Lustration: Bürokratische Eigenlogik und politische Regimewechsel im 20. Jahrhundert

Lustration: Bürokratische Eigenlogik und politische Regimewechsel im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Therese Garstenauer, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien; Bernhard Gotto, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
Ort
Wien (Online)
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2020 - 25.09.2020
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Von
Sabrina Laue, Institut für Zeitgeschichte Berlin-München

Betrachtet man Regimewechsel im 20. Jahrhundert, so scheinen sie politisch motivierte „Säuberungsaktionen“ in den verwaltenden Behörden fast schon automatisch nach sich zu ziehen. Nach der Machtübernahme dienen sogenannte Lustrationen als Maßnahme zur Sicherung von Stabilität und Rückhalt innerhalb des staatlichen Beamtenkörpers. Der Begriff stammt aus der Politikwissenschaft und bezeichnet die systematische Entfernung von Personen im öffentlichen Dienst. Die Forschung hat sich schon viel mit solchen Lustrationen beschäftigt, jedoch wurden Beamtenapparate bisher eher als ein abstraktes und statisches Konstrukt betrachtet, das durch äußere Eingriffe in die dort bestehende Personalstruktur verändert wird. Diese traditionelle Sichtweise wurde im Workshop, der online über Zoom stattfand, hinterfragt. Im Mittelpunkt stand der Blick auf Behörden vor allem als Akteure, und weniger als Objekte, sowie die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Lustration und der Verwaltungspraxis. Innerhalb der thematischen Vielfalt des Programms lag der Schwerpunkt auf dem Regimewechsel 1918/19 anhand von osteuropäischen Fallbeispielen. Insgesamt bestätigte sich der Stand der Forschung in der Hinsicht, dass die Beiträge Kontinuitäten auf personeller, struktureller wie auch symbolischer Ebene im Beamtenapparat bestätigten. Allerdings gelang darüber hinaus der Zugang einer Innenperspektive dieser Abläufe.

Gleich der erste Beitrag war beispielhaft für die vielfältigen Ansätze der Vortragenden: GUSTAVO CORNI und FRANCESCO FRIZZERA (Trento, Rovereto) setzten sich in ihrem Beitrag mit der Agrarpolitik in der Transition vom Deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik auseinander. Trotz der starken politischen Auswirkungen dieses Umbruchs konnten beide Forscher starke und relativ weitreichende Kontinuitäten in den Behörden und Institutionen, die sich mit Belangen der Landwirtschaft und Ernährung befassten, feststellen. Als besonders interessant stellte sich heraus, dass das Kriegsernährungsamt (KEA) laut Corni und Frizzera jedoch schon vor 1918 mit traditionellen Verwaltungsgrundsätzen brach und externe Experten, die nicht aus dem konservativen Milieu stammten, in seinen Korpus einbaute. Diese „Verwaltung in der Verwaltung“, die sich innerhalb der personellen Struktur des KEA erkennen lässt, charakterisierten die Vortragenden als Vorgriff auf die spätere Integration von politisch oppositionellen, linken Eliten in den Regierungsapparat der Weimarer Republik.

Von mehr Kontinuitäten als Brüchen nach einem Regimewechsel konnten auch KARIN SCHNEIDER und GABRIELE KAISER (Wien) berichten. In ihrem Vortrag beschäftigten sie sich mit der Kanzlei des Nationalrats in den Gründungsjahren der Ersten Republik. Ähnlich zu den personellen Strukturen, die im vorangegangen Beitrag im Fokus standen, spielte vor allem die Qualifikation und fachliche Kompetenz der Beamten und Beamtinnen eine Rolle. Damit gab es in der Kanzlei-, Archiv- sowie der Bibliotheksdirektion der Kanzlei fast keine Veränderungen, aber auch auf niedrigeren Ebenen treten die dort zu verzeichnenden Kontinuitäten stark ins Auge. Schneider und Kaiser betrachteten über personelle Fragen hinaus zudem bauliche und symbolische Aspekte. Kontinuität wurde auch ganz plastisch am Parlamentsgebäude sichtbar: Das gewisse Trägheitsmoment der Architektur wurde dort in fehlenden Umbaumaßnahmen sowie in den noch lange belassenen Doppeladlern deutlich: die Figuren des Wappentiers und Herrschaftszeichen der österreichischen Doppelmonarchie wurden erst zehn Jahre später von den Masten vor dem Gebäude entfernt. Aufgrund von Mängeln an Quellen bleibt die Frage, ob die äußeren Kontinuitäten als Spiegel der Einstellung der Menschen gesehen werden können.

