Ein großer Wurf? 100 Jahre Groß-Berlin. Metropolen, Akteure und Wirkungen in vergleichender Perspektive

Ein großer Wurf? 100 Jahre Groß-Berlin. Metropolen, Akteure und Wirkungen in vergleichender Perspektive

Organisatoren
Historische Kommission zu Berlin e. V.
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2020 - 30.10.2020
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Von
Daniel Benedikt Stienen, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

„Berlin – Biografie einer großen Stadt“ lautet der Titel eines erfolgreichen Sachbuchs aus dem vergangenen Jahr.1 Doch was bedeutet es für eine Stadt, groß zu sein? Und was, groß zu werden? Diesen Fragen ging die 9. wissenschaftliche Tagung der HiKo_21, des Nachwuchsnetzwerkes der Historischen Kommission zu Berlin, nach. Unter dem Titel: „Ein großer Wurf?“ fragte die Tagung anlässlich des 100. Jubiläums des „Groß-Berlin-Gesetzes“ von 1920 nach dem Stellenwert der kurz nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Eingemeindung in dem jahrzehntewährenden Prozess urbanen Wachstums und Wandels.

Der Weg bis zu der folgenreichen Entscheidung des Jahres 1920 war ein langer und steiniger. Als 1907 der Begriff „Groß-Berlin“ aus der Taufe gehoben wurde, verbarg sich dahinter noch nicht die Idee, an der Spree eine homogene Stadtgemeinde groß werden zu lassen. Mit dem „Zweckverband Groß-Berlin“ war zu diesem Zeitpunkt noch keine Eingemeindung des Umlandes gemeint, wie sie 1920 Wirklichkeit werden sollte, sondern eine weitläufige, interkommunale Gemeinschaft, die kaum an den überkommenen lokalen Autonomien zu rütteln vermochte. Der Zweckverband trat 1911/12 ins Leben, war aber von Beginn an nahezu einflusslos, ehe er 1920 bei der Metropolisierung Berlins aufgelöst wurde. LENNART BOHNENKAMP (Braunschweig) ging der Frage nach, warum die politische Entscheidung des Jahres 1911/12 noch nicht für die weiträumige Eingemeindung fiel, sondern auf den Zweckverband. Seiner Ansicht nach ist die Antwort in dem dynamischen Entscheidungsfindungsprozess des preußischen Abgeordnetenhauses und den ihm zugrundeliegenden Mehrheitsverhältnissen zu suchen. Ältere Lehrmeinungen erblickten den spiritus rector der Zweckverbands-Lösung noch in der preußisch-deutschen Zentralregierung, die eine großflächige Eingemeindung vermieden, da diese eine Verbreiterung der urbanen sozialdemokratischen Machtbasis bedeutet hätte. Bohnenkamp führt dagegen die Initiative auf die Reihe der Parlamentsabgeordneten zurück. Es war der freikonservative „Antrag Zedlitz“, der die Idee des Zweckverbandes auf den Tisch brachte und die grundlegenden Ziele der kommunalen Neugliederung in eine Richtung hin ausformulierte, der die Parlamentsmehrheit folgen konnte. Die Entscheidung für den Zweckverband ist demzufolge nicht als ein obrigkeitlicher Verhinderungsentscheid anzusehen, sondern als „Ergebnis einer gemäßigt konservativen Reformpolitik“ im Rahmen des parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesses.

Mit Adolf Wermuth, von 1912 bis 1920 Oberbürgermeister Berlins, rückte ANDREAS SPLANEMANN (Berlin) einen der wichtigsten Akteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die kaum zehn Jahre nach dem Zweckverband bei den Eingemeindungen des Jahres 1920 Pate standen. Auch wenn Wermuth seiner politischen Funktion nach in der Mitte der kommunalen Restrukturierungsmaßnahmen stand, will ihn Splanemann nicht als den visionären „Metropolengründer“ und „Erfinder von Groß-Berlin“ verstanden wissen, als der er noch heute gilt, sondern als jemanden, der an seinem Unvermögen scheiterte, politische Allianzen zu schmieden. Tatsächlich stand der Beginn von Wermuths Amtszeit zunächst unter einem guten Stern: Ins Amt gehoben wurde er 1912 von Berliner Honoratioren, die sich von ihm eine Verbesserung des Verhältnisses der Stadt zum Gesamtstaat erhofften. Doch schnell rückten diese Hoffnungen ins Abseits, als sich das als gelöst geglaubte Problem der Gemeindestruktur erneut in den Vordergrund drängte: Wesentliche Schwierigkeiten vermochte der Zweckverband nicht zu bewältigen, soziale Frage und Wohnungsnot blieben akut. Wermuth gereichte es zum Nachteil, dass er als Befürworter einer zentralistisch organisierten Einheitsgemeinde einerseits seine einstigen Gönner verprellte und es ihm andererseits nicht gelang, im Lager der Sozialdemokraten neue Unterstützer zu gewinnen. Am Ende stand Wermuth ohne Unterstützer da und musste zurücktreten.

Mit dem „Ermöglicher“ Gustav Böß widmete sich THOMAS FLEMMING (Berlin) dem Nachfolger Adolf Wermuths im Amt des Oberbürgermeisters. Der 1921 von einer Mehrheit aus bürgerlichen Parteien und MSPD ins Amt gewählte Böß erwies sich als der richtige Mann, um die verschiedenen Teile der frisch vereinigten Vier-Millionen-Gemeinde zu integrieren und die drängenden Probleme der Zeit anzupacken. Als Oberbürgermeister konzentrierte er sich auf mehrere Fachbereiche gleichzeitig, wobei ihm der Aufbau einer effektiven Verwaltung der wichtigste war, bei dem er aber zugleich weitestgehend scheiterte. (Dass das Spannungsverhältnis von Zentral- und Bezirksverwaltung ein Wesensmerkmal der Berliner Behördenstruktur darstellte, war ein Thema, das an verschiedenen Stellen der Tagung aufschien.) Eine weitere Herzensangelegenheit war Böß der Wohnungsbau; doch blieb trotz wegweisender Siedlungsprojekte der hohe Fehlbedarf an Wohnraum bestehen. In der Verkehrsplanung trieb der zuständige Stadtrat Ernst Reuter mit Böß’ Rückendeckung den Ausbau des U-Bahnnetzes, die Vereinheitlichung des öffentlichen Nahverkehrs und den Bau des Flughafens Tempelhof voran. Weitere Aufmerksamkeit galt der Wirtschaftsförderung (Messewesen, Fremdenverkehr) und dem Ausbau kommunaler Eigenbetriebe. Ein Korruptionsskandal ließ Böß’ Karriere 1929 abrupt enden. Über seine Amtszeit lässt sich eine gemischte Bilanz ziehen: Erfolge in der Verkehrspolitik und bei der Neuausrichtung der kommunalen Unternehmen stehen den unzureichenden Umstrukturierungen der Verwaltung gegenüber.

Doch was wäre eine Großstadt als bloße Verwaltungseinheit und ohne ihre Menschen? Das Bevölkerungswachstum und der Ausbau der Wohninfrastruktur waren zwei eng aufeinander bezogene, zueinander in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis stehende Transformationsprozesse. Je größer die Ballungsräume wurden und je schneller sie wuchsen, umso größer wurde der Handlungsdruck auf öffentliche und private Akteure, der Wohnungsnot durch Wohnungsbau Abhilfe zu schaffen. Städteplanerisch und architektonisch waren die 1920er-Jahre ein Jahrzehnt, in dem nicht bloß Wohnraum, sondern Lebensraum geschaffen werden sollte. In den Planungen wurden nicht nur Visionen des Bauens, sondern zugleich des sozialen Miteinanders verhandelt. In diesem Kontext widmete sich RENATE AMANN (Berlin) dem genossenschaftlichen Wohnungsbau. Zwischen Eigentum und Miete bildeten Wohnungsgenossenschaften den „dritten Weg“. Die Siedlungen, die die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften errichteten, waren innen wie außen von funktionaler Struktur, angepasst an die Bedürfnisse der mehrheitlich der Arbeiterschaft angehörenden Bewohner. Die Sozialtopographie Berlins spiegelte sich gleichwohl in den Genossenschaften wider: Vom Norden bis zum Südosten dominierten die Arbeitersiedlungen, während in den privilegierten Villenvierteln im Südwesten lediglich die staatstreuen Beamtenwohnungsvereine geduldet wurden.

An das Problemfeld von städtebaulicher Konzeption und sozialer Neuordnung knüpfte HENNING HOLSTEN (Berlin) an, indem er sich auf den Architekten Martin Wagner konzentrierte, der zahlreiche Pionierprojekte des sozialen Wohnungsbaus verantwortete, wie etwa die Siedlung Lindenhof in Schöneberg oder die Britzer Hufeisensiedlung. Doch war Wagner nicht nur in seinen Bauten sozialpolitisch engagiert: Spätestens seit der November-Revolution war er mit der Arbeiterbewegung verbunden. Als es beim Bau des Lindenhofs zu Arbeitsniederlegungen kam, solidarisierte sich Wagner mit den Streikenden. 1919 gründete er mit gewerkschaftlicher Unterstützung die erste Berliner „Bauhütte“ als sozialen Baubetrieb. 1924 folgte mit der GEHAG eine soziale Bauherrenorganisation zur Vernetzung der gemeinwirtschaftlichen Akteure. Als Stadtbaurat gab Wagner sich das Leitbild eines „Städtebau-Dirigenten“, der das Gewirr aus kommunalen Instanzenzügen und wirtschaftlicher Akteure zum Wohle des Wohnungsbaus ordnete. Gleichwohl gelang es ihm nicht, alle seine Pläne zu verwirklichen.

Mit dem rasanten Städtewachstum gingen nicht nur administrative und technische, sondern auch soziale und hygienische Probleme einher. Die Wohnungsnot war nicht das einzige sozialpolitische Handlungsfeld, das der Steuerung bedurfte, und für das sich die Bewohner der Stadt Linderung erhofften. Mit dem Raum Berlins als sozialem Biotop befasste sich OLIVER GAIDA (Berlin), der die urbane Jugend ins Blickfeld nahm. Für die Jugend Berlins war die Stadt der 1920er-Jahre gleichermaßen Segen und Fluch: Auf der einen Seite lockte sie mit einer unübertroffenen Bandbreite an Konsum- und Freizeitangeboten, es bildeten sich Jugendcliquen, die eigene, parallele Räume eröffneten. Auf der anderen Seite gab es in der Großstadt Berlin wie nirgends sonst soziale Not und Erwerbslosigkeit. In der Stadtpolitik dominierte das Themenfeld der Jugendpolitik wie kein zweites; in keinen Politikbereich floss so viel Geld wie in den Bereich „Soziales und Jugend“. Jugendämter – die Gründung des ersten datierte noch auf den Ersten Weltkrieg – avancierten zu Schlüsseleinrichtungen der Krisenbewältigung. Eine breite Reformbewegung war angetreten, den paternalistischen Autoritarismus des Wilhelminismus zu beseitigen und neue Räume und facettenreiche Angebote für die Jugend zu entwickeln. Säuglings-, Kleinkind- und Familienfürsorge sind darunter zu zählen, Jugendberatung und Prävention, Werkheime und Wohlfahrtsschulen. Der Anspruch, eine Vereinheitlichung der stadtweiten Jugendpflege durchzusetzen, konnte als Folge der bezirklichen Teilautonomien indes nicht eingelöst werden.

Doch waren die Weimarer Jahre nicht nur vom Wachsen der staatlichen Infrastruktur geprägt, sondern auch von dem der kirchlichen, genauer: der katholischen. In den hundert Jahren vor dem Groß-Berlin-Gesetz war die römisch-katholische Population der Hauptstadt rasant angewachsen: 1816 lebten hier rund 7.300 Katholiken, 1858 bereits die dreifache Menge, und um 1900 besaß Berlin nach München und Köln die drittgrößte katholische Gemeinde im Deutschen Reich; ein Zehntel der Stadtbevölkerung bekannte sich zum katholischen Glauben. Wie KONSTANTIN MANTHEY (Berlin) zeigte, bedeuteten die 1920er-Jahre eine Dynamik des katholischen Lebens der Stadt, für die das Preußenkonkordat von 1929 und die Errichtung des Erzbistums Berlin im Folgejahr lediglich die sichtbarsten Zeichen waren. Mindestens ebenso bedeutsam war auf emotionaler Ebene die religiöse Euphorie, die sich in Massenversammlungen und einem Zulauf zur katholischen Vereinsbewegung Bahn brachen. Auf administrativer Ebene war der rasante, bis heute sichtbare Gemeindeaufbau maßgebend, der im Bunningplan gewissenhaft entworfen und bis in die 1950er-Jahre akribisch umgesetzt wurde.

