Nachhaltigkeitsvisionen in der Moderne

Nachhaltigkeitsvisionen in der Moderne

Organisatoren
Laura Meneghello, Universität Siegen; Historisches Seminar der Universität Siegen
Ort
digital (Siegen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.03.2021 - 12.03.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Anja Westermann, Historisches Institut, Universität Paderborn

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist heutzutage omnipräsent, als Schlagwort dient er nicht selten Imagekampagnen von Unternehmen, Produkten oder Parteien. Die Frage stellt sich, ob er dadurch nicht letzten Endes zu einem Containerbegriff verkommt, da er mittlerweile immer weiter gefasst wird. Darüber hinaus erfreut sich das Konzept einer langen Tradition, insbesondere in Deutschland, gilt doch der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) als Schöpfer des Begriffs. Eine historische Analyse der Diskurse und Praktiken der Nachhaltigkeit scheint daher dringend erforderlich. An dieser Stelle knüpft die von der European Society for Environmental History (ESEH) geförderte Veranstaltung an. Der Workshop befasste sich mit der Entstehung und Transformation von Nachhaltigkeitsdiskursen in der Moderne. Ziel war es, verschiedene Perspektiven für die historische Entwicklung des Konzepts der Nachhaltigkeit im Laufe der Zeit, seine sich ändernden Bedeutungen nach verschiedenen Disziplinen, Sprachen und geografischen Regionen sowie seine soziale und kulturelle Konstruktion zu beleuchten. Die Vielfältigkeit der Idee von Nachhaltigkeit und ihre Verwendung seitens der historischen Akteure in den verschiedenen Handlungsfeldern sollten im Fokus stehen und aus unterschiedlichen methodischen und disziplinären Perspektiven betrachtet werden. Die Ausgangshypothese war, dass Nachhaltigkeit, je nach gesellschaftlichem, politischem und disziplinärem Kontext, unterschiedlich konstruiert und immer wieder neu ausgehandelt wurde und wird.

MARTIN GABRIEL (Klagenfurt) eröffnete das erste Panel zu Nachhaltigkeit und Ressourcen, indem er anhand des frühneuzeitlichen Silberbergbaus in Mexiko und der Andenregion die Problematik der Erhaltung der Wälder betrachtete. Er legte dar, dass die Bestrebungen zum schonenden Umgang mit den Naturressourcen nicht auf einen konservatorischen Umweltschutzgedanken zurückzuführen waren, sondern im Kontext von ökonomischen Interessen zu sehen sind. Anhand der Beispiele wurde deutlich, dass auch die Demographie eine tragende Rolle in der wirtschaftlichen Rentabilität spielte. Die Deutungshoheit darüber, was im Bereich von Umweltzerstörung und Menschenverlusten noch als nachhaltig angesehen wurde, lag in diesem Kontext vor allem bei Minenbetreibern und der spanischen Krone, war also untrennbar mit kolonialen Herrschaftsverhältnissen verflochten.

MARTIN STUBER (Bern) beschäftigte sich mit der Ressource Holz im Kontext von Nachhaltigkeitsdebatten und skizzierte, wie sich in der Schweiz unter den Bedingungen einer weitreichenden Gemeindeautonomie ein staatliches Nachhaltigkeits-Nutzungsregime im Bereich der Forstwirtschaft etablieren konnte, das Umweltpolitik auf nationaler Ebene letztlich konstituierte. Begleitet wurde dieses Unterfangen durch die fortlaufende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Forstwirtschaft. Stuber unterstrich, dass es bei diesem Prozess keineswegs nur um den Schutz vor Naturgefahren durch Wälder ging. Den Hintergrund bildeten ökonomische Interessen sowie die damit einhergehende systematische Steigerung der Holzerträge. Die Durchsetzung des staatlichen Eingriffs in die kommunale Selbstverwaltung gelang daher nur durch die enge Verknüpfung des Schutzes vor Naturgefahren mit der nachhaltigen Holzproduktion.

