Wohin des Weges? Mobilität und Migration im Altertum

Wohin des Weges? Mobilität und Migration im Altertum

Organisatoren
Ana Maspoli / Ilaria Gullo, Doktoratsprogramm der Basler Altertumswissenschaften (DBAW), Universität Basel
Ort
digital (Basel)
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.11.2020 - 01.12.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Marta Billo-Imbach / Sandra Kyewski-Ditz / Cheyenne Peverelli / Enrico Regazzoni, Fachbereich Klassische Archäologie, Departement Altertumswissenschaften, Universität Basel

Das vielfältige und aktuelle Thema der internationalen Graduiertentagung ist auch in der Altertumswissenschaft durch die Entwicklung neuer naturwissenschaftlichen Methoden wieder aufgegriffen worden. Dank der Optimierung und Zugänglichkeit von aDNA- und Isotopen-Analysen konnte die Mobilität von Menschen bereits in frühester Zeit erstmals direkt bezeugt werden. Die Tagung hatte zum Ziel, verschiedene Forschungsansätze einander gegenüberzustellen und die Thematik chronologisch und geographisch von verschiedenen Seiten her zu beleuchten. Insbesondere lag der Schwerpunkt auf der kritischen Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Quellen und Methoden sowie auf den bisher formulierten Migrationsnarrativen und konstruierten Identitäten. Diesen und den theoretischen sowie naturwissenschaftlichen Ansätzen hatten sich die Doktoranden im Rahmen zweier Workshops bereits im Vorfeld der Tagung gewidmet.

Die Tagung wurde von ROLAND STEINACHER (Innsbruck) eröffnet. Er erläuterte sowohl Geschichten von Wanderungen als auch den Einfluss der Migration auf die Konstruktion von Identität. Das Privileg des Historikers, Narrative pauschal wiederzugeben, zeigt sich bereits bei Herodot, beispielsweise bei den Erklärungen der Ethnogenese der Etrusker durch den Königssohn und Stammvater der Etrusker Tyrrhenos. Anhand weiterer Beispiele konnte Steinacher aufzeigen, dass eine langfristige Migration durch Verfall und anschließende Neubildung von Gruppen während der Wanderung entsteht. Bereits Dionysios von Halikarnassos beschrieb die römische Identität als vielschichtiges Konstrukt zahlreicher Italiker und Mittelmeeranwohner. Jahrzehnte später entwarf Seneca eine Migrationstheorie, die große Ähnlichkeit zur modernen Migrationstheorie mit dem Modell von Push- und Pull-Faktoren aufweist.

GUY MIDDLETON (Newcastle) sprach über den Mythos der sogenannten Sea People und vor allem über die Problematik von Karten, die zur Erklärung von Geschichte genutzt werden. Middleton wünscht sich menschlichere Karten, wie zum Beispiel die Mustafas map, die eher den Weg bzw. die Reise eines Migranten beschreibt als statische Ethnien. Bereits in der Bronzezeit dürften die meisten ethnischen Gruppierungen über eine hohe Mobilität verfügt haben. Karten, die oft einem breiten Publikum gezeigt werden, illustrieren jedoch ein fiktionales Narrativ mit statischen, ethnischen Gruppierungen. Durch Vereinfachung konzentrieren sich die Aussagen einer Karte auf eben diese Statik, die dann einprägsamer ist als andere Schlussfolgerungen der Forschung.

CHRISTINE WALDE (Mainz) ging auf den Exildiskurs in der römischen Literatur ein. Marcus T. Cicero entfernte sich zuerst freiwillig aus Rom, allerdings wurde diese fuga zu einer Exilstrafe umgewandelt. Obschon ihn dies traumatisierte, blühte sein literarisches Schaffen auf. Cicero nahm seiner Meinung nach die res publica mit ins Exil, denn nach den Bürgerkriegen war diese nicht mehr an den Ort Rom gebunden. Marcus A. Lucanus schilderte in De Bello Civili den römischen Bürgerkrieg und gab zu erkennen, dass er mit den Werken von Vergil und Ovid und der Diskussion über die Begriffe exilium und fuga vertraut gewesen ist. Caesar gewinnt aufgrund seiner wahren Liebe zu Rom den Bürgerkrieg, da es sich dabei um den vom fatum ausgesuchten Ort für die Herrschaft handelt.

