Ein(ver)nehmen? Eroberte als Diskursteilnehmer zwischen Selbstinszenierung und Sinnstiftung in der Vormoderne

Ein(ver)nehmen? Eroberte als Diskursteilnehmer zwischen Selbstinszenierung und Sinnstiftung in der Vormoderne

Organisatoren
Andreas Bihrer / Rike Szill, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
digital (Kiel)
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2020 - 14.11.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Sarah-Christin Schröder, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die internationale, digitale Tagung nahm Eroberte in Mittelalter und Früher Neuzeit in den Blick. Dabei galt es in drei synergetisch angelegten Sektionen zu hinterfragen, wie diese den Ordnungswandel im Rahmen von Umbruchsituationen erleben, bewältigen und selbst gestalten konnten.

Die beiden Veranstalter/innen bereiteten nach der Begrüßung mit ihren Einleitungen den gemeinsamen Ausgangspunkt vor. So verdeutlichte ANDREAS BIHRER (Kiel), welche Handlungsmacht den Eroberten nicht nur situativ, sondern auch rezeptionswirksam zufiel. RIKE SZILL (Kiel) erklärte das Anliegen der Tagung und verortete es im Anschluss an die jüngsten Forschungsentwicklungen. Dazu formulierte sie vier Leitgedanken: Eroberung habe (1) in der Vormoderne keinem fixen gedanklichen Konstrukt entsprochen, sei (2) nicht mit militärischen Konflikten gleichzusetzen, könne (3) durch erfahrungsgeschichtlich orientierte Herangehensweisen mit Blick auf den Wandel geltender sozio-psychologischer Muster in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit erforscht werden und hinterlasse (4) Nachwirkungen über einen langen Zeitraum.

Die erste Sektion Eroberung erleben wurde von HERMANN KAMP (Paderborn) eröffnet. Er verwies in seiner Keynote Lecture zunächst auf die Problematik im Umgang mit den Begriffen „Eroberer“ und „Eroberte“, da diese Bezeichnungen nicht der Quellensprache entnommen seien. Sodann untersuchte er vier diachron ausgewählte Widerstandsepisoden in England, Frankreich und Italien im Früh- und Hochmittelalter. Der Herausforderung, Eroberte in den Quellen überhaupt als solche zu fassen, könne begegnet werden, indem – als Teilindikator – der jeweils individuelle Konnex zwischen neuer Herrschaftsordnung, Widerstandsmotiven und Selbstwahrnehmung der Eroberten betrachtet werde. Während er dies demonstrierte, zeigte er auf, wie Aufstände durch Gewaltdynamiken und Gemeinschaftsbildung bestimmt seien.

ANNE FOERSTER (Paderborn) untersuchte die Darstellung der fränkischen Eroberungen der Bretonen und Barcelonas im Lobgedicht In honorem Hludowici des Ermoldus Nigellus. Dazu präsentierte sie eine Auslegung, mittels derer greifbar werde, wie der fränkische Dichter sich das Erleben einer Eroberung vorgestellt habe. In diesem Zusammenhang stellte sie u.a. den Transfer eigener Deutungsmuster des Dichters auf die Sichtweise der narrativierten Eroberten präzise heraus.

Dem Frankenreich war auch der Beitrag von PHILIPP FREY (Kiel) verhaftet, dessen Gegenstand Einhards Darstellung der Eroberung Centumcellaes in der Vita Karoli Magni war. Frey kombinierte die Frage nach dem literarischen Umgang mit der Eroberung seitens Einhards mit der Ergründung fränkischer Vorstellungen von Abtrünnigkeit. Anschaulich stellte er die verschriftlichte Engführung bei Einhard in einen Deutungszusammenhang von inszeniertem Verrat und der Sinnstiftung von Eroberung. Dieses Vorgehen sei als strategische Bewältigung zu deuten.