Zu Beginn des zweiten Panels zum Thema Naturschutz wandte JOHANNA SACKEL (Paderborn) sich der Ökonomisierung der Meere zu. An den Fallbeispielen Fisch und Wal zeigte sie, wie sich ab 1970 das Nachhaltigkeitsdiktum auch im Naturschutz etablierte und der Bezug darauf sich als Strategie im Meeresumweltschutz durchsetzte. Mit dem Begriff „Ressourcifizierung“ beschrieb sie in diesem Kontext die Umdeutung des Meeres und seiner Bewohner zu Ressourcen, denen damit ein konkreter Nutzwert zugeschrieben wurde. Anhand des Wals zeigte sie den Wandel von der ökonomischen Ressource über die esoterische Aufladung hin zu einer ökologischen Klimaressource auf. Der Prozess der Ressourcifizierung, begünstigt durch das Nachhaltigkeitskonzept, förderte somit letztendlich den Naturschutz, indem er ihn anschlussfähig an den Umweltschutz machte.

HANS SCHOUWENBURG (Utrecht) analysierte den strategischen Gebrauch des neuen Konzepts von nachhaltiger Entwicklung durch Experten der ökologischen Wissenschaften für den Naturschutz. Seit den 1970er Jahren konkurrierten drei einflussreiche epistemische Zugänge zu Nachhaltigkeit um die Hegemonie innerhalb der internationalen Naturschutzorganisationen wie etwa der IUCN. Die drei Konzeptionen fokussierten sich entweder auf den Schutz der Ökosysteme, auf soziale Gleichheit und Partizipation oder auf die Stabilisierung von Biodiversität. Das Resultat dieser komplexen Aushandlung und Evolution der drei Ansätze ist die Konzeption von Nachhaltigkeit mit den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales, wie sie sich seit dem Brundtland-Bericht verbreitet hat.

In der Keynote hob ELKE SEEFRIED (Aachen) hervor, dass sich ganz verschiedene Ziele, Bedeutungsdimensionen und Interessen im Begriff der Nachhaltigkeit verankern ließen. Genau diese Eigenschaft machte und macht ihn so attraktiv, doch drohe der Begriff so zu einer Leerformel zu werden und verliere sein diskursives und kommunikatives Gewicht. Seefried zeichnete nach, dass der Ausgangspunkt aktueller Nachhaltigkeitsdiskurse in der Verbindung von internationaler Umwelt- und Entwicklungspolitik der 1970er Jahre liege, die sich in den Diskussionen über die kommenden „Grenzen des Wachstums“ bündelten. Im Zuge des Brundtland-Berichts und der UN-Konferenz von Rio 1992 sei „nachhaltiges Wachstum“ zum hegemonialen Leitbild globaler Umwelt- und Entwicklungspolitik geworden. Nach 1992 avancierte „nachhaltige Entwicklung“ zur zivilgesellschaftlichen Gestaltungsstrategie, weil die in Rio verabschiedete Agenda 21 eine lokale Aneignung des Diskurses ermöglichte. Mitte der 1990er Jahre erhielt das Leitbild der Nachhaltigkeit in Deutschland und Europa universale Geltung als Strategie der ökologischen Modernisierung und der Stärkung ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit. Der Begriff avancierte dadurch zu einem neuen zukunftsorientierten Leitbild, das Ökologie, Ökonomie und Soziales in Einklang bringen sowie die Wahrnehmung von globalen Interdependenzen schärfen sollte. Die Aneignung und Verwendung globaler Ordnungsmuster seien daher als Resultat der Aushandlung zwischen dem integrativen Leitbild der umfassenden Nachhaltigkeit und dem wettbewerbsbasierten Imperativ der Globalisierung zu verstehen. Zeitgleich rekonfigurierte das Sprechen über nachhaltige Entwicklung und deren Aushandeln das moderne Fortschrittsbewusstsein. Diese wechselnden Wertbezüge und Kommunikationsstrategien, die sich im Nachhaltigkeitsdiskurs widerspiegelten, trugen dazu bei, dass sich der Begriff so stark weiten konnte. Der Verweis auf Nachhaltigkeit sei, so argumentierte Seefried, eine kongeniale politische Kommunikationsstrategie, die den wissenschaftlichen Erklärungswert des Begriffs einschränke.

JENS LACHMUND (Maastricht) eröffnete das dritte Panel zu Nachhaltigkeitsvisionen und -politik mit einem Blick auf die Visionen und die Politik der städtischen Landwirtschaft in London. Er zeichnete nach, wie sich diese Visionen formten und wie sie im institutionellen und sozio-materiellen Kontext von London angeeignet und ausgehandelt wurden. Anhand dieser Fallstudie zeigte Lachmund, wie verschiedene Akteure, etwa Bürger:innