Die Geschichte und politische Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion

Die Geschichte und politische Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion

Organisatoren
Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Ort
online
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2020 - 25.09.2020
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Von
Patrick Böhm, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die Konstituierung der SPD-Bundestagsfraktion jährte sich 2019 zum 70. Mal. Das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung nahm dies zum Anlass, in einer interdisziplinären Fachtagung einen umfassenden Blick auf sieben Jahrzehnte parlamentarische Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion zu werfen. In ihrer Geschichte sei sie an unzähligen Debatten und zentralen politischen Richtungsentscheidungen beteiligt gewesen und habe Demokratie und Politik mitgestaltet, akzentuierte PETER BEULE (Bonn) einführend. Trotz ihrer Bedeutung in politischen Entscheidungsprozessen sei die SPD-Bundestagsfraktion bislang nicht systematisch untersucht worden. Diese Fachtagung solle einen Beitrag zur Erforschung ihrer Geschichte leisten und Forschungen motivieren, die die Fraktion im Rahmen einer Politikgeschichte der Bundesrepublik und einer Geschichte der Sozialdemokratie berücksichtigen.

In der eröffnenden Keynote erläuterte UWE JUN (Trier) aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Entwicklung der SPD-Bundestagsfraktion seit ihrem Bestehen. Er konstatierte eine stets voranschreitende Professionalisierung ihrer Arbeit sowie Akademisierung und Feminisierung ihrer Mitglieder. Zudem habe sich innerfraktionell ein Verselbständigungsprozess gegenüber der außerparlamentarischen Parteiorganisation und ein stärkeres Selbstbewusstsein gegenüber der Fraktionsführung abgezeichnet. In Oppositionszeiten habe sich die SPD-Fraktion überwiegend als alternative Regierungspartei in Wartestellung profilieren wollen, als Regierungsfraktion habe sie sich als Akteur zwischen Gestaltungsmacht, loyalem Getriebenen und Impulsgeber begriffen.

BERND BRAUN (Heidelberg) stellte die Frage nach einem Elitenaustausch innerhalb der SPD-Reichstagsfraktion vom Kaiserreich bis zur Weimarer Nationalversammlung. Die Zusammensetzung der Reichstagsfraktion im Kaiserreich habe sich durch ein hohes Maß an Kontinuität ausgezeichnet, was die Etablierung politischen Nachwuchses erschwert habe. Die Reichstagswahl von 1907 und die Spaltung der SPD 1916/17 betrachtete Braun als Zäsuren, die politischen Neulingen hinsichtlich der Zusammensetzung der Fraktion zugutegekommen seien. Auch nach der Novemberrevolution und der Wahl zur Nationalversammlung konnten kurzfristig Neulinge in die Fraktion aufsteigen, doch der Schein eines Elitenaustausches habe getrogen, denn Schlüsselpositionen seien mit Politikern aus der Zeit des Kaiserreiches besetzt geblieben.

PAUL LUKAS HÄHNEL (Düsseldorf) referierte über die SPD-Fraktion im dynamischen und kooperativen Mehrebenensystem des Kaiserreiches. Die SPD habe in den nördlichen Gliedstaaten aufgrund restriktiver Wahlvorschriften und weniger Partizipationsmöglichkeiten in den Parlamenten eher einen radikalen Politikstil vertreten. In südlichen Gliedstaaten mit liberalem Wahlrecht hingegen wäre sie reformorientiert gewesen und habe dadurch parlamentarische Regelungen und demokratische Praktiken geübt, die sich auf das Interaktionsverhalten gegenüber anderen Parteien ausgewirkt hätten. Die SPD hätte damit dazu beigetragen, dass das Parlament Einfluss und Macht gegenüber den südstaatlichen Monarchen gewonnen habe. Wegen bzw. trotz ihrer fundamentalen Opposition zum Obrigkeitsstaat habe sie eine teilweise Modernisierung des politischen Systems erwirken können. Auf Reichsebene seien die Erfolge der SPD auf die Besonderheit zurückzuführen, dass der Nord-Süd-Gegensatz innerhalb der Partei nicht zu Machtkämpfen geführt habe, sondern es gelungen sei, die unterschiedlichen Politikansätze in ein Gleichgewicht zu bringen und ihnen mannigfaltige Handlungsräume zu gewähren.