BIANCA FROHNE (Swansea/Kiel) verknüpfte das Tagungsthema auf eingängige Weise mit dem Feld der historischen Schmerzforschung. Unter Verweis auf kriegsmetaphorische Schmerz- und Krankheitsbeschreibungen befasste sie sich mit der vormodernen Konzeptualisierung von (chronischem) Schmerz. In der vormodernen Vorstellung sei Schmerz – vor allem in einer körperräumlichen Dimension – beweglich und agiere eigenständig. In diesem Zusammenhang habe auch die Vorstellung floriert, dass der vom Schmerz Eroberte durch eigenmächtiges Agieren zu seiner Genesung beitragen könne. Dieses Wahrnehmungskonzept sei der Schmerzbewältigung zuträglich gewesen. Ihr Beitrag untermauerte anschaulich den Ansatz der Veranstalterin, Eroberungen auch außerhalb eines rein militärischen Kontextes zu denken.

ISABELLE SCHÜRCH (Bern/Sheffield) erweiterte die bisher zu Tage getretenen Perspektiven der Eroberten um einen mesoamerikanischen Blickwinkel aus dem Kontext der Conquista. So hätten die mesoamerikanischen Deutungsstrategien im Umgang mit der iberischen Reitkunst als ein impulsgebendes Moment auf die Selbstinszenierungspraktiken der spanischen Conquistadores im 16. Jahrhundert zurückgewirkt. Letztere hätten daher besonders auf Phänomene der Reconquista mit einem deutlichen Bezug zu Pferden zurückgriffen, um sich so in die Tradition des Verdienstadels zu stellen.

Die zweite Sektion Eroberung bewältigen fokussierte nicht nur den Mittelmeerraum, sondern behandelte nun auch vorrangig die Verarbeitung von Eroberungen. Den Auftakt gab MICHAEL GRÜNBART (Münster), der anhand byzantinischer Quellen die griechische Perspektive auf die Einnahmen Thessalonikis, Kretas und Konstantinopels thematisierte. Er verdeutlichte einerseits die qualitativen Unterschiede zwischen den Einnahmen und verwies andererseits auf die pluralen Optionen der Eroberten, die in einem Spektrum von Widerstand über Rückzug bis hin zur Einigung zu verorten seien.

RICHARD ENGL (München) wandte sich dem süditalienischen Raum und dem Ayyubidenreich zu und bereicherte das Anliegen der Sektion um eine süditalienisch-muslimische Perspektive auf die sich etablierende staufische Herrschaft. Dabei zeigte er narrativierte Deutungsangebote für den Umgang mit Eroberung auf. Diese sei z.B. mit fehlgeschlagener Kommunikation unter Umgehung des inneren Dissenses zwischen den muslimischen Akteuren Westsiziliens begründet worden.

ROBERT FRIEDRICH (Greifswald) legte das Augenmerk auf das vom Königreich Aragón zweifach eroberte Menorca im 13. Jahrhundert und erklärte, dass das Ausmaß an Mitgestaltungsoptionen der Eroberten von den je unterschiedlichen Ausgangssituationen zu Eroberungsbeginn abhängig gewesen sei. Bei den vertraglichen Arrangements sei auch Wissen um die Normen in der jeweils anderen Religion der Vertragspartner zum Tragen gekommen.

Mit der Krone Aragón befasste sich auch ERIC BÖHME (Konstanz), der die politische Transformation an der iberischen Ostküste im 13. Jahrhundert in der Perspektive der Aljamas betrachtete. Zum Umgang mit Eroberung führte er ins Feld, dass auch die Aljamas heterogene Verhandlungspraktiken zum eigenen Vorteil hätten durchführen können. Ihre Selbstdarstellung sei dabei als Versuch zu deuten, auf Augenhöhe mit den Eroberern zu erscheinen.