Im Hinblick auf die methodische Ermittlung von Mobilitäts- und Migrationsphänomenen hinterfragte CAROLINE HEITZ (Bern) die Rolle der räumlichen Mobilität in der Vergangenheit. Anhand von Keramik aus neolithischen Siedlungen des nördlichen Alpenvorlandes konnte sie mit qualitativen und quantitativen Methoden sowohl die sozialen Praktiken bei der Keramikproduktion als auch Muster von deren Konsumption nachvollziehen. Der praxeologische Zugang hebt Mobilitätsmodelle hervor, in denen sich soziale Konfigurationen und Verflechtungsprozesse zwischen den Siedlungsgemeinschaften abzeichnen. Die Mobilität spielte demnach eine essentielle Rolle für prähistorische Gesellschaften, die von kultureller Identität und zugleich starker Integration zeugt.

IDOIA GRAU (Basel) spürte in ihrem Vortrag den Tieren nach, die seit Urzeiten aktive und passive Begleiter des Menschen sind. Dabei zeigte sie auf, welchen Beitrag die Archäozoologie in der Mobilitätsforschung leisten kann. Die traditionellen Methoden dieses Faches, kombiniert mit Isotopen-, biometrischen und genetischen Analysen, machen Transhumanz, Handel und Einführungszeitpunkte von Tierarten greifbar. Mit Hilfe der Tierknochen lässt sich nicht nur deren Teilnahme an der menschlichen Mobilität bezeugen, sondern auch ein wirtschaftliches und soziales Bild einer Vergangenheit on the move nachzeichnen.

MARGAUX DEPAERMENTIER (Basel) widmete sich dem umstrittenen Mobilitätsnarrativ der „Völkerwanderung“ am Beispiel der spätantiken und frühmittelalterlichen Nekropolen Basels. In dieser Zeit bildete der Rhein eine Sprach- und Kulturgrenze zwischen römischem Reich und Barbaricum. Eine umfassende Auswertung der Gräber beider Flussseiten, die verschiedene Isotopen- und aDNA-Analysen integriert, könnte ihrer Meinung nach lokale oder eingewanderte Individuen identifizieren und somit kleinräumige Mobilität und Migration nachweisen. Anhand dieser Studie zeigt sich, wie naturwissenschaftliche Methoden nebst der Rekonstruktion von Sozialstrukturen und Ernährungsgewohnheiten auch zur Bildung eines neuen neutralen Narrativs beisteuern können.

JULIA KRETSCHMER (Basel) behandelte die Mobilität in der früheisenzeitlichen Ägäis im Hinblick auf das Phänomen der sogenannten Orientalisierung. Dabei stellen importierte und exportierte Objekte Indikatoren für die menschliche Mobilität dar. Mit einem Fokus auf die Insel Kreta hinterfragte Kretschmer sowohl traditionelle als auch neue theoretische Ansätze zur Aufklärung dieses Phänomens. Das Fallbeispiel Kretas hebt die Schwierigkeit beim Entwerfen von Theorien zusätzlich hervor.

HEIDI KÖPP-JUNK (Trier) gab in ihrem Vortrag einen Überblick über Mobilität, Transportmittel und Reiseinfrastruktur im pharaonischen Ägypten. Dabei stellte sich heraus, dass die Quellen vor allem das Leben der Eliten abbilden, aber dennoch Informationen über andere Bevölkerungsschichten liefern können. Neben Boten, Armeeangehörigen und Expeditionsteilnehmern (zur Rohstoffakquise) reisten vor allem Anhänger bestimmter Berufsgruppen wie Handwerker oder auch Frauen, etwa um zu heiraten. So war Mobilität im pharaonischen Ägypten nicht nur der Elite vorbehalten; sie findet sich vielmehr durch alle Schichten – unabhängig vom sozialen Status.