Berlins Groß-Werdung im Jahr 1920 fiel in die unmittelbare Nachkriegszeit, eine Phase tiefgreifender politischer und ökonomischer Depression in Deutschland und seiner Hauptstadt. Der vergleichende Blick, dem auf der Tagung viel Platz eingeräumt wurde, zeigt indes, dass sich der Vorgang der Metropolisierung zumeist unter anderen Rahmenbedingungen abspielte. Andernorts waren an die Gebietsagglomeration Erwartungen repräsentativer Weltgeltung von Stadt und der ihr zugehörigen Nation geknüpft. Die Großstädte dienten als Symbole für das Vertrauen in die politische und soziale Zukunft. Um die Statuserhöhung weithin sichtbar zu machen, spielten neben der Flächenvergrößerung aufwendige Monumentalbauten eine zentrale Rolle, die in ihrer Gestaltung Modernität und Rationalität gleichermaßen demonstrierten. RICHARD NEMEC (Bern) widmete sich dem Beispiel Prags, das 1922 als Hauptstadt der jungen Tschechoslowakischen Republik umfangreiche Eingemeindungen erfuhr („Groß-Prag“). Im Stil des tschechoslowakischen Funktionalismus entstanden z.B. Pläne für eine neue Nationalgalerie, und auch andernorts wurde die „Romantik des Reißbretts“ greifbar, wie Thomas Etzemüller es einmal in anderem Zusammenhang bezeichnet hatte. Nicht allen Plänen der Zeit war die Umsetzung vergönnt, sie bildeten aber wichtige Weichenstellungen für die Zukunft.

Eingemeindungsentscheidungen mussten nicht notwendigerweise Ergebnisse langwieriger politisch-administrativer Aushandlungsprozesse sein und mit dem erklärten Ziel des kommunalen Reputationsgewinns zusammenfallen. Dass das System des Nationalsozialismus gestattete, solche Entscheidungen auch handstreichartig und zur persönlichen Profilierung zu fällen, zeigte ORTWIN PELC (Hamburg) am Beispiel des Groß-Hamburg-Gesetzes von 1938. Pläne für eine Erweiterung der Stadt existierten in unterschiedlichen Konstellationen bereits seit 1910. Sie waren aber mehrfach verzögert und 1933 von dem neuen Ersten Bürgermeister Krogmann endgültig zu den Akten gelegt worden. Damit geriet er aber in Konflikt mit dem Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann, der aus Gründen des individuellen Machtausbaus großes Interesse an einem Groß-Hamburg zeigte. Kaufmann setzte Krogmann 1936 als Leiter der Landesregierung ab und brachte mit der Rückendeckung Hermann Görings binnen zehn Wochen das Eingemeindungsgesetz auf den Weg – die Eingliederung eines Jagdgebiets zur persönlichen Nutzung inklusive.

Dass der Beginn der „Hochmoderne“ (Ulrich Herbert) neue Formen des Expertenwissens und der Wissenszirkulation hervorbrachte, zeigten verschiedene Beiträge. Es waren nicht mehr die magistratseigenen Entscheidungsträger, etwa Baudezernenten, auf die bei der Planung moderner Großstädte zurückgegriffen wurde, sondern externe Experten. International ausgeschriebene Planungswettbewerbe, Fachausstellungen und transnationale Besichtigungsreisen etablierten sich als die Medien schlechthin für den Ideenaustausch bei städtebaulichen Großprojekten. Schon die planerische Ausgestaltung des Berliner Zweckverbands von 1911/12 hatte über den Weg des Wettbewerbs geführt. Darin folgten die Initiatoren, Berliner Städteplaner, ganz gezielt den Vorbildern München 1891 und Wien 1892. Die zahlreichen in den Jahren 1908/09 für den Wettbewerb eingereichten Beiträge variierten in ihren Raumentwürfen teils erheblich, wie MARKUS TUBBESING (Potsdam) zeigte: Mal konzentrierten sie sich auf die Gestaltung des Stadtzentrums, mal auf Wohngebiete, mal auf Grün- und Erholungsanlagen. Die Jury überzeugen konnte schließlich u.a. ein Entwurf Hermann Jansens, der Zentrum, Wohnviertel und Vororte sowohl städtebaulich als auch architektonisch zusammendachte. Doch auch wenn dieses vor dem Weltkrieg erprobte Zusammendenken von Stadt und Umland nach der politischen Zäsur von 1918/20 schnell in Vergessenheit geriet, so war es, so Tubbesing, in seinen bauplanerischen, architektonischen, verkehrstechnischen und gesundheitlichen Grundgedanken Auftakt für ein Erfolgsprojekt.

