The Wondering Child

Organisatoren
Nicola Gess, Universität Basel; Mireille Schnyder, Universität Zürich; SNF-Sinergia-Projekt „The Power of Wonder. The Instrumentalization of Admiration, Astonishment and Surprise in Discourses of Knowledge, Power and Art”
Ort
digital
Land
Switzerland
Vom - Bis
15.10.2020 - 16.10.2020
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Von
Ella Imgrüth, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel

Wenn über das Staunen nachgedacht wird, nimmt das Kind dabei oft eine prominente Rolle ein, denn dem Staunen und der Kindheit gemeinsam sind sowohl Begegnungen mit dem Neuen als auch Initiationsmomente der Wissensaneignung. Mit Fragen zur historischen Konstruktion des „staunenden Kindes“ als einer epistemischen Figur und den daraus resultierenden Implikationen für Pädagogik und Philosophie beschäftigte sich die im Rahmen des SNF-Sinergia Projekts „The Power of Wonder“ organisierte interdisziplinäre Tagung. Insbesondere den interdisziplinären Zugängen aus Literatur-, Erziehungs-, Kunst- und Filmwissenschaft, Philosophie und Kultursoziologie verdankte die Tagung vielfältige und produktive Perspektiven auf das titelgebende staunende Kind.

Eröffnet wurde die Tagung mit einem Panel zu „Kulturellen Imaginationen von Kindheit“, das zunächst die grundsätzliche Frage nach Vorstellungen und Bildern staunender Kinder aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft und der Kunstgeschichte aufwarf. Ausgehend von Rachel Carsons The Sense of Wonder (1965) zeigte ANDERS SCHINKEL (Amsterdam) das romantische Erbe des Konzepts des staunenden Kindes auf und die ihm inhärenten binären Konstruktionen wie naive, staunende Kinder vs. nicht-staunende Erwachsene, Natur-Welt vs. Menschen-Welt, Träumer vs. Realist. Als besonders ausgeprägt erwies sich in Carsons Essay der Kontrast zwischen der vom Staunen erfüllten Welt der Kinder und der Natur und der von einem Mangel an Staunen geprägten Erwachsenenwelt. Allerdings könnte es dem Erwachsenen über die Erinnerung an das eigene innere Kind gelingen, wieder zum Staunen und darüber zu einem kindlichen Blick zu finden, zu einer neuen Wahrnehmung dessen, was z.B. an der Natur schützenswert ist, womit im Staunen ein für die Umweltbewegung essenzielles ethisches Potential verknüpft ist.

Dass die Faszination für den kindlichen Blick seit Mitte des 19. Jahrhunderts, unter anderem beeinflusst durch John Ruskin, Gustave Courbet und Charles Baudelaire, auch die Kunsttheorie ergreift, veranschaulichte BARBARA WITTMANN (Berlin) am Beispiel ihrer Untersuchung von Adolph Menzels Kinderalbum (1863-1883). Menzels Illustrationen, die fast ausnahmslos Begegnungen zwischen Kindern und Tieren zeigen, greifen den kindlich-staunenden Blick ebenso auf wie die intensive Aufmerksamkeit, die Kinder ihrer Umwelt gegenüber zeigen, und konzeptualisieren das Staunen als eine Form des Weltbezugs, die weniger auf Erkenntnis als vielmehr auf Verlebendigung ausgerichtet ist und in der die Grenzen des Sichtbaren selbst thematisch werden.

Das zweite Panel unter dem Titel „Philosophien der Kindheit“ widmete sich den Bezügen zwischen staunendem Kind und Institutionen. Ausgehend von Ludwig Wittgensteins wenig beachteter Tätigkeit als Volksschullehrer erörterte TIM HOFMANN (Basel), dass dessen Lebensformkonzept mit der Reflexionsfigur „Kind“ verknüpft ist, und zwar als ein rein figürliches „Noch-Nicht-Sprechendes“, das Denkmuster und Sprache durch Abrichtung erwirbt. Ein solches, durch eine Lebensform geprägtes Subjekt kann über das Staunen in einen kindlichen Zustand zurückversetzt werden – einen Zustand, aus dem heraus eine erneute bzw. neue Versprachlichung stattfindet, welche in einer neuen Lebensform und veränderten Denkmustern resultiert. Lebensformung wird bei Wittgenstein somit durch das Staunen angestoßen: ein Moment der Infantilisierung, in dem wir wieder sprachlos werden.

