Sport-Arenen / Sport-Kulturen / Sport-Welten – Deutsch-französisch-europäische Perspektiven im „langen“ 20. Jahrhundert

Sport-Arenen / Sport-Kulturen / Sport-Welten – Deutsch-französisch-europäische Perspektiven im „langen“ 20. Jahrhundert

Organisatoren
Dietmar Hüser / Philipp Didion, Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte – Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes; Paul Dietschy, Université de Franche-Comté, Besançon
Ort
digital (Saarbrücken)
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.01.2021 - 29.01.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Didion / Jasmin Nicklas / Dietmar Hüser, Historisches Institut, Frankreichzentrum, Universität des Saarlandes

Ende Januar 2021 beschäftigten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern und Fachdisziplinen im Rahmen eines Workshops mit einem in der Forschung bislang nur wenig beachteten Thema: der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Geschichte von Sportstadien im „langen“ 20. Jahrhundert. Ziel war es, Sportarenen – besonders Fußballstadien – als Kristallisationspunkte herrschender Verhältnisse und soziokultureller Aushandlungsprozesse, als emotional aufgeladene Bedeutungs- bzw. Inszenierungsräume sowie als Orte der Professionalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung des Spitzensports zu analysieren. Dabei galt es, Fußballstadien nicht nur unter nationalen Vorzeichen, sondern in transnationaler – primär deutsch-französischer, aber auch europäischer – Perspektive in den Blick zu nehmen, um die Potentiale einer integrativen deutsch-französischen Sportgeschichte im europäischen wie internationalen Kontext auszuloten.

Mit einer organisatorischen wie inhaltlichen Einführung in das Tagungsprogramm, das gut 30 Vortragende aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz sowie zahlreiche internationale Gäste zusammenbrachte, eröffneten DIETMAR HÜSER (Saarbrücken) und PAUL DIETSCHY (Besançon) den Workshop. Ursprünglich als Präsenzveranstaltung im Graduate Centre der Universität des Saarlandes geplant, musste das Treffen coronabedingt im Onlineformat stattfinden. Die Diskussionen waren nicht weniger einträglich als bei Präsenztagungen, und das digital zwangsläufig strengere Zeitregiment hat die Prägnanz der Beiträge eher befördert. Auch ließen sich virtuell einige Kooperationen anbahnen, die künftig weitere wissenschaftliche Mehrwerte versprechen.

Das von Paul Dietschy moderierte Eingangspanel über Stadien und Raum begann thematisch mit dem Stade de Colombes nordwestlich von Paris. FRANZ KUHN (Metz/Saarbrücken) ging zunächst auf Colombes als Rugbystadion ein, in dem sich in den 1930er Jahren ein britisch-französischer Konflikt um die Vorherrschaft im Rugby entsponnen hat. Die abgekühlten britisch-französischen Rugby-Beziehungen hatten einerseits – so Kuhn – eine Hochphase der deutsch-französischen Begegnungen zur Folge, andererseits das Entstehen einer doppelten Rugbykultur in Frankreichs Spielstätten: die Spiele des XVer-Rugby-Amateurverbandes gegen vornehmlich europäische Auswahlmannschaften im Stadion Colombes, die Partien des 1934 neu gegründeten XIIIer-Rugby-Profiverbands gegen zahlreiche britische Teams in den Pariser Stadien Pershing und Buffalo. Aus der Perspektive des Fußballs näherte sich MICHAËL DELÉPINE (Besançon) der wechselvollen wie komplexen Geschichte des Stadions in Colombes und dessen Bedeutung auf lokaler, nationaler wie internationaler Ebene. Für letztere arbeitete Delépine einige Höhepunkte der deutsch-französischen Fußballgeschichte heraus und postulierte, dass Colombes als das Stadion des deutsch-französischen Fußballs in Frankreich gelten könne. Die letzten beiden Vorträge des Panels situierten sich in der spanischsprachigen Fußballlandschaft: JULIAN RIECK (Berlin) widmete sich dem Estadio Santiago Bernabéu als urbanem Inszenierungsraum für den Verein Real Madrid, für die Stadt Madrid, für Spanien und für die Außendarstellung der franquistischen Diktatur. Mit dem Aztekenstadion in Mexiko-Stadt wagte JEAN-CHRISTOPHE MEYER (Strasbourg) einen Blick nach Übersee. Im Zentrum seines Beitrags stand der mediale Blick aus Frankreich und der Bundesrepublik auf dieses imposante Bauwerk während der Weltmeisterschaften 1970 und 1986.

Im zweiten Panel ging es in drei Beiträgen um Stadien und Inszenierung. Den Anfang machte LAURENT BOCQUILLON (Besançon) mit Betrachtungen zur Rolle von Emotionen im „ersten“ Stade Vélodrome in Marseille (1937-1984). Er unterstrich die Multifunktionalität des Stadions, die sich nicht nur durch verschiedene dort praktizierte Sportarten, sondern auch durch außersportliche Aktivitäten – als Ort politischer Kundgebungen, aktuell als Impfzentrum – äußert(e). Diese Vielschichtigkeit zeigte ANSBERT BAUMANN (Tübingen/Saarbrücken/Nancy) auch am Beispiel der wechselvollen Geschichte des Stuttgarter Neckarstadions auf. Der Inszenierungsort Neckarstadion zeichnete sich durch eine ständige Anpassung an den Zeitgeist aus, was sich nicht zuletzt an den verschiedenen Namen der Arena über die Zeit hinweg ablesen lässt. CLAUS W. SCHÄFER (Erlangen) schloss dieses Panel mit einer Analyse der politischen Geschichte des Nürnberger Stadions ab und betonte dabei die mangelnde (sportliche) Bedeutung sowie den begrenzten Stellenwert der Spielstätte für die Nürnberger Bevölkerung.

Die Verknüpfung zwischen Stadien und Identifikation stand im Zentrum des dritten Tagungspanels. Mit einer vergleichenden Untersuchung der Stadien in Kaiserslautern und Reims bzw. Mönchengladbach und Saint-Étienne von den 1950er bis zu den 1980er Jahren rückte PHILIPP DIDION (Saarbrücken) transnationale Gemeinsamkeiten wie Unterschiede westdeutscher und französischer Fußballstadien in den Fokus. Auch wenn sich für die vier Stadien ähnliche Identifikationsprozesse auf städtischer, regionaler sowie nationaler Ebene ausmachen lassen, gibt es laut Didion doch grundlegende Unterschiede der respektiven Fußball- bzw. Stadionkulturen. Diese würden sich in der divergierenden Entwicklung beider Sportlandschaften, den dadurch entstandenen finanziellen Ungleichheiten, einer unterschiedlich ausgeprägten Fanszene sowie in den insgesamt viel stärker national ausgerichteten Spitzenmannschaften der französischen Liga manifestieren. Im Anschluss konzentrierte sich THOMAS BAUER (Limoges) auf den Nexus zwischen Fußball und Film. Am Beispiel von Coup de Tête von Jean-Jacques Annaud (1979) machte er deutlich, wie ein Regisseur durch den Einsatz filmischer Strategien eine Art Ethnographie der Atmosphäre und Intensität eines fiktiven Stadions – mit realen Vorbildern – auf die Leinwand transponieren kann. XAVIER BREUIL (Besançon) rückte schließlich die Geschichte des Brüsseler Heysel-Stadions in den Blickpunkt. Dabei ging es nicht primär um die Katastrophe von 1985, die 39 Menschen das Leben kostete, sondern um einen längeren Bedeutungszusammenhang der Arena vor und nach diesem Ereignis und deren Bedeutung als – zumindest zeitweise – nationaler Identifikationsort.

Im vierten Panel wurde der Zusammenhang von Stadien und Weiblichkeit thematisiert. Auf der Grundlage etlicher Zeitzeuginnen-Gespräche erörterte SASKIA LENNARTZ (Saarbrücken) die Rolle von Frauen bzw. Mädchen – als Fußballerinnen, als Schiedsrichterinnen, als Trainerinnen, als Zuschauerinnen etc. – auf den saarländischen Fußballplätzen der 1960er und 1970er Jahre. Die Nachwuchswissenschaftlerin bilanzierte, dass Frauen damals in der „Männerdomäne“ Fußball zwar nur eine untergeordnete Rolle gespielt, aber als Pionierinnen längerfristig dafür gesorgt hätten, Frauen zu einer festen, wenn auch weiterhin minoritären Größe auf dem Platz zu machen. Die beiden weiteren Vorträge dieses Panels beleuchteten die nationale französische Frauenfußballszene: Die Soziologin CAMILLE MARTIN (Lyon) interessierte sich für den Nexus zwischen knapper Verfügbarkeit von Plätzen zum Training fußballspielender Frauen und dem Entwicklungsgrad des Frauenfußballs innerhalb eines Clubs. Die Auswertung von Datensätzen des Französischen Fußballverbandes lasse einen solchen Nexus freilich nicht erkennen; vielmehr seien es andere (symbolische) Faktoren wie etwa Stigmatisierungen im Umfeld der Frauen, die Entwicklungstrends im weiblichen Fußball erklären könnten. Schließlich nahm LAURENCE PRUDHOMME (Lyon) die Rolle von Frauen in französischen Stadien des 20. Jahrhunderts sowie die allgegenwärtigen Schwierigkeiten und Hindernisse für fußballspielende Frauen auf dem Platz, für Frauen als Stadionarchitektinnen, für Frauen als Namensgeberinnen für Sportstätten etc. in den Blick.

Im fünften Panel zur Namensgebung und zu Stadien als Erinnerungsorten näherte sich JUSTIN LECARPENTIER (Caen) Stadionnamen aus einer deutsch-französischen Konfliktperspektive. Seiner Einschätzung nach sind die meisten Benennungen von Sportstätten in Frankreich nationalhistorisch begründet, während in Deutschland inzwischen Sponsorennamen dominieren. Am Beispiel des Bochumer Ruhrstadions legte HENRY WAHLIG (Dortmund) die enge Verzahnung zwischen der Stadtgeschichte und der 1911 erbauten Arena dar. Das mitten im Zentrum gelegene Fußballstadion fungiere als städtischer Erinnerungsort, und seine Geschichte eigne sich vorzüglich, um die Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert nachzuvollziehen. DIETMAR HÜSER (Saarbrücken) widmete sich dem „zweiten“ Wankdorf-Stadion in Bern (1954-2001) als pluralem Erinnerungsort auf verschiedenen Ebenen (international, national, kantonal, lokal) und schilderte die – fortwährenden – symbolischen Erinnerungskämpfe diverser Akteure und Gruppen, um das Stadion mit bestimmten Bedeutungen aufzuladen. An Wankdorf lasse sich zeigen, dass Sportarenen keine eindimensionalen und statischen Realitäten sind, sondern stets plurale oder multiple Erinnerungsorte, die sich als Resultate nachträglicher (Re-)Konstruktion permanent wandeln.

Im sechsten und letzten Panel zur Stadienarchitektur betrachtete zunächst ANTOINE BEAUDOIN (Paris) den Entstehungsprozess des Berliner Olympiastadions seit dem frühen 20. Jahrhundert. Sein architektonischer Blick auf die Arena fokussierte insbesondere den Umgang mit der Masse in der Architektur und ihrer Funktion im Zeremoniell. Die Sportwissenschaftler PHILIPPE VONNARD und GRÉGORY QUIN (beide Lausanne) stellten anschließend das „schönste Stadion der Schweiz“ vor: das Olympiastadion in Lausanne. Sie betonten, dass sich das zur WM 1954 von Architekt Charles-François Thévenaz konzipierte Stadion deutlich von den anderen zu dieser Zeit erbauten Schweizer Arenen abgesetzt habe und zur direkten wie indirekten Inspirationsquelle für Sportanlagen auf der ganzen Welt geworden sei. Zum Abschluss versuchten FLORIAN WITTMANN (Münster) und ANSELM KÜSTERS (Frankfurt am Main), quantitative Methoden der Digital Humanities für ein sporthistorisches Thema fruchtbar zu machen und mit Hilfe von Text-Mining-Techniken inhaltliche Diskurse in Stadionrezensionen deutscher Bau- und Architekturzeitschriften zu identifizieren und zu quantifizieren. Als Ergebnis einer ausführlichen Diskussion der Vor- und Nachteile dieser Methoden plädierten sie für einen Mixed-methods-Ansatz, der Text-Mining-Techniken mit einer qualitativen Auswertung koppelt.

Insgesamt veranschaulichte dieser Workshop am konkreten Beispiel zahlreicher Sportstadien in Deutschland, Frankreich und darüber hinaus, wie ertragreich der konsequent transnationale wie interdisziplinäre Blick auf die deutsch-französische Sportgeschichte im „langen“ 20. Jahrhundert sein kann. Zwar sind – auch dies wurde überdeutlich – die Forschungslücken auf diesem Feld noch immer enorm, doch stehen das beachtliche Potential, die Aussagekraft und der Erkenntniswert stadionspezifischer Studien im Bereich der Zeitgeschichte außer Frage. Und dies nicht „nur“ für sporthistorische Thematiken im engeren Sinne, sondern für die deutsch-französische bzw. europäische Politik- und Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschafts-, Beziehungs- und Perzeptionsgeschichte als ganze. Alles in allem würden die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sowie die zugeschalteten Interessierten Albert Camus vermutlich zustimmen: „Il n'y a pas d'endroit dans le monde où l'homme est plus heureux que dans un stade de football.“