VÁCLAV ŠMIDRKAL (Prag) beschäftigte sich ebenfalls mit der Zeit des Umbruchs nach 1918. Er widmete sich dort der Lustration des Offizierskorps in der Tschechoslowakei nach Ende des Ersten Weltkriegs, die im Zuge der Nationalisierung und damit verbundenen „Entösterreichung“ der Armee durchgeführt wurde. Durch diese „Säuberungsaktion“, in deren Verlauf die Lebensläufe aller Offiziere überprüft wurden, sollte die Armee von innen heraus erneuert werden. Obwohl die äußeren Strukturen gleichblieben, sollte die personelle Verschiebung vor allem die eigentlichen Bevölkerungsverhältnisse darstellen, nach innen hin ein einheitliches Offizierskorps sicherstellen und nach außen das Vertrauen der Zivilbevölkerung wiedergewinnen. Laut Šmidrkal trug die Lustration in besonderem Maße zur nationalen Versöhnung mit der Armee bei, da die Öffentlichkeit in dem Prozess der Lustration mit einbezogen wurde.

Denunziationen, jedoch innerhalb der Behörden, spielten für die Lustration eine Rolle, die der kurzzeitigen Ungarischen Räterepublik 1919 folgte. JULIA BAVOUZET (Paris-Nanterre) setzte sich mit der Konzeption und Durchführung dieser „Säuberung“ des Beamtenkörpers von kommunistisch gesinnten Personen und der Rekonstruktion der vor Oktober 1918 herrschenden Verhältnisse auseinander. Basis hierfür war die Untersuchung zahlreicher Prozessakten. Im Zuge der 133 Tage währenden Räterepublik hatten die revolutionären Machthaber unter Béla Kun die gesamte Verwaltung personell wie strukturell umorganisiert – dies sollte nun vor allem mithilfe der Beamten und Beamtinnen selbst rückgängig gemacht werden. Diese denunzierten sich gegenseitig, während alle, die als Kommunisten verdächtigt wurden, im Rahmen eines Scheinprozesses verurteilt wurden. Die moralischen Konflikte, in welchen sich die Beamten und Beamtinnen befanden, belasteten nicht nur die gegenseitigen Beziehungen stark, sondern auch die zum Staat. Die Lustration führte nicht zu übermäßigen Entlassungen im Beamtenkorpus, viele blieben in ihrem Amt tätig, obschon die „Kommunistischen Prozesse“ fast traumatischen Spuren an ihnen hinterließen.

Viele Kontinuitäten ergaben auch DOMINIK SCHMOLLS (Saarbrücken) Untersuchungen zum Saarland unter französischem Einfluss 1918–20. Dieses galt ab 1920 als „Mandatsgebiet des Völkerbundes“, wobei die Besetzung der zuständigen Kommission vor allem durch das französische Außenministerium erfolgte. Zwar sahen die französischen Behörden die Rolle der deutschen Beamten und Beamtinnen kritisch, standen diese doch für die Verbreitung pan-germanischer Gedanken, doch gab es außer ein paar Versuchen, unliebsame Beamte loszuwerden, keine größeren „Säuberungen“. Eine Ausnahme bildet hier die Absetzung des Landrats von Saarbrücken und vieler anderer Bürgermeister nach dem Spartakusaufstand 1919. Ein interessanter Aspekt war zudem die Weiterverwendung von altem Briefpapier, von welchem lediglich das für „königlich“ stehende „k“ weggestrichen wurde, ein Beispiel für dingliche Kontinuitäten.

Die Vortragsrunde am zweiten Tag des Workshops eröffnete ANA LENA WERNER (München), die im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zum bayerischen Justizministerium nach 1945 Kontinuitäten und Umbrüche in der Verwaltungspraxis anhand von juristischen Personalakten vorstellte. Aus den formalen und narrativen, oft schematischen Strukturen dieser „bürokratischen Biografien“ innerhalb von Personalakten könne man entgegen der traditionellen, eher kritischen Meinung zu dieser Quellengattung, Bilder der Justiz und Identitätskonstruktionen ablesen. Die Weiterverwendung und der damit zusammenhängende Glaube an die Weitergeltung dieser Akten auch nach dem Ende der NS-Diktatur spreche für die Kontinuität, die in der Verwaltungspraxis innerhalb des Ministeriums bestand. Für Letztere stelle die „bürokratische Biografie“ eine „Grundkategorie institutioneller Lebensbeschreibung“ dar.