Daraufhin erörterte BERND ROTHER (Berlin), welche Rolle das Parlament in den exilsozialdemokratischen Vorstellungen über eine Nachkriegsordnung einnahm. Die SPD habe sich auch während ihres Exils als Erbe der Weimarer Zeit begriffen und sich ungebrochen für eine parlamentarische Republik eingesetzt, jedoch nicht, ohne Änderungen vornehmen zu wollen. In der Debatte über ein mögliches neues Wahlrecht habe sich Erich Ollenhauer beispielsweise für ein Mehrheitswahlrecht ausgesprochen und Vorstellungen einer „wehrhaften Demokratie“ konkretisiert, in der früheren NationalsozialistInnen das aktive und passive Wahlrecht entzogen werden könne. Damit hätten die Vorstellungen der SOPADE denen der Hannoveraner Gruppe um Schumacher geähnelt, die allerdings ein Verhältniswahlrecht favorisierte. Innerhalb der linkssozialistischen Kleingruppen Neu Beginnen, SAP und ISK sei die Forderung nach einer parlamentarischen Demokratie hingegen auf Ablehnung gestoßen, die erst in den Debatten über eine Kooperation mit der SOPADE überwunden werden konnte.

KATRIN GROH (München) betrachtete das sozialdemokratische Wirken in der Weimarer Nationalversammlung und im Parlamentarischen Rat. Sie konstatierte aus einer verfassungsgeschichtlichen Sicht, dass die ersten Entwürfe einer Reichsverfassung keine sozialen Grundrechte, sondern vereinzelte liberale Freiheitsrechte enthalten hätten, für die sich auch Friedrich Ebert eingesetzt habe. Ungeachtet dessen seien soziale Grundrechte durch sozialdemokratische Vertreter in einem Unterausschuss für Grundrechte in die Verfassung hineinverhandelt worden. In der Forschung seien bis heute das Verhältnis von Versprechen und letztendlicher Praxis der sozialen Grundrechte und ihr Beitrag zum Scheitern der Republik umstritten. Diese These von nicht gehaltenen Grundrechtsversprechen allerdings sei im Prozess der bundesdeutschen Verfassungsgebung überbetont worden, um soziale Grundrechte zu verhindern. Die sozialdemokratischen Experten von Herrenchiemsee und aus dem Parlamentarischen Rat seien im Sinne einer Anpassungspolitik an bürgerlich-demokratische Verfassungsvorstellungen einhellig für den Verzicht auf soziale Grundrechte eingetreten.

Das nachfolgende Panel eröffnete MARION REISER (Jena) mit einem Vortrag über Rekrutierung und Sozialprofil der SPD-Bundestagsabgeordneten. Aus der Perspektive einer politischen Soziologie kritisierte sie die bis heute anhaltende Unterrepräsentation von ArbeiterInnen, Menschen mit Migrationshintergrund und Frauen. Innerhalb der Fraktion machte sie einen starken Akademisierungstrend zu Lasten von FacharbeiterInnen aus, der eine Angleichung an die Sozialprofile der anderen Bundestagfraktionen bedeute und auf Professionalisierungstendenzen zurückzuführen sei. Auch bei der Auswahl von BewerberInnen für den Bundestag sah Reiser eine deutliche soziale Schieflage und strukturelle Vorteile für Angestellte im politiknahen Bereich, bedingt durch seit den 1960er-Jahren kaum veränderte innerparteiliche Auswahlkriterien.