Konferenzübersicht:

Paul Dietschy (Besançon) / Dietmar Hüser (Saarbrücken): Begrüßung und Einführung

Panel 1: Stadien & Raum – Lokal, national, global / Stades & espaces – Le local, le national, le global

Paul Dietschy (Besançon): Einführung und Moderation

Franz Kuhn (Metz/Saarbrücken): „Colombes“ vs. „Pershing“: Britisch-französischer Rugby-Konflikt mit deutschem Sparringspartner

Michaël Delépine (Besançon): Colombes et le football: du local à l'international (de 1924 aux années 1980)

Julian Rieck (Berlin): Das Estadio Santiago Bernabéu. Heimspielstätte Real Madrids und Bühne für die Welt

Jean-Christophe Meyer (Strasbourg): „(…) Et j’ai découvert le Stade Aztèque, Surpris et pétrifié de voir le géant (…)“ – Regards croisés franco-allemands sur le Stade Aztèque

Panel 2: Stadien & Inszenierung / Stades & mise en scène

Daniel Kazmaier (Saarbrücken): Einführung und Moderation

Laurent Bocquillon (Besançon): Du Stade municipal au Stade Vélodrome: la passion des Marseillais (1937-1984)

Ansbert Baumann (Tübingen/Saarbrücken/Nancy): „Stuttgart ist viel schöner als Berlin!” Das Stuttgarter Neckarstadion – Ein Inszenierungsort im Wandel der Zeit

Claus W. Schäfer (Erlangen): Von der „Volkserholungsstätte“ zum Reichsparteitagsgelände – Anmerkungen zur politischen Geschichte des Nürnberger Stadions

Panel 3: Stadien & Identifikation / Stades & identification

Dietmar Hüser (Saarbrücken): Einführung und Moderation

Philipp Didion (Saarbrücken): Mehr als „kalte Betonschüsseln“ – Ein deutsch-französischer Vergleich der Stadien in Kaiserslautern / Reims und Mönchengladbach / Saint-Étienne (1950er bis 1980er Jahre)

Thomas Bauer (Limoges): Le chaudron de Trincamp : Coup de Tête de Jean-Jacques Annaud (1979)

Xavier Breuil (Besançon): Le Heysel: du Stade du Centenaire au Stade du Roi Baudoin (1930-2007)

Panel 4: Stadien & Weiblichkeit / Stades & féminité

Jasmin Nicklas (Saarbrücken): Einführung und Moderation

Saskia Lennartz (Saarbrücken): Erst verboten, dann verlacht, aber wie ging es weiter? – Frauen und Sportstätten im saarländischen Fußball der 1960er und 1970er Jahre

Camille Martin (Lyon): L’effet des difficultés d’accès aux terrains sur le développement du football féminin

Laurence Prudhomme (Lyon): Les femmes interdites de stade?

Panel 5: Stadien, Namensgebung, Erinnerungsorte / Stades, toponymie, lieux de mémoire

Florian Weber (Saarbrücken): Einführung und Moderation

Justin Lecarpentier (Caen): Un marqueur mémoriel des conflits franco-allemands du 20e siècle: les noms de stades en France

Henry Wahlig (Dortmund): 110 Jahre Fußball an der Castroper Straße – Ein Unikat im deutschen Fußball und ein Spiegel der Bochumer Stadtgeschichte

Dietmar Hüser (Saarbrücken): Wankdorf II – Eine Berner Sport-Arena als pluraler Erinnerungsort im (Re-)Konstruktionsprozess 1952-2001

Panel 6: Stadien & Architektur / Stades & architecture

Daphné Bolz (Rouen/Münster): Einführung und Moderation

Antoine Beaudoin (Paris): Généalogie du projet de l’Olympiastadion de Berlin – Manipulations architecturales sur la masse bâtie pour conquérir les masses

Grégory Quin (Lausanne) / Philippe Vonnard (Lausanne): „Le plus beau stade de Suisse“ – Quelques réflexions sur la création du stade olympique de Lausanne

Anselm Küsters (Frankfurt am Main) / Florian Wittmann (Münster): Über die Form nachdenken. Eine Text-Mining-Analyse von Stadionrezensionen in deutschen Bau- und Architekturzeitschriften, 1912-2011

Bilanz und Perspektiven