Die internationale Dimension großstädtischer Gebietsreformen um 1900 wurde von COSIMA GÖTZ (Tübingen) unterstrichen: Wien, Prag, New York, Ankara, Tokyo, Madrid, London und Montevideo sind nur einige Beispiele großflächig angelegter kommunaler Umstrukturierungen, die sich nicht selten des Städtebauwettbewerbs als Inspirationsquelle bedienten. In schier erschlagender Fülle wurde Raum- und Bevölkerungswissen in Karten, Diagrammen und statistischen Tabellen visualisiert und dabei immer auch die Vergleiche zu anderen Großstädten der Welt bemüht. Im Pariser Städtebauwettbewerb der Jahre 1919/20 standen, ganz ähnlich wie zuvor in Berlin, das in vielerlei Hinsicht als Vorbild diente, die harmonische und von Schienen- und Wasserwegen im Vordergrund. Gleichwohl war Paris, genau wie Berlin, in seinem Reformkurs einem unübersichtlichen Spannungsfeld zwischen Beharrung und Erneuerung ausgesetzt, in dem Akteurskonstellationen und -koalitionen dynamisch wechselten.

Den gegenseitigen Vorbildcharakter von Berlin und Paris führte ELÉONORE MUHIDINE (Berlin) weiter aus. Als Ausgangspunkt wählte sie Eugène Hénard, der um die Jahrhundertwende maßgeblich für die Neugestaltung von Paris verantwortlich war. Seine Entwürfe für die Erweiterung der Stadtfläche und das Anlegen von Ring- und Stichstraßen waren bedeutsam für die Stadtplanungskultur des frühen 20. Jahrhunderts und wurden in deutschen Städtebauzeitschriften rezipiert. Trotz der Erschwernisse zweier Weltkriege blieben deutsch-französische Transfers intakt. Neben Paris sollte unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 indes die nordfranzösische Küstenstadt Le Havre zum Sehnsuchtsort deutscher Städteplaner avancieren: Die Neuordnung der Stadt mit ihren breiten Straßen, Wohninseln und Gebäuden aus Fertigbauteilen galt als Inbegriff des modernen Städtebaus. 1950 unternahmen Architekten aus der DDR eine Studienreise nach Le Havre und ließen sich unter anderem zur Gestaltung des Straußberger Platzes in Berlin inspirieren. Mit seinen Entwürfen für Autobahnen und Wolkenkratzer sollte dann für die kommenden Jahre Le Corbusier zur Schlüsselgestalt der Berliner Stadtplanung werden. Der wesentliche Unterschied zwischen Berlin und Paris, so die abschließende Beobachtung, liegt in den Zeitverläufen der Metropolwerdung. Während sie in Berlin 1920 vollendet wurde, bedurfte Paris mehrerer Anläufe – der letzte Ideenwettbewerb für ein „Grand Paris“ wurde 2008 ausgeschrieben.

Den interurbanen Expertenaustausch und den Vorbildcharakter anderer Weltstädte stellte MICHAEL BIENERT (Berlin) am Beispiel New Yorks und Berlins ins Zentrum. Er unterstrich, dass sich die komplexen Herausforderungen von Wohnungsnot und Raumplanung weltweit ähnelten und als wachsender Handlungsdruck auf den politischen Entscheidungsträgern lasteten. Dank neuer Verkehrs- und Kommunikationstechnologien konnten Fachleute über die Landesgrenzen hinausblicken und mithilfe von Publizistik und Studienreisen transnationale Netzwerke des Wissens- und Erfahrungsaustauschs aufbauen. Feuerwehrleute, Polizisten, Mediziner, städtische Verwaltungsangestellte bis hin zu Bürgermeistern begaben sich auf beiden Seiten des Atlantiks auf mehrwöchige Studienreisen, in denen sich Berlin oder New York lediglich in größere Reisepläne einordneten. Zwar blieb bei Berliner Besuchern New Yorks ein alteuropäischer Dünkel gegenüber den parteipolitischen Strukturen der US-amerikanischen Kommunalverwaltung, doch half der Austausch fraglos dabei, den Kenntnisstand der Experten zu erweitern und Erfahrungswerte anderer Metropolen in die eigene Entscheidungsfindung einfließen zu lassen.

Mit einem breiten Spektrum von Zugängen zeigt die aktuelle Forschung Berlin somit als ein zutiefst widersprüchliches Konfliktfeld von Innovationspotentialen und Beharrungskräften, von Tendenzen der Zentralisierung und der Segmentierung, von sozialen Utopien und sozialen Nöten. Gerade der Fokus der Tagung auf den internationalen Vergleich zeigt, dass die Begebenheiten in Berlin und die Bedingungen der Großstadtwerdung keineswegs singulär waren, sondern in den breiteren Kontext einer globalen Moderne einzuordnen sind.