SIEGFRIED WEICHLEIN (Freiburg/Schweiz) betrachtete die Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion im bundesrepublikanischen Mehrebenensystem und konstatierte eine Aufwertung der Arbeit der SPD-Fraktionen und -Länderregierungen. Durch die bundesstaatliche Ordnung sei den Parteimitgliedern signalisiert worden, dass man auch während Oppositionszeiten im Bund politisch gestalten könne – durch Regierungsarbeit in den Ländern und durch Mitwirkung an der Gesetzgebung im Bundesrat. Nach der Wahl Brandts zum Bundeskanzler habe die Opposition angekündigt, den Bundesrat zur Oppositionsarbeit zu nutzen. Dem sei die SPD-Fraktion mit der Unterscheidung in zustimmungspflichtige und nicht zustimmungspflichtige Gesetze sowie der Einrichtung einer Bund-Länder-Koordinierungsstelle zur Abstimmung und Information mit den Länderregierungen und -fraktionen begegnet. Insgesamt habe allerdings der Politisierungsschub des Bundesrates nicht zu einer umfänglichen Ablehnung von Gesetzen, sondern zu einem Verhandlungsmarathon geführt.

Panel III eröffnete SVEN JÜNGERKES (Berlin) mit einem Vortrag zur Kommunikationskultur der SPD-Bundestagsfraktion und zum Widerspruch zwischen freiem Mandat und Fraktionsdisziplin, der in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik noch nicht deutlich zu Tage getreten sei. Mit dem Eintritt in die Große Koalition 1966 sei das Konfliktpotential innerhalb der Fraktion zwar gestiegen, doch der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt habe den Abgeordneten nach wie vor vergleichsweise viel Handlungsspielraum eingeräumt. Die Intensität der Konflikte sei mit den knappen Mehrheitsverhältnissen 1969 in der sozial-liberalen Koalition jedoch weiter gestiegen. Der neue Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner habe die Fraktion mit Autorität geführt und Disziplin eingefordert. Gleichwohl sei aber die Autonomie der Fraktion gegenüber der Regierung betont worden. Zwischen 1972 und 1976 habe die Diskussions- und Bekenntnislust mit der Wahl Abgeordneter des linken Flügels deutlich zugenommen.

Auch CLAUDIA CHRISTIANE GATZKA (Freiburg i. Br.) untersuchte Kommunikationsprozesse, wobei sie sich auf die Wahlkreisarbeit im urbanen Wahlkampf konzentrierte. Die sozialdemokratischen Versammlungswahlkämpfe in den 1950er-Jahren hätten ein einfaches Sender-Empfänger-Modell verfolgt, bei denen auf die Akzentuierung persönlicher Attribute der Kandidierenden zugunsten des Wahlprogrammes verzichtet worden sei. Die Erkenntnis, die Ansprechbarkeit und Nützlichkeit für lokale Belange stünden im Vordergrund der Wahlentscheidung, hätte in den 1960er-Jahren zur kommunikativen Neuerfindung der WahlkreiskandidatInnen geführt: Statt als Verkörperung eines Wahlprogrammes hätten sie sich als Träger politischer Legitimität verstanden, die sie in den Wahlkreisen erhielten. Seit dem Bundestagswahlkampf 1969 seien die Beziehungen zwischen dem politischen Zentrum und der Peripherie nochmals intensiviert worden. Sachthemen der Stadtteile, der Kommunal- und Bundesebene hätten Einzug in die politische Kommunikation im Wahlkreis gefunden und sich mit einer Diskussionsmanie verbunden, die durch die APO in den urbanen Wahlkampf hineingetragen worden sei.

Panel IV wurde von DANNY SCHINDLER (Berlin) eröffnet, der die Formalisierung politischer Führung in den Statuten der Bundestagsfraktion untersuchte. Hinsichtlich der Fraktionsgeschäftsordnung und ihres Umfangs attestierte Schindler eine weitgehende Kontinuität, denn durch Pfadabhängigkeiten seien grundlegende Regelungen bis heute erhalten geblieben. Zugleich sei es zu einem Formalisierungstrend gekommen, der anhand verschiedener Hierarchisierungs- und Spezialisierungsentwicklungen nachvollzogen werden könne. Bezüglich der Führungsstrukturregeln charakterisierte Schindler die Etablierung des Geschäftsführenden Vorstandes 1975 als bedeutend, da er besser zur Entscheidungsvorbereitung geeignet gewesen sei als der Gesamtvorstand. Das Ordnungsprinzip der Hierarchie innerhalb der Fraktion, das durch solche Kompetenzverschiebungen zum Ausdruck gebracht worden sei, habe letztlich eine zentrale Bedingung für die Leistungsfähigkeit der Bundestagsfraktion dargestellt.

CHRISTOPH MEYER (Dresden) nahm den Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner in den Blick und kritisierte den Mythos eines harten, disziplinierten und cholerischen Zuchtmeisters als zu einseitig; Wehner sei zugleich herzlich, empfindsam und solidarisch gewesen. Dieser Mythos hänge zusammen mit seinen (parlamentarischen) Temperamentsausbrüchen, die Meyer mit Wehners Diabetes-Erkrankung, seiner Herkunft sowie zahlreichen Verletzungen in seiner politischen Karriere erklärte. Insbesondere mit Blick auf seine autoritäre Prägung sei Wehner nicht aus seiner Haut gekommen, obgleich er zeitlebens das Autoritäre politisch habe überwinden wollen. Mit Blick auf die Fraktion betonte Meyer deshalb, Wehner habe sie nicht autoritär, sondern mit Autorität geleitet. Abschließend verwies Meyer darauf, die lange Dauer seiner Amtszeit eigne sich bereits, die „Ära Wehner“ als Messlatte zu begreifen – doch entscheidender für diese Charakterisierung sei die große politische und öffentliche Wirksamkeit Wehners.

STEPHAN BRÖCHLER (Berlin) referierte über Probleme und Chancen eines Fraktionswechsels. Aus Sicht der verlassenen Fraktionen handele es sich bei ParlamentarierInnen, die wegen des verfassungswidrigen Fraktionszwanges die Fraktion wechseln, um ärgerliche Störfaktoren, die bei knappen Mehrheiten machtpolitische Konsequenzen mit sich bringen könnten und Vertrauensbrüche bedeuten würden. Doch seien diese Analysen kaum hinreichend geeignet, um die Komplexität des Fraktionswechsels zu erfassen. Vernachlässigt würde die Einbettung der ParlamentarierInnen in ihrer Partei vor Ort. Zudem hätten neben moralischen Wertekonflikten auch Wissens- und Verteilungskonflikte eine große Rolle gespielt. Die Berücksichtigung derartiger Kategorien könne Chancen für ein modifiziertes Politikmanagement eröffnen.

Über die Rolle von Frauen in der SPD-Bundestagsfraktion berichtete HEIKE SPECHT (Zürich). Frauen hätten in den ersten Jahrzehnten sowohl in der SPD-Fraktion als auch im Parlament eine kleine Minderheit dargestellt. Die erste Generation Parlamentarierinnen habe häufigen Kontakt zu ihren männlichen Kollegen vermieden und frauenpolitische Interessen der Parteipolitik untergeordnet. Außerdem seien sie häufig als „Alibifrauen“ wahrgenommen worden und hätten im Parlament Diskriminierung und Häme erfahren. Erst mit der Studenten- und Frauenbewegung sei eine neue Generation Frauen und mit ihr neue Themen sowie ein verändertes Rollenverständnis in Fraktion und Parlament eingezogen. In den Jahren der Opposition zur Kohl-Regierung habe die SPD ihr Image als Volkspartei stärken wollen und deshalb vermehrt auf Gleichstellungs-Themen gesetzt. Insbesondere mit der Einführung der Frauenquote auf dem SPD-Parteitag in Münster 1988 sei der Anteil an Parlamentarierinnen gestiegen, auch in Führungspositionen.