Anhand des 1946 veröffentlichten Romans Wunder der Rose von Jean Genet argumentierte PHILIPP HUBMANN (Zürich), dass eine Theoretisierung der infamen Kindheit eng mit einem Akt des Staunens verknüpft ist, in dem sich dieses als Figur der Transgression bzw. der Störung zeigt. Im Zentrum von Genets Roman stehen Unterwanderungsversuche der Jungen der Jugendstrafanstalt Met-tray, die sich im Schatten der Institution Räume schaffen, in denen ihre eigenen Regeln gelten. Genet verleiht der Strafanstalt etwas Mystisches, Paradiesisches, was die ehemaligen Zöglinge zur romantisierenden Rückschau verleitet. Die provokativ glorifizierte Transgression der Kinder rückt Genet in die Nähe einer Ästhetik des Bösen und schafft dabei einen Möglichkeitsraum, der sich u.a. für Michel Foucault als produktiv erweist, den mit Genet das Nachdenken über Institution und Ordnung, aber auch über die Unterwanderung einer solchen Ordnung verbindet.

Die drei Beiträge des dritten Panels „Inszenierungen des Staunens im Kinderbuch“ perspektivierten das Staunen aus literaturwissenschaftlicher Sicht mit Blick auf exemplarische Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. So zeigte KLAUS MÜLLER-WILLE (Zürich), inwiefern Hans Christian Andersen in seinen Märchen über Kinderfiguren eine Poetik des Staunens reflektiert, indem er die widersprüchliche Funktion des kindlichen Blicks hervorhebt. Diese Ambivalenz ist besonders deutlich in Des Kaisers neue Kleider (1837). Der staunende, kindliche Blick durchbricht hier zwar die gesellschaftliche Illusion, doch wirkt das Staunen des Kindes keineswegs subversiv, denn das politisch Imaginäre überlebt die Enthüllung. Der kindliche Blick wird nicht affirmiert, sondern problematisiert. Zugleich reflektiert der Text über das Lesen als bedeutungsgenerierende Praxis, denn genauso wie Andersens Kind den gesellschaftlichen Text nicht lesen kann (analog zu seiner ersten Konfrontation mit der Materialität der Schrift), entzieht sich auch den erwachsenen LeserInnen eine eindeutige Lesart des Märchens.

Im Zentrum des Beitrages von DEBORAH KELLER (Zürich) standen die staunenden Kinder des Schweizer Schriftstellers August Corrodi. Sie legte dar, dass sich das Staunen bei Corrodis Kindern zwar stark an Konzeptionen des kindlichen Staunens der Spätromantik orientiert, diese jedoch durch metafiktionale Verfahren und ironische Distanzierung immer wieder unterlaufen werden. Mit Nachsicht scheint Corrodi auf die staunenden Kinder zu blicken und vermeidet wertende Positionen über das Staunen ebenso wie den berühmten belehrenden Zeigefinger. Entsprechend humorvoll löst er potenziell konfliktreiche Situationen, in denen seine Figuren vor Erstaunen erstarren, indem er sie in schallendes Gelächter ausbrechen lässt, das anhält, bis die Situation vollends entschärft ist.

JOACHIM GRAGE (Freiburg i. Br.) thematisierte die Poetik des Staunens in Selma Lagerlöfs bekanntem Roman Nils Holgersson (1906). Der für die Volksschule konzipierte, phantastische Bildungsroman, entstanden im Zusammenhang mit der von Ellen Key in Schweden popularisierten Reformpädagogik, handelt von dem zum Däumling geschrumpften Jungen Nils, der auf dem Rücken einer Wildgans über Schweden fliegt. Die neuen Perspektiven, die sich seiner Wahrnehmung eröffnen, resultieren dabei nicht nur aus seiner neuen Körpergröße, sondern auch aus der Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen. Diese, das Bekannte verfremdenden, Sichtweisen sind eng mit dem Staunen verknüpft. Das Staunen als Modus der Weltwahrnehmung ermöglicht der Hauptfigur wie auch den LeserInnen, die Umwelt aus neuen Blickwinkeln wahrzunehmen, und bildet damit die Grundlage einer ökologischen Tierethik.

Die Frage, inwiefern Konzeptualisierungen des staunenden Kindes an mediale Bedingungen geknüpft sind und inwiefern der Affekt des Staunens zugleich als Element der Theoretisierung von Medien begriffen werden kann, thematisierten die beiden Beiträge des Panels „Medialisierungen des Staunens“. OLE BOGNER (Freiburg i. Br.) wendete sich der Entwicklungspsychologie William Sterns zu, in der dem Staunen im Prozess der Weltaneignung des Kindes eine bedeutende Rolle eingeräumt wird. Auf der Basis von gemeinsam mit seiner Frau Clara Stern erstellten Beobachtungstagebüchern des Verhaltens und der Entwicklung seiner eigenen drei Kinder entwickelte Stern einen psychologischen Ansatz, der das staunende Kind als selbst erstaunlich konzipierte und davon ausgehend die Notwendigkeit einer neuen erzieherischen Einstellung zu Kindern propagierte. Als ein weiteres Beispiel für die enorme Bedeutung, die dem Staunen in der Kinderpsychologie dieser Zeit zukam, wurde der Dokumentarfilm Die Welt des Kindes (1931) präsentiert, der in zweifacher Weise eine Poetik des Staunens entfaltet: einerseits durch die ungewöhnliche Bildästhetik, welche die Welt des Kindes als eine unbekannte konstruiert, andererseits in der Inszenierung der kindlichen Weltaneignung als eine Konfrontation mit Neuem und Fremdem.