JULIA BÜHNER (Münster) komplettierte die Beiträge zum (trans-)mediterranen Raum: Anhand der spanischen Eroberung der Kanaren im späten Mittelalter veranschaulichte sie einerseits Verarbeitungsstrategien der Eroberten. So sei die Eroberung z.B. schicksalsbezogen ausgedeutet oder Trauer und Erinnerung über Gesänge tradiert worden. Andererseits verdeutlichte sie Handlungsoptionen der Eroberten – diese hätten durch ihr spezifisches Wissen mit den Eroberern kollaborieren können.

In ihrem Abendvortrag demonstrierte ALISON BEACH (St. Andrews) die Anwendbarkeit von Ansätzen aus den Trauma Studies im Kontext der Hirsauer Reform und deren Folgen für die Gemeinschaft im Kloster Petershausen. Die Reformprozesse deutete sie dabei als über die monastische Historiographie erschließbares kulturelles Trauma.

Zu Beginn der dritten Sektion Eroberung gestalten richtete STEPHAN BRUHN (London) den Blick nochmals stärker gen Norden. Dabei erkannte er in Auseinandersetzung mit einer Predigt Wulfstans und dem Encomium Emmae reginae nicht nur ein narratives Angebot, das die Vorstellung einer Diskrepanz zwischen Eroberern und Eroberten über ein gemeinsames christliches Wertesystem aufgelöst habe. Er zeigte zudem auf, wie sich die Autoren bei ihren narrativen Verarbeitungen flexibler Interpretationsangebote bedient haben. Im Rekurs auf die während der Tagung häufig angesprochene Quellenarmut zu den Perspektiven der Eroberten und auf den einführend erklärten multilateralen, prozesshaften Charakter von Eroberungen betonte er treffend die Anschlussfähigkeit der in der Tagungseinleitung zur Diskussion gestellten Thesen.

Der Verhandlungscharakter von Eroberungen wurde auch im Beitrag von MAXIMILIAN NIX (Tübingen) deutlich. Anhand einer Untersuchung von zwei Kontroversschriften des Investiturstreits erläuterte er, wie die Verfasser ihre Kenntnisse argumentativ eingesetzt und ihre Vorgehensweisen dabei mit ihren individuellen Auffassungen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten korreliert hätten. Einmal mehr konnte gezeigt werden, dass Eroberung – wie Rike Szill einleitend formuliert hatte – nicht auf militärische Kontexte zu beschränken sei.

VEIT GROSS (Göttingen) legte den Fokus auf die englische Erhebung von 1381, anhand derer er Gestaltungsoptionen der Aufständischen aufzeigte. Ihre Einflussmöglichkeiten seien dabei von ihren strategischen Adaptionsfähigkeiten abhängig gewesen. Die Entwicklung immer neuer Vorgehensweisen der Eroberten hätten die Eroberer nicht unterbinden können.

HELEN WIEDMAIER (Mainz) erweiterte die Ergebnisse des Sektionsthemas um die beiden intentional divergierenden Ausgestaltungen der Schlacht bei Mühldorf. Anhand historiographischer Einträge verdeutlichte sie dabei die Einflussmöglichkeiten der Geschichtsschreiber auf die Deutung des Geschehens durch verschiedene narrative Strategien.

JÖRG ROGGE (Mainz) befasste sich schließlich mit dem Gelingen von militärischen Eroberungen anhand der sozio-politischen Transformation in Wales und Schottland unter Edward I. Militärischer Erfolg hätte sich nur dann manifestieren können, wenn er in eine anerkannte Verwaltungspraxis mündete. Mit Blick auf seine Fallbeispiele sei dies in Wales gelungen, in Schottland jedoch nicht.

In ihrer abschließenden Zusammenfassung resümierte KORDULA WOLF (Rom) systematisch und pointiert die Eindrücke und Ergebnisse der Tagung. Auf der Basis der in den Beiträgen der Tagung analysierten Quellen entwarf sie eine Systematisierung, die den unterschiedlichen Verfasserperspektiven mit Blick auf Eroberung und insbesondere auf die Eroberten Rechnung trug.