Panel V eröffnete FRIEDHELM BOLL (Bonn) mit Thesen zur „konstruktiven Opposition“ der SPD-Bundestagsfraktion 1949–1957. Die SPD-Fraktion habe mehr Erfolge erringen können als von der bisherigen Forschung angenommen und damit stark am Aufbau des Parlamentarismus der jungen Bundesrepublik mitgewirkt. Der Wille zur „konstruktiven Opposition“ sei in innenpolitischen Fragen besonders, in außen- und sicherheitspolitischen Fragen weniger ausgeprägt gewesen. Ohne die SPD wären wegweisende innenpolitische Gesetze der beiden ersten Legislaturperioden nicht (in dieser Form) zustande gekommen. Anhand von zentralen innenpolitischen Gesetzen analysierte Boll die Mittel der SPD-Fraktion, um ihre Positionen durchzusetzen, und verwies u.a. am Beispiel Adolf Arndts und der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichtes auf die zeitlichen und argumentativen Vorteile gegenüber der Regierung und das Besetzen der Meinungsführerschaft.

KRISTINA MEYER (Berlin) setzte sich mit dem Umgang der SPD mit der NS-Vergangenheit auseinander. Sie widerlegte die These, die hohe Anzahl von Widerstandsbiografien innerhalb der Fraktion habe zu einer besonders kritischen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geführt. Zwar hätten die Fraktions- und die Parteiführung versucht, eine Balance zwischen Aufarbeitung und Zugeständnissen an das Entlastungsbedürfnis der Mehrheit der Gesellschaft zu finden, insgesamt jedoch auf eine Politik verzichtet, die zu einer Debatte über gesellschaftliche Schuld hätte führen können. Moralische sowie privat-biografische Beweggründe seien zugunsten eines an Mehrheiten und Konsens gebundenen Pragmatismus in den Hintergrund getreten, mit dem Ziel, politisch erfolgreich zu sein. Erst seit 1982 habe sich die SPD-Fraktion verstärkt in den Diskurs über die NS-Vergangenheit eingebracht.

Anschließend betrachtete JÜRGEN MITTAG (Köln) die Europapolitik der SPD-Bundestagsfraktion 1949–2005. In der SPD-Fraktion habe es nie einheitliche Europavorstellungen gegeben. Wie europafreundlich die Ausrichtung der Partei jeweils gewesen ist, habe davon abgehangen, ob sie sich in der Opposition oder in der Regierung befand. Ende der 1950er-Jahre habe die Fraktion beispielsweise zentrale Impulse in den europapolitischen Diskurs eingebracht. Doch in Zeiten der Regierung sei die Fraktion durch unterschiedliche Prioritäten und schwierige Aushandlungsprozesse zwischen den Ministerien gebremst worden und unter Brandt zum europapolitischen Erfüllungsgehilfen seiner Regierung avanciert, ähnlich auch unter Schmidt. In der anschließenden Oppositionszeit sei die Fraktion eine loyale Oppositionspartei gewesen und habe eine konstruktive, aber nicht fundamentale Europakritik formuliert. Zwischen 1998 und 2005 habe es die Fraktion geschafft, sich als Europafraktion zu profilieren und stärker als die Regierung eine Neuausrichtung der EU gefordert.

JAN HANSEN (Berlin) referierte über die SPD-Fraktion und den NATO-Doppelbeschluss. Er argumentierte, die SPD-Fraktion sei kein ergiebiger Untersuchungsgegenstand, wenn man die Debatten über den NATO-Doppelbeschluss nachvollziehen möchte, denn die große Mehrheit der Fraktion habe es als ihre Aufgabe begriffen, Schmidts politischen Kurs zu stützen. Diese regierungsloyale Haltung erklärte Hansen mit dem Fehlen der zentralen Figuren der Umwelt- und Friedensbewegung der Partei, Erhard Eppler und Oskar Lafontaine, im Bundestag. Gleichwohl seien die Jahre 1980–1983 für die SPD-Fraktion ein Zeitabschnitt, in dem sich ihre Arbeit inhaltlich, organisatorisch und kommunikativ stark gewandelt habe. Zum einen habe die Fraktion einen zentralen Diskussionsrahmen für sicherheitspolitische Alternativkonzepte dargestellt. Zum anderen hätten sich mit Blick auf die Organisation informelle Gruppierungen stärker herausgebildet. Ferner seien insbesondere im Wahlkampf 1983 von jungen ParlamentarierInnen und KandidatInnen neue Kommunikationsformen genutzt worden.