DANIEL WIEGAND (Zürich) beschäftigte sich mit dem staunenden, kindlichen Blick als einem filmischen Phänomen und mit dem Staunen als einer grundlegenden Denkfigur der klassischen Filmtheorie. Den Zusammenhang zwischen Staunen, Kind und Film stellt insbesondere Béla Balázs her, wenn er dem Film die inhärente Eigenschaft zuspricht, gegenüber der gefilmten Welt nicht eine gleichgültige, sondern eine staunende Haltung einzunehmen. Wiegand illustrierte seine Überlegungen anhand des Kurzfilms Zehn Minuten älter von Frank Herz, der in Nahaufnahme die Gesichter einer Gruppe von Kindern zeigt, die sich ein Puppenspiel ansehen. Der Titel verweist auf die Idee, dass die Kinder während der zehn Minuten mit etwas Neuem konfrontiert werden und durch das Staunen ausgelöste Entwicklungsschritte machen, die von den ZuschauerInnen als „älter werden“ miterlebt werden können. Jedoch lassen es die Reaktionen der Kinder nicht zu, ihnen eindeutig eine staunende Haltung zuzuschreiben, und so stellt sich die Frage, inwiefern der Zuschauer das Staunen ins Kindergesicht projiziert.

Das Panel „Pädagogisierung des Staunens“ legte den Fokus auf die Rolle bzw. die Instrumentalisierung des Staunens in Bildungspraktiken und Erziehungskonzepten zweier sehr unterschiedlicher Zeiträume. So beschäftigte sich FLORIAN HESSDÖRFER (Leipzig) mit Neukonzeptionen des Staunens im Kontext der Pädagogik um 1900. In diesem Zusammenhang wurde Staunen zum lerntheoretischen Moment, zur produktiven Irritation bestehender Wahrnehmungsmuster, wobei man die Bewältigung dieser Irritation als entscheidendes Kriterium der Fähigkeit zu lernen und der Intelligenz konzeptualisierte. Staunen als Resultat einer Konfrontation mit dem Neuen wurde zu einem positiv bewerteten Phänomen, das einen Übergangsmoment zwischen Nicht-Wissen und Wissen markiert. Im Kontext der Konfrontation mit etwas Neuem, Fremdem kann die pädagogische Aufwertung des Staunens jedoch auch als ein Verdrängen des Aspekts der Angst verstanden werden. So kündigt sich die Angst in dieser Konfrontation zwar an, doch das distanzierende Staunen wird zwischengeschaltet.

HENRIKE GÄTJENS (Zürich) befragte Bildungsarchitekturen des 17. Jahrhunderts in den Utopien von Campanella, Andreae und Comenius auf das Staunen. Diskutiert wurde die Frage, ob die Kinder tatsächlich staunen, oder ob es nur die erwachsenen Schiffbrüchigen sind, die über die Kinder erstaunen. Gätjens legte dar, dass das Staunen im Lernprozess der utopischen Kinder eine untergeordnete Rolle spielt und oft ganz abwesend ist. Zu diesem „Staunensmangel“ in den besprochenen Utopien tragen sowohl Grundzüge des Staunens als auch der Utopie selbst bei, denn in utopisch perfekten Welten, bevölkert von Wesen bzw. Kindern, die ihre inhärente Vollkommenheit nur noch erfüllen müssen, hat das Staunen als Reaktion auf kognitive Dissonanz keinen Platz. Jedoch können auch diese nicht-staunenden Kinder zum Verständnis des Konzepts des staunenden Kindes beitragen.

Im letzten Panel „Poetiken des kindlichen Staunens“ zeigte sich ein starker Kontrast zwischen einem gebändigten, kontrollierten Staunen, das in den Dienst der Erziehung gestellt wird, und einem anarchischen, sich auf die Materialität von Schrift und Buch ausweitenden Staunen, das Erziehungsbemühungen entgegenzulaufen scheint. So behandelte ROTRAUD VON KULESSA (Augsburg) am Beispiel der Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen erzieherischen Schriften von Marie Leprince de Beaumont die Frage, inwiefern das Wunderbare der in den Schriften enthaltenen Märchen in den Dienst einer religiös-moralischen Erziehung junger Mädchen gestellt wurde. Dabei wird dem Staunen generierenden Wunderbaren jedoch keine Gelegenheit gegeben, für Irritationen zu sorgen, denn die Erzieherin holt die Momente des Staunens im Märchen rasch mittels inszenierter Reflexionen ein, um die Schülerinnen mittels des Staunens zu reflektiertem Glauben zu führen und dabei jeden ernsthaften Zweifel zu unterbinden.