Mit der archäologischen Nachweisbarkeit von Migration und Mobilität in römischer Zeit befasste sich STEFANIE HOSS (Köln). Die Mobilität von verschiedenen Gruppen im gesamten römischen Reich ist durch diverse Quellen gut belegt. Schwieriger soll jedoch der Nachweis von Migration innerhalb einer Provinz sein. Zudem mahnte sie an, Befunde und Objekte als Zeugnisse von Personenmobilität und gegebenenfalls Ausdruck von Ethnien kritisch zu hinterfragen, denn es könne sich dabei auch um Technologie-, Waren- oder Ideentransfer handeln.

Einen Einblick in die private Mobilität im griechisch-römischen Ägypten gab AUDRIC WANNAZ (Basel) mit der Vorstellung des methodischen Umgangs mit familiären Papyrusbriefen. Seiner Meinung nach kann man der Komplexität dieser Art von Quellen nur durch umfassende Analysetechniken gerecht werden. Neben dem close reading, der inhaltlichen Auslegung des Textes, wendet er zudem das distant reading an, das digitale und statistische Analysen beinhaltet. Damit können statische Muster in den Texten gefunden und Modelle, z. B. Netzwerkanalysen, erstellt werden.

YVONNE GERBER (Basel) zeigte schließlich auf, dass Objekte nicht immer Rückschlüsse auf die Mobilität einer Gesellschaft erlauben. Sie belegte anhand der Untersuchung nabatäischer Gebrauchskeramik, dass die gefundene Ware größtenteils lokal produziert und nur wenig über das nabatäische Kernland hinaus exportiert wurde. Trotz der intensiven Handelsbeziehungen der Nabatäer und ihrer Mobilität zeigen sich in dieser Objektgattung keine Einflüsse und Importe aus dem griechisch-römischen Kulturraum, wie sie hingegen beispielsweise bei den Glasobjekten bezeugt sind.

NAOÍSE MAC SWEENEY (Wien) beschäftigte sich mit den gemeinhin als „griechische Kolonisation“ gefassten Mobilitätsphänomenen. Ihre These, wonach die verschiedenen Gemeinschaften an den Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers erst spät eine gemeinsame griechische Identität entwickelt hätten – und noch nicht zum Zeitpunkt der ersten Auswanderung aus der Ägäis –, versuchte sie am Beispiel ihrer früheren Forschungen in Kilikien plausibel zu machen. In den nächsten Jahren will sie die Situation in anderen Teilen der griechischen Welt untersuchen.

PATRICK SÄNGER (Münster) berichtete von den frühesten griechischen Schriftzeugnissen aus Ägypten. Die wenigen Inschriften und Papyri aus vorhellenistischer Zeit gehen auf griechische Einwanderer zurück, die sich allesamt im Söldnermilieu verorten lassen. Unter Pharao Amasis in einem separaten Bereich von Memphis angesiedelt, behielten deren als Hellenomemphiten bekannte Abkömmlinge zumindest eine gewisse Gruppenidentität bei und scheinen sich bis zu den mit dem Alexanderzug verbundenen größeren Einwanderungen ihre Griechischkenntnisse erhalten zu haben.

Die archaische Plastik aus den griechischen Apoikien im Schwarzmeerraum wird gemeinhin eng mit den jeweiligen in der literarischen Überlieferung bezeugten Mutterstädten verbunden. In ihrem Beitrag stellte VERONIKA SOSSAU (Basel) diesem Interpretationsmuster eine Fallstudie an Skulpturen aus Histria gegenüber, für die entgegen älterer Provenienzanalysen nicht etwa Marmorvorkommen aus der weiteren Umgebung der Mutterstadt Milet benutzt worden waren. Stattdessen lassen sich hier ganz eigene, unabhängige Verbindungen Histrias fassen. Ähnlich verhält es sich mit lokalen Tendenzen auch in archaisierender Plastik aus Kepoi, die bewusst auf ältere Stilmittel zurückgreift.