MARC BUGGELN (Berlin) betrachtete das Policy-Feld der Finanzpolitik. Im Bundestagswahlkampf 1949 habe die Steuerpolitik noch keine Rolle in den Überlegungen der SPD gespielt. Die SPD-Finanzpolitiker im ersten Deutschen Bundestag hätten insgesamt eine kooperative, aber nicht öffentlichkeitswirksame Oppositionspolitik betrieben. Durch die Wahlniederlage von 1957 angestoßene Strategien für eine öffentlichkeitswirksamere Darstellung sozialdemokratischer Konzepte in der Finanz- und Steuerpolitik hätten gleichfalls nur bedingt umgesetzt werden können. Dies habe sich erst geändert, als Alex Möller zu Beginn der 1960er-Jahre Brandts Wahlkampf-Teams unterstützte, zum zentralen SPD-Sprecher in diesen Fragen aufstieg und sozialdemokratischer Finanz- und Steuerpolitik Kontur verlieh. Sie zielte vor allem auf öffentliche Investitionen zur Steigerung der Produktivität als Grundlage für Wohlstand ab, aber auch Mittelstand und Selbständige sollten gegenüber Großunternehmen entlastet werden. Buggeln interpretiert dies als Versuch, breitere Schichten für einen möglichen Wahlsieg anzusprechen, was 1969 schließlich gelang.

NIKOLAS DÖRR (Bremen) referierte über die Veränderungen der sozialpolitischen Leitbilder seit der Wiedervereinigung. Die Zustimmung der moderaten Linken innerhalb der SPD zu Gerhard Schröders Agenda-Plänen sei zurückzuführen auf die mangelnden innerparteilichen Alternativen zum stark in Frage gestellten fürsorgenden Wohlfahrtsstaat. Daher dürfe es nicht verwundern, dass für die Formulierung der rot-grünen Agenda-Politik ein internationaler Programmtransfer mit Tony Blairs New Labour und Bill Clintons New Democrats maßgeblich gewesen sei. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie sei der innerparteiliche Diskurs über den sozialpolitischen Wandel allerdings in Großbritannien und in den USA schon länger geführt worden, und zwar vor der Übernahme der Regierungsgeschäfte. In der SPD sei dies nicht der Fall gewesen, weshalb es ihr nicht gelungen sei, die Mehrheit der Partei und der nahestehenden Gewerkschaften zu überzeugen.

FELIX LIEB (München) widmete sich der umweltpolitischen Arbeit der SPD-Fraktion und wandte sich gegen die These, die 1980er-Jahre seien für die Sozialdemokratie nach dem Ende ihrer Regierungszeit und mit dem Aufkommen der Grünen ein reines Jahrzehnt des Verlusts gewesen. Tatsächlich habe es in den Jahren der Opposition zahlreiche, bisweilen erfolgreiche Versuche gegeben, Umweltschutz in der SPD-Programmatik zu verankern und konkrete Konzepte zu formulieren, Umwelt und Arbeit zusammenzudenken. Dabei hätten Fraktion und Parteivorstand eng zusammengearbeitet, und ersterer sei es gelungen, wichtige Akzentuierungen vorzunehmen. Schlüsselbegriffe wie „qualitatives Wachstum“ und das Leitbild der „ökologischen Modernisierung“ zielten auf die Auflösung des Gegensatzes zwischen Umweltschutz und Wachstum.

Die Fachtagung zeigte insgesamt das enorme Potenzial einer interdisziplinären Erforschung der Geschichte und Arbeit von Parlamentsfraktionen. Die multiperspektivisch angelegten Panels ermöglichten sowohl politik- und organisationsgeschichtliche als auch kultur- und mediengeschichtliche Zugänge, welche die politisch bedeutsame Geschichte der SPD-Bundestagfraktion als Akteur der Geschichte der Bundesrepublik und der Sozialdemokratie verdeutlichten. Aus der Tagung soll ein Sammelband hervorgehen, der weiterführende Forschungen motivieren soll.