Wohnungsnot und Verwaltungswirrwarr waren die Triebfedern und drängendsten Probleme, denen 1920 mit dem Groß-Berlin-Gesetz Abhilfe geschaffen werden sollte. Insofern stellt das Berlin des Jubiläumsjahres 2020 – das Berlin der „Miethaie“ und des „Behörden-Ping-Pongs“ – ein Stück gelebte Vergangenheit dar. Es wäre den nachfolgenden Generationen zu wünschen, wenn im Jubiläumsjahr 2120 eine Konferenz diese Dinge als rein historische Gegenstände behandeln könnte. Wahrscheinlicher ist – das lehren einhundert Jahre Groß-Berlin –, dass die Großstadtwerdung Berlins niemals abgeschlossen sein wird.

Konferenzübersicht:

Alexander Olenik (Bonn) / Christine Schoenmakers (Oranienburg): Einführung

Sektion 1: Der lange Weg nach Groß-Berlin
Moderation: Oliver Gaida (Berlin)

Markus Tubbesing (Potsdam): Der Wettbewerb Groß-Berlin 1910

Lennart Bohnenkamp (Braunschweig): Die ungeliebte Hauptstadt oder Warum Berlin vor 1918 nicht groß werden durfte

Sektion 2: Wer schuf Groß-Berlin? Streiflichter auf Akteure und Netzwerke
Moderation: Hanno Hochmuth (Potsdam)

Andreas Splanemann (Berlin): Das Netzwerk um Adolf Wermuth

Thomas Flemming (Berlin): Die Metropole ins Laufen bringen – Gustav Böß als Oberbürgermeister von Groß-Berlin 1921–1930

Henning Holsten (Berlin): Weltstadtplanung. Martin Wagner und das Neue Berlin

Podiumsdiskussion
Mehr als die Geschichte von Adler und Bär? Perspektiven auf die Europäische Metropolregion Berlin-Brandenburg in Gegenwart und Zukunft

Moderation: Sigrid Hoff (Berlin)
Reinhard Henke (Frankfurt am Main), Stefan Goch (Düsseldorf), Steffen Reiche (Berlin), Andreas Splanemann (Berlin)

Sektion 3: Impulse für den Alltag der Berlinerinnen und Berliner
Moderation: Christine Schoenmakers (Oranienburg)

Oliver Gaida (Berlin): Die Metropole der Jugend: Groß-Berlin als sozialpolitische Projektionsfläche

Renate Amann (Berlin): Wohnungsgenossenschaften als Akteure im Neuen Berlin. Solidargemeinschaften und kollektive Lebensformen

Konstantin Manthey (Berlin): Gemeinden aufbauen: Katholische Entwicklungen in Groß-Berlin ab 1920+

Sektion 4: Andere große Würfe? Die Gebietsreformen von Groß-Prag und Groß-Hamburg im Vergleich
Moderation: Alexander Olenik (Bonn)

Richard Nemec (Bern): Groß-Prag entstand … Zwischen politischen Akteuren, fachlichen Positionen und institutionellen Aushandlungsprozessen

Ortwin Pelc (Hamburg): Groß-Hamburg 1910 bis 1937. Von den Ideen zum Gesetz

Sektion 5: Transnationale Verflechtungen – Wechselwirkungen zwischen New York, Paris und Berlin
Moderation: Stefanie Fink (Görlitz)

Michael Bienert (Berlin): Berliner Blicke über den Atlantik. Die City of Greater New York als Vorbild und abschreckendes Beispiel in den Diskussionen um die neue Stadtgemeinde

Cosima Götz (Tübingen): Die Großstadt als Kräftefeld. Kampf um den Stadtraum in Berlin und Paris, 1900–1930

Eléonore Muhidine (Berlin): Aus Berlin lernen? „Grand Paris“ im Vergleich zu Groß-Berlin: 100 Jahre europäischer Städtebau- und Architekturgeschichte zwischen Verflechtungen und Innovationspotential

Abschlussdiskussion
Groß-Berlin als großer Wurf?

Moderation: Stefanie Fink (Görlitz)
Oliver Gaida (Berlin), Alexander Olenik (Bonn), Christine Schoenmakers (Oranienburg)

Anmerkung:
1 Jens Bisky, Berlin. Biografie einer großen Stadt, Berlin 2019.