JACQUELINE HUWYLER (Basel) beschäftigte sich mit der westsemitischen Göttin Anat, die ab der Zweiten Zwischenzeit auch in Ägypten belegt ist. Die Zeugnisse für ihre Verehrung stammen zuerst aus dem Nildelta, dann auch aus Gebieten weiter südlich, bevor sie unter Ramses II. überall im Land vertreten sind, meist eng mit der Königsfamilie verbunden. Wahrscheinlich von Einwandernden nach Ägypten gebracht, soll die Göttin dort vor allem wegen Überlappungen der Baal-Geschichte mit entsprechenden ägyptischen Erzählungen auf Anklang gestoßen sein.

Die vorgestellten Fallstudien haben die interdisziplinären Herangehensweisen zur Analyse der menschlichen Mobilität durch Raum und Zeit stichprobenartig aufgezeigt und somit eines der Hauptziele der Graduiertentagung erfüllt. Ferner wurde betont, wie wichtig ein angemessenes und stets kritisch hinterfragtes Zusammenspiel der Disziplinen ist, das sich für die Migrationsforschung als gewinnbringend erweist. In diesem Sinne sollten bei der Formulierung von Forschungsfragen, die durch naturwissenschaftliche Methoden beantwortet werden, die Möglichkeiten und Grenzen dieser Vorgehensweisen bewusst berücksichtigt werden. Schließlich konnte aus der Tagung gefolgert werden, dass Mobilität im Altertum nicht als besonderes Ereignis oder Ausnahmezustand zu erachten ist, sondern dass sie eine Konstante im alltäglichen Leben darstellte.

Konferenzübersicht

Sektion 1 – Formen von Mobilität und Migration

Roland Steinacher (Innsbruck): Geschichten von der Wanderung. Migration und die Konstruktion von Identität. Eine Bestandsaufnahme

Guy Middleton (Newcastle): The Sea Peoples myth and Late Bronze Age collapse in the Eastern Mediterranean c. 1200 BC

Christine Walde (Mainz): Der Exildiskurs in der römischen Literatur – von Cicero zu Lucan

Sektion 2 – Methodik

Caroline Heitz (Bern): Mobilität – ein praxeologisch-sozialarchäologischer Zugang

Idoia Grau (Basel): Animals on the move. Zooarchaeological approaches to mobility and migration

Margaux Depaermentier (Basel): Frühmittelalterliche Migrationsnarrative im Diskurs zwischen Archäologie, Geschichte und Isotopie

Julia Kretschmer (Basel): Die „Orientalisierung“ Kretas. Zur Mobilität von Menschen und Objekten in der frühen Eisenzeit

Sektion 3 – Interpretation und „Lesbarkeit“ der Quellen

Heidi Köpp-Junk (Trier): Reisen zwischen Mobilität und Migration im pharaonischen Ägypten

Stefanie Hoss (Köln): Zur archäologischen Nachweisbarkeit von Migration und Mobilität

Audric Wannaz (Basel): Mobilität von Menschen und schriftliche Praxis. Der Beitrag der familiären Papyrusbriefe im griechisch-römischen Ägypten

Yvonne Gerber (Basel): Have pot, won’t travel

Sektion 4 – Auswirkungen, Konsequenzen, Identitätsdiskurs

Naoíse Mac Sweeney (Wien): Mobilities and Greek „Colonisation“

Patrick Sänger (Münster): Die frühesten griechischen Schriftzeugnisse aus Ägypten im Licht der historischen Migrationsforschung. Einige Überlegungen

Veronika Sossau (Basel): Auf eigenen Füßen? Skulpturen und Identität in einer Kontaktzone am Rande der griechisch-antiken Welt

Jacqueline Huwyler (Basel): Anat in New Kingdom Egypt. The Impact of a Travelling Goddess on Egyptian and Near Eastern Identities