Konferenzübersicht:

Keynote

Uwe Jun (Trier): Die SPD-Fraktion im Bundestag zwischen kompetitiver Opposition und loyaler Regierungskooperation. Einige politikwissenschaftliche Überlegungen zur historischen Entwicklung

Panel I: Geschichte der SPD-Fraktion vor der Gründung der Bundesrepublik

Bernd Braun (Heidelberg): „Elitenaustausch“ oder Kontinuität? Die SPD-Reichstagsfraktion vom Kaiserreich zur Nationalversammlung

Paul Lukas Hähnel (Düsseldorf): Die SPD-Fraktion im Mehrebenensystem des Kaiserreichs

Bernd Rother (Berlin): Das Parlament in den Vorstellungen der Exil-Sozialdemokratie über die Nachkriegsordnung

Kathrin Groh (München): Die SPD in der Weimarer Nationalversammlung und im Parlamentarischen Rat. Sozialstaat und soziale Grundrechte in zwei deutschen Verfassungen

Panel II: Ein komplexes Gebilde: Arbeitsweisen, Orte, Entscheidungsfindung

Marion Reiser (Jena) Rekrutierung und Sozialprofil der SPD-Abgeordneten im Wandel

Siegfried Weichlein (Freiburg/Schweiz): Fraktionsarbeit im Mehrebenensystem: Das Beispiel der SPD

Panel III: Politische Kommunikation

Sven Jüngerkes (Berlin): Krisen, Konflikte, Kungeleien. Zu Kommunikationskultur in der SPD-Bundestagsfraktion

Claudia Christiane Gatzka (Berlin): Politische Kommunikation in der Bonner Republik. Wahlkreisarbeit und urbaner Wahlkampf

Panel IV: Gesichter der Fraktion: Personen, Akteure, Rollen

Danny Schindler (Berlin): Fraktionsgeschäftsordnung versus Fraktionswirklichkeit? Führungsstrukturen und die Rolle der Fraktionsvorsitzenden in den Statuten der SPD-Bundestagsfraktion 1949 bis 2019

Christoph Meyer (Dresden): Die Ära Wehner. Messlatte und Mythos

Stephan Bröchler (Berlin): Nur dem Gewissen unterworfen? Fraktionswechsler der SPD-Bundestagsfraktion als Problem und Chance

Heike Specht (Zürich): „Die Hälfte des Parlaments gehört uns.“ Von der „Alibi-Frau“ zur Parität. Die Frauen in der SPD-Fraktion 1949 bis heute

Panel V: SPD-Fraktion und einzelne Policy-Felder I

Friedhelm Boll (Bonn): „Konstruktive Opposition“. Erfolge und Misserfolge der SPD-Bundestagsfraktion auf dem Weg zur Regierungsbeteiligung 1949 bis 1966

Kristina Meyer (Berlin): Die SPD-Fraktion und die NS-Vergangenheit 1949 bis 1990

Jürgen Mittag (Köln): „Europa [ist] keine Sonntags-, sondern eine schwierige Alltagsangelegenheit“. Das Ringen der SPD-Bundestagfraktion um europapolitische Positionen

Jan Hansen (Berlin): Die SPD-Fraktion und der NATO-Doppelbeschluss

Panel VI: SPD-Fraktion und einzelne Policy-Felder II

Marc Buggeln (Berlin): Die SPD-Bundestagsfraktion und die bundesrepublikanische Steuerpolitik 1949 bis 1989

Nikolas Dörr (Bremen): „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft“. Die Veränderung des sozialpolitischen Leitbilds und die SPD-Bundestagsfraktion seit der deutschen Wiedervereinigung

Felix Lieb (München): Buschhaus, Tschernobyl und die „ökologische Modernisierung“. Die umweltpolitische Arbeit der SPD-Fraktion in den 1980er-Jahren


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