkeit. Als Ostbelgien werden heute, im engeren Sinn, die neun belgischen Gemeinden bezeichnet, die zur Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens gehören und eine Geschichte ständig wechselnder nationaler Zugehörigkeit hinter sich haben. Die Arbeit des Zentrums spiegelt sich in einer eigenen Buchreihe, zudem werden u.a. Zeitzeugeninterviews, Bildmaterial, Zeitungsartikel sowie Filme digitalisiert und kostenlos zur Verfügung gestellt. Letzteres erfolge in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv Eupen. Als besonders problematisch erwies sich bisher die Digitalisierung der Zeitungsartikel; es sei hier sehr schwierig, z.B. Fragen nach dem Copyright zu klären. Ein langfristiges Ziel bestehe in der Ablösung der aktuellen Portale durch eine digitale Enzyklopädie.

Das Forschungsprojekt WARLUX präsentierte NINA JANZ (Luxemburg). WARLUX hat es sich zur Aufgabe gemacht, Bibliographien von luxemburgischen, zwischen 1920 und 1927 geboren Personen zu erstellen, die während des Zweiten Weltkriegs deutsche Uniformen bei Streitkräften und zivilen Organisationen trugen. Von den schätzungsweise 11.000 Personen konnten bisher rund 3.000 erfasst werden. Bezüglich des Forschungszugangs wurde eine Bottom-up-Perspektive gewählt. Die Personen werden u.a. anhand ihrer Netzwerke, ihres sozialen Umfeldes und ihrer Persönlichkeit erfasst und mittels Verlinkungen nach bestimmten Strukturen abgebildet. Als Quellen werden hierfür die Anwerbungspapiere, die jeweilige Organisation betreffende Schriftstücke oder militärische Dokumente verwendet, darüber hinaus private Korrespondenz sowie Zeitzeugeninterviews. Die gesammelten Daten werden anschließend mithilfe von Nodegoat visualisiert.

Der zweite Block der Tagung thematisierte digitale Ausstellungen. PHILIPPE BECK (Luxemburg) stellte die in vier Sprachen konzipierte Exposition „Zeitschichten.be“ vor. Anlass der Ausstellung war das Jubiläum „Hundert Jahre Ostbelgien“. Als Zielgruppe benannte Beck ein breites Publikum zwischen 16 und 100 Jahren. Der Einstieg erfolgt durch einen kurzen Film, der sich vornehmlich an diejenigen richtet, die nur wenig über Ostbelgien und seine Geschichte wissen. Der zweite Ausstellungsteil, überschrieben mit dem Wort „Perspektiven“, stellt neun Themen anhand von neun spezifischen Fragen vor. Sie lauten z.B. „Wie ist Ostbelgien entstanden?“ oder „Welche Beziehungen bestanden zu den Nachbarn?“ Für ihre Beantwortung werden verschiedene Archivdokumente präsentiert, wobei deutlich wird, dass die Besuchenden an keiner Stelle eine eindeutige Antwort erhalten, sich statt dessen eine eigene Meinung bilden sollen. Der dritte und letzte Teil „Exploration“ lädt zum Selberforschen ein und wird ständig erweitert – es lohnt sich also, die Ausstellung im Blick zu behalten.