Mit differenzierendem Blick hoben die Vortragenden dieser Tagung spezifische eroberte Akteure und Akteursgruppen hervor. Innerhalb des geographisch und zeitlich breit angelegten Rahmens konnten dabei die vielseitig ausgeprägten, stets auf Interaktion beruhenden Aushandlungen während und infolge (herrschaftlicher) Transformationsprozesse eindrucksvoll aufgezeigt werden. Wechselwirkungen zwischen den daran beteiligten Parteien sind ebenso greifbar geworden wie die mannigfaltigen Handlungsspielräume und Sinnzuschreibungen der Eroberten.

Konferenzübersicht:

Andreas Bihrer und Rike Szill (beide Kiel): Begrüßung und Einführung

I. Eroberung erleben

Moderation: Patrick Nehr-Baseler (Kiel)

Keynote Lecture

Hermann Kamp (Paderborn): Das Aufbegehren der Eroberten. Absichten, Formen und Deutungen im Mittelalter (8. bis 14. Jahrhundert)

Anne Foerster (Paderborn): „Da sprach der Bretone voll Stolz.“ Die Stimmen der Eroberten in fränkischen Quellen

Philipp Frey (Kiel): Funktionalisierung von Verrat bei der Bewältigung von Eroberung im Frankenreich des frühen 9. Jahrhunderts

Bianca Frohne (Swansea/Kiel): Feindliche Übernahme? Konzepte, Bilder und Vorstellungen der „Überwältigung“ im Kontext körperlicher Schmerzerfahrungen im frühen Mittelalter

Isabelle Schürch (Bern/Sheffield): Reconquistas in Las Americas. Eine etwas andere Conquistageschichte zu Pferd

II. Eroberung bewältigen

Moderation: Karolin Künzel (Kiel)

Michael Grünbart (Münster): Strategien zur Bewältigung von Eroberung im griechischen Mittelalter

Richard Engl (München): Muslimische Perspektiven auf christliche Eroberung in Süditalien. Deutungsspuren vor Ort und im Ayyubidenreich (7./13. Jahrhundert)

Robert Friedrich (Greifswald): Die zwei Eroberungen von Menorca (1231 und 1287). Muslimische Akteure und die Könige von Aragón

Eric Böhme (Konstanz): Vom Šarq al-Andalus in die Krone Aragón? Die Entstehung des Königreiches València aus der Perspektive der Aljamas

Julia Bühner (Münster): Furchtlos vor der Macht des Schicksals. Die Wiederentdeckung und Eroberung der Insulae Fortunatae im Spätmittelalter

Abendvortrag

Alison Beach (St. Andrews): Trauma as analytical tool for an examination of medieval communities

Moderation: Rike Szill (Kiel)

III. Eroberung gestalten

Moderation: Janina Lillge (Kiel)

Stephan Bruhn (London): Büßen, Versöhnen, Einigen – zur narrativen Aushandlung des Verhältnisses zwischen Eroberern und Eroberten im Kontext der dänischen Herrschaft über England (1013–1042)

Maximilian Nix (Tübingen): Die Geschichte schreibt den Sieger. Wissen und Widerstand in den Kontroversschriften um 1100

Veit Groß (Göttingen): Die Trewe Communes von 1381. Subalterne Protestbewegungen des späten Mittelalters und die Grenzen der Aneignung

Helen Wiedmaier (Mainz): Sinnstiftung nach der Schlacht bei Mühldorf – die Darstellung der Besiegten in der Historiographie des 14. Jahrhunderts

Keynote Lecture

Jörg Rogge (Mainz): Nach dem Sieg oder: Welchen Wert hatte militärischer Erfolg im späten Mittelalter?

Kordula Wolf (Rom): Zusammenfassung

Schlussdiskussion