DARREN O’BYRNE (Cambridge) blickte in seinem Vortrag auf sämtliche deutsche Staatsformwechsel im 20. Jahrhundert und die damit einhergehenden Reaktionen der Beamtenschaft. Innerhalb der Behörden bestehe eine Eigenlogik, die das eigene Fortbestehen durch „Selbstgleichschaltung“ an die bestehenden Umstände, sichere und sich somit in einem Prozess an die neue politische Führung anpasse. Die deutschen Beamten und Beamtinnen seien somit bereit gewesen unterschiedlichen Staatsformen zu dienen – Ideologie sei hier nicht der wichtigste Faktor gewesen, vielmehr hingegen die Eigenlogik der Behörden als ein System, in welchem Selbstgleichschaltung als ein innerhalb der Behörde logisches Verhalten zur Sicherung der eigenen Existenz zutage trete.

Auch BERNHARD GOTTO (München) blickte in seinem Vortrag mit dem Zeitraum von 1919 bis 1949 auf drei Systemwechsel. Er stellte seine Untersuchungen zu den Auswirkungen der politischen Umbrüche und damit einhergehenden Lustrationen auf das Finanzministerium vor und konzentrierte sich vor allem auf die Reaktionen der Behörde, die solche Personaleingriffe hervorriefen. Ähnlich wie O’Byrne sah Gotto entgegen traditioneller Ansichten im Finanzministerium eher einen Prozess der Anpassung anstelle einer einseitigen, gewaltsamen „Säuberung“ von außen. 1919 passte sich die Verwaltungsstruktur der Behörde den neuen demokratischen Rahmenbedingungen an, ab 1937 änderte sich das Anforderungsprofil von Beamten und Beamtinnen stärker, wobei sich die personellen Strukturen in der Behörde an das im Nationalsozialismus geschaffene administrative Umfeld anpassten. Nach 1945 war Lustration vor allem Symbolpolitik und wurde in der Leitungsebene durchgesetzt – jedoch rekonstruierte die Behörde gleichzeitig durch Versuche, Entlassungen zu verhindern oder rückgängig zu machen, alte Strukturen. Die stärksten Auswirkungen von den betrachteten Lustrationen waren damit nach dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen, während sich durch alle „Säuberungsprozesse“ die Eigenlogik der Behörde als markante Kontinuität hindurchzog.

In ihrem „Werkstattbericht“ stellte THERESE GARSTENAUER (Wien) anschließend ihr Forschungsprojekt zur Lustration österreichischer Behörden von 1938 bis 1940 vor, in dessen Mittelpunkt die Auswertung von Bescheiden steht, die aufgrund der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums erlassen wurden. Die „Säuberung“ der Beamtenschaft nach rassischen und politischen Kriterien setzte unmittelbar nach dem Anschluss ein. Nach dem Stand der bisherigen Auswertung handelt es sich bei solchen Fällen um ungefähr 10 Prozent der im öffentlichen Dienst beschäftigten Beamten und Beamtinnen, jedoch müssen die Daten noch vervollständigt werden, um die Zusammenhänge zwischen der Lustration zugrunde liegenden Kriterien und Maßnahmen aufzudecken. Auch hier vollzog sich der Prozess der Säuberungen als etwas zutiefst Bürokratisches, das in Kooperation mit den betroffenen Behörden umgesetzt wurde.

Einen detaillierten Blick auf materielle und symbolische Aspekte von Lustration eröffnete LENA PEDERSEN (München) am Beispiel der Amtskette der Münchner Bürgermeister. Die Insignie, die vorne den regierenden Monarchen und hinten das Wappen Münchens zeigte, fand im Dritten Reich weiter Verwendung, obwohl sich die aus der Monarchie stammende Kette nicht in die Emblematik des Nationalsozialismus einfügte. Trotz der Anpassung vieler anderer Symbole an die politischen Verhältnisse trugen die Münchner Bürgermeister die veraltete Kette häufig, und auch bewusst. Auf die Frage, wieso gerade die Ketten mit ihrer symbolischen Bedeutung und Sichtbarkeit nicht verändert wurden, fand sich keine eindeutige Antwort: ob aus praktischen, finanziellen oder doch symbolischen Gründen, die Amtskette überdauerte als repräsentatives Zeichen für die Münchner Bürgermeister mehrere Regimewechsel und bleibt ein spannender Untersuchungsgegenstand.

Zum Abschluss des Workshops konnte der Jurist JOACHIM FÖRSTER (Berlin) seine ganz praktische Perspektive auf Lustration teilen und berichtete von seinen Erfahrungen, die er in seiner langjährigen Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Demokratisierungsprozess in der DDR gemacht hat. Auch hier konnte er große personelle Kontinuitäten in die frühe Bundesrepublik hinein feststellen. Besonders interessant war die Rolle der Polizei, die durch ihre Systemnähe und dem gleichzeitig bestehenden Mangel an personellen Ressourcen eine besondere Herausforderung bot und schließlich zum Austausch der Hälfte der Polizist/innen führte. Insgesamt bewertete er die Probleme im Verhältnis zwischen dem ehemaligen Ost- und Westdeutschland jedoch als Übergangsprobleme in einem längeren, durchaus gelungenen, Transformationsprozess.

Die Beiträge bestätigten die bisherige Forschung darin, dass personelle „Säuberungen“ im Anschluss an Regimewechsel die Struktur der Verwaltung nur wenig veränderten, und sich diese eher durch Kontinuitäten innerhalb der Beamtenschaft charakterisiert. Dabei konnte der Workshop jedoch die ursprünglichen Fragen des Call for Papers, vor allem hinsichtlich der konkreten Wechselwirkung zwischen Lustration und Verwaltungspraxis, nur teilweise beantworten. Die Diskussionen im Anschluss an die Vorträge waren unter den Bedingungen einer Online-Konferenz etwas eingeschränkt, wobei hier eine Präsenzveranstaltung wohl mehr Dynamik gebracht hätte. Trotzdem konnte der Workshop mit seinen thematisch vielseitigen Vorträgen, die sich über das ganze 20. Jahrhundert erstreckten und gut miteinander verglichen werden konnten, einen Blick auf Lustration als Prozess ermöglichen und neue Fragen aufwerfen. Die Beiträge konnten zum Teil eine Innenperspektive auf diesen Prozess bieten und zeigten, dass neue Einsichten für die Betrachtung von Lustration in Verwaltungsapparaten möglich sind.

Workshop Programm:

Bernhard Gotto (München), Therese Garstenauer (Wien): Begrüßung

Gustavo Corni, Francesco Frizzera (Trento, Rovereto): Transition in der Agrarpolitik. Von Kaiserreich zur Republik 1918/1919

Karin Schneider, Gabriele Kaiser (Wien): Von Kontinuitäten und Brüchen: Die Kanzlei des Nationalrats in den Gründungsjahren der Ersten Republik

Václav Šmidrkal (Prag): Stabilität vor Gerechtigkeit. „Entösterreicherung“, Nationalisierung und Lustration des Offizierskorps in der Tschechoslowakei nach 1918

Julia Bavouzet (Paris-Nanterre): „I won’t back away from the white terror!“ Political cleansing in the Hungarian counterrevolutionary regime (1918–1920)

Dominik Schmoll (Saarbrücken): Une annexion déguisée? Frankreich und die Saar 1918–1920

Ana Lena Werner (München): Die bürokratische Biografie: Systemtransformationen, Personalaktenpraxis und Identitäten im Bayerischen Staatsministerium der Justiz

Darren O’Byrne (Cambridge): „Selbstgleichschaltung“ als typische bürokratische Reaktion auf Staatsformwechsel in Deutschland

Bernhard Gotto (München): Verfassung vergeht, Verwaltung besteht? Lustration im Bayerischen Staatsministerium für Finanzen zwischen 1919 und 1949

Therese Garstenauer (Wien): Eine Auswertung der Bescheide aufgrund der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums

Lena Pedersen (München): Ludwig III. im nationalsozialistischen Rathaus

Joachim Förster (Berlin): Lustration and the Process of Vetting in Democratic Transition Guide, The German Experience


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