Einen anderen Ansatz von Ausstellung stellte SYLIVIA ASMUS (Frankfurt am Main) vor. Einführend trug sie wichtige, das Format Ausstellung allgemein betreffende Punkte zusammen, so etwa die Herauslösung der Exponate aus ihrem Überlieferungszusammenhang, ihre neue Kontextualisierung und die Erwartung des Besuchers, etwas Authentischem zu begegnen. Dennoch, so unterstrich Asmus in der anschließenden Diskussion, ließe sich der Vergleich analog/digital nicht dahingehend vereinfachen, dass bei der analogen Ausstellung das Objekt und dessen Originalität im Vordergrund stehe und in der digitalen das Narrativ, denn auch digitale Objekte seien Originale. Sowohl sie als auch der vorherige Referent Beck beantworteten eine Frage nach der Sinnhaftigkeit eines ständigen Vergleiches zwischen analogen und digitalen Ausstellungen entsprechend dahingehend, dass er aufgrund des Problems mangelnder Vergleichbarkeit wenig hilfreich sei. Jedes Format habe Vor- und Nachteile. Asmus plädierte stattdessen dafür, den Begriff des „Ausstellens“ neu zu definieren. Vor diesem Hintergrund ging sie auf das Potential virtueller Ausstellungen ein. Eine große Chance sah sie zunächst in der neuen Form der Alltäglichkeit: keine Öffnungszeiten, keine Raumbarrieren, der Ort sei durch Neutralität und Globalität gekennzeichnet. Ihre eigene, seit 2013 online bestehende Exposition folge außerdem digitalen Paradigmen: (1) dem Netzwerkcharakter und (2) der Unabgeschlossenheit. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise die Flucht vor dem NS-Regime und die Flucht aus der DDR miteinander verweben, gleichfalls auch verschiedene Künste, etwa Film, Literatur, Architektur etc. Die bewusst gewählte Unabgeschlossenheit führe dazu, dass sie gerade vor den aktuellen Migrations- und Vertreibungsbewegungen inhaltlich weiterwachsen könne. Auf zwei Probleme ging Asmus abschließend ein: zum einen den Rechtsstatus, zum anderen die ständigen technischen Veränderungen. Während Letztere ein von großem Arbeitsaufwand begleitetes, immerwährendes Übertragen der Daten auf neue technische Plattformen erforderten, führe die Diskussion über Urheberrechte dazu, dass oftmals nur gemeinfreies Gut für die Ausstellung genommen werde, wodurch aus kuratorischer Sicht aber viel verloren gehe.

Die Perspektive der NutzerInnen digitaler Angebote wurde in einer weiteren Sektion eingenommen. BENJAMIN VAN DER LINDE (Hamburg) ging der Frage nach, ob Historiker eine spezielle Fragestellung für den Umgang mit digitalisierten Quellen benötigen. Er beantwortete sie mit einem eindeutigen „Ja“, da er Digitalisierung nicht nur als bloße Sicherung und Bereitstellung von Materialien versteht. Seine Position führte er anhand der Karte Belgica Foederata von Gerald und Leonard Valk (1776) aus. Nach einer Einführung in den Entstehungsprozess einer solchen vormodernen Landkarte ordnete er die Belgica Foederata und ihre Entstehungsgeschichte in den historischen Kontext ein. Er verwies dabei zu Recht darauf, dass der Nutzer mit der digitalisierten Karte allein nicht viel anfangen kann, es sei denn, er ist ausschließlich an den auf ihr abgebildeten Details, beispielsweise an den hier verzeichneten Städten, interessiert. Aber selbst dann benötige er zumindest das ungefähre Entstehungsjahr der Karte, um etwas mit den Daten anfangen zu können. Van der Linde plädierte entsprechend dafür, den überlieferten Kontext, genauso wie im Archiv, mitzuliefern. Vor dem Digitalisieren solle zudem begründet werden, warum eine Sammlung oder Karte überhaupt digitalisiert wird.

Im zweiten Vortrag des Blocks zeigte SANDRA ZAWREL (Erfurt) die Grenzen der Digitalisierung auf, indem sie die ZuhörerInnen in den Amsterdamer Papierhandel zwischen 1750 und 1810 entführte. In ihrem Dissertationsprojekt geht sie exemplarisch den Fragen nach, wie der Papierhandel organisiert war, welche Versorgungs- und Organisationsleistungen mit diesem verknüpft waren und welche Funktionen und Bedeutungen der Papierhandel zwischen der Herstellung und dem Verbrauch einnahm. Zawrel stellte heraus, dass Papier in der Frühen Neuzeit omnipräsent war. Die Verbrauchsmenge war groß: Drucker, Buchhändler, Verleger, professionelle Schreiber wie Notare, Kaufleute, Apotheker oder Lebensmittelhändler gehörten zu den ständigen Verbrauchern, wie sie am Beispiel des niederländischen Papierhändlers Zacharias Segelke (1761−1804) aufzeigte. In diesem Zusammenhang machte sie auf die gute Überlieferung in den Archiven aufmerksam, und hier wurden nun auch die Grenzen der Digitalisierung deutlich: Der Forschungsgegenstand Papier, sein Wasserzeichen, seine Zusammensetzung etc. muss selbst gesehen, ertastet und gefühlt werden, das gehöre zum Thema unbedingt mit dazu.

Der letzte Block der Tagung thematisierte digitale Enzyklopädien. KASPER SWERTS (Antwerpen) vom Archief voor nationale bewegingen – Archive for National Movements stellte in einem gemeinsam mit seinem Kollegen ARAGORN FUHRMANN erarbeiteten Vortrag die Digitale Encyclopedie van de Vlaamse Beweging vor. Bei der Vlaamse Beweging handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für Personen und Vereinigungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Anspruch aktiv sind, die niederländischsprachige flämische Bevölkerung Belgiens als gesonderte „Volksgruppe“ innerhalb Belgiens zu vertreten. Als erste Publikation, die das Geschehen der Bewegung systematisch festhält, erblickte die Enzyklopädie 1973 das Licht der Welt. 1998 erschien erneut ein dreibändiges Printwerk unter dem Titel Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging. Erklärtes Ziel ist, dass 2023 die völlig neu konzipierte digitale Version der Enzyklopädie online gehen soll. Das größte Problem neben der technischen Umsetzung ist laut Swerts der stets mitschwingende methodologische Nationalismus der Bewegung, den es hier zu überwinden und keinesfalls neu anzustacheln gilt. Daneben ist es problematisch, dass es zwei Versionen der Enzyklopädie gibt, die insbesondere bezüglich der Darstellung des Zweiten Weltkriegs große Unterschiede aufweisen. Eine Chance sieht Swerts in den neuen Darstellungsmöglichkeiten von Vernetzung. Auch hier soll mit Nodegoat gearbeitet werden.

Der letzte Vortrag der Sektion widmete sich einer digitalen Enzyklopädie, die sich sowohl bei Laien als auch bei ExpertInnen, bei SchülerInnen und Lehrenden, Studierenden und DozentInnen einer großen Beliebtheit erfreut. ZIKO VAN DIJK (Duisburg-Essen) stellte die Enzyklopädie Wikipedia sowie die vielen unterschiedlichen Wikimedia-Projekte in einem Video vor. Hier waren viele Details zu erfahren, die den alltäglichen Nutzenden häufig unbekannt sind. So gibt es viele Wikipedias in diversen Sprachversionen, die Enzyklopädie besitzt außerdem eine eigene Community, es gibt über acht Milliarden Leser. Für HistorikerInnen besonders interessant: 60 Prozent der Wikipedia-Artikel beschäftigen sich mit historischen Themen. Wikipedia stehe allerdings in der ständigen Diskussion bezüglich der Qualität der Artikel, da jeder mitschreiben darf. Mögliche Falschaussagen verletzen mitunter nicht nur Persönlichkeitsrechte von Angehörigen bereits Verstorbener, sondern können auch die noch Lebenden selbst treffen. Trotz dieser berechtigten Kritik sieht van Dijk in der freien Mitarbeit auch eine Chance. So könne z.B. mit SchülerInnen oder Studierenden das Thema Medienkompetenz erarbeitet werden. Außerdem stelle die Enzyklopädie auch einen interessanten Forschungsgegenstand der Bildungsgeschichte dar: Alte Versionen lassen sich recherchieren – die Genese der Enzyklopädie und ihrer Artikel werden so selbst zum Thema der Forschung. Auch die von van Dijk zahlreich angeführten Literaturhinweise spiegeln das gewachsene Forschungsinteresse.

In der abschließenden Sektion nahm Markus Wegewitz vom ADNG/WDNG Bezug zur Keynote. Seiner Meinung nach sei es sinnvoll, die Hybridität des Forschungsalltags mit ihren methodischen und strukturellen Herausforderungen sowohl in Bezug auf das eigene Arbeiten als auch hinsichtlich des allgemeinen Forschungsdiskurses zukünftig stärker in den Fokus der Betrachtungen zu rücken, um so die erforderliche Expertise für die Weiterentwicklung hybrider Formate aufzubauen. Ilona Riek vom FID Benelux ergänzte, dass gerade hier Bibliotheken wichtige Ansprechpartner für die Forschung seien, da sie die Fachkompetenz bezüglich des Umgangs mit strukturierten Daten und Wissensmanagement bündeln.

Die verschiedenen Beiträge haben, um ein kurzes Resümee zu ziehen, gezeigt, dass Hybridität mittlerweile zum festen Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens geworden ist, auch im Feld der Benelux-Forschung. Es wurde deutlich, dass bereits sehr viele gute digitale Projekte und Ansätze existieren, die Digitalisierung gerade auch in Grenzregionen mit komplexer Historie, wie z.B. Ostbelgien, neue Möglichkeiten von Austausch und Vernetzung bietet. Allerdings wäre es falsch, in der Digitalisierung nun das neue, allumfassende Format schlechthin zu vermuten. Nicht nur das Beispiel des Amsterdamer Papierhandels zeigte die Bedeutung der Benutzung analoger Quellen im Forschungsprozess. Auch die derzeitige Auslagerung des Konferenz- und Lehrbetriebs an Schulen und Universitäten ins Digitale markiert deutlich Grenzen des Machbaren, nicht nur in technischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Zudem gibt es nach wie vor zahlreiche Herausforderungen, wie z. B. nachhaltige Datensicherung, Auswahl und Art der Bereitstellung von Quellen, Umgang mit Urheberrechten, etc. So ist Gerben Zaagsma am Ende zuzustimmen: Hybridität stellt keinen Ablöseprozess dar, sondern muss auf Integration abzielen.

Konferenzübersicht:

Gerben Zaagsma (Universität Luxemburg): The Hybrid Historian: Historical Research in the Digital Age

Carlo Lejeune (Zentrum für Ostbelgische Geschichte, Büllingen): Das Zentrum für Ostbelgische Geschichte (ZOG). Ein neuer historischer Zugang über eine umfangreiche Digitalisierung

Nina Janz (Universität Luxemburg): WARLUX: The Impact and Legacy of War Experiences in Luxembourg

Philippe Beck (Universität Luxemburg): Zeitschichten.be – Erkundungen des Zwischenraums Ostbelgien, 1920–2020. Eine virtuelle Ausstellung

Sylvia Asmus (Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main): Exil online. Die virtuelle Ausstellung „Künste im Exil“ und die virtuelle Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek – zwei Ansätze, eine Plattform

Benjamin van der Linde (Stiftung Hanseatisches Wirtschaftsarchiv, Hamburg): Quellenkritik des Digitalen?! Zum Umgang mit digitalisierten materiellen Quellen am Beispiel von niederländischen Landkarten des 16. bis 19. Jahrhunderts

Sandra Zawrel (Universität Erfurt): „Van merkelijk gewin“ – Der Amsterdamer Papierhandel zwischen 1750 und 1810

Kasper Swerts und Aragorn Fuhrmann (Universität Antwerpen): Beware the Hammer of Methodological Nationalism. Nationalism, (digital) Historiography and the Encyclopedia of the Flemish Movement

Ziko van Dijk (Universität Duisburg-Essen): Wikis and Wikipedia for Historians

Anmerkung:
1 Gerben Zaagsma, On Digital History, in: bmgn – Low Countries Historical Review 128-4 (2013), S. 3–29.