Der die Tagung beschließende Beitrag von CHRISTINE LÖTSCHER (Zürich) thematisierte das (Un-)Sinn-, (Nonsense)-Machen als Form des Staunens bei Lewis Carroll. Der Unsinn als prägendes Motiv in den Alice-Büchern verwandelt das alltägliche Sinnmachen in ein faszinierendes, gefährliches Unterfangen, und da im Wunderland alles kurios und unbekannt ist, hat es das Potenzial, Staunen auszulösen. Alices anarchische Art des Staunens wird durch das Staunen der LeserInnen ergänzt, die in ein quasi kindliches Staunen versetzt werden, wenn in den Alice-Büchern auf die Materialität der Sprache und des Buches bzw. der Buchseite und des Leseprozesses verwiesen wird.

Die abschließende Diskussion resümierte zum einen die vielfältigen Formen des Staunens, die anhand der Figur des staunenden Kindes zur Sprache gekommen sind, so u.a. Staunen im Sinne einer tiefgreifenden, anhaltenden Verwunderung, Staunen als Verbindung bzw. Grenze zwischen Nicht-Wissen und Wissen, Staunen als auszuhaltende Spannung, als Störung und als Zweifel sowie Staunen als Möglichkeit, Gefühle der Angst zu vermeiden. Dabei zeigte sich zum anderen, dass das staunende Kind als eine produktive Reflexionsfigur begriffen werden kann, um Elemente einer Anthropologie der Affekte zu erschließen. Intensiv wurden zudem Fragen zu den bis in die Gegenwart hineinwirkenden romantischen Konzeptionen des staunenden Kindes sowie zu den Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik, das Staunen nutzbar zu machen, diskutiert. Offenkundig wurde darüber hinaus, dass es sich beim Blick auf das staunende Kind zumeist um einen erwachsenen Blick handelt, der geradezu von einer Sehnsucht des Erwachsenen nach dem staunenden Kind getragen wird und das Kind damit zu einer Projektionsfläche für die Eröffnung einer neuen Wahrnehmung von Welt werden lässt.

Konferenzübersicht:

Nicola Gess (Basel) / Mireille Schnyder (Zürich): Einführung

Panel 1: Kulturelle Imaginationen von Kindheit

Anders Schinkel (Amsterdam): Wonder and (Ir)Responsibility

Barbara Wittmann (Berlin): Das neugierige Kind als Paradigma der Kunstbetrachtung: Adolph Menzels Kinderalbum

Panel 2: Philosophien der Kindheit

Tim Hofmann (Basel): „Zurück auf den rauhen Boden!“. Zu Wittgensteins Kindern

Philipp Hubmann (Zürich): Das Wunder von Mettray. Jean Genet und die Theoriegeschichte der infamen Kindheit (Sartre, Fichte, Eribon)

Panel 3: Inszenierungen des Staunens im Kinderbuch

Klaus Müller-Wille (Zürich): „Men han har jo ikke noget på“. Hans Christian Andersens Märchen und die Poetik des Staunens

Deborah Keller (Zürich): August Corrodis Inszenierungen des staunenden Kindes

Joachim Grage (Freiburg im Breisgau): Welterkundung im Modus des Staunens. Selma Lagerlöfs Nils Holgersson

Panel 4: Medialisierungen des Staunens

Ole Bogner (Freiburg in Breisgau): Das Kind und die Welt. Staunen in der Kinderpsychologie William Sterns

Daniel Wiegand (Zürich): „Die Poesie des kleinen Lebens“. Staunende Kinder im Film

Panel 5: Pädagogisierung des Staunens

Florian Heßdörfer (Leipzig): Das Staunen der Pädagogik. Anmerkungen zur Pädagogisierung des Neuen um 1900

Henrike Gätjens (Zürich): Utopische Kinder. Bildung und Staunen bei Campanella, Andreae und Comenius

Panel 6: Poetiken kindlichen Staunens

Rotraud von Kulessa (Augsburg): Das Wunderbare im Dienst der religiös-moralischen Erziehung junger Mädchen. Das Magasin des enfants der Marie Leprince de Beaumont

Christine Lötscher (Zürich): „Curiouser and curiouser“. (Un-)Sinn machen als Form des Staunens in Lewis Carrolls Alice-Büchern und ihren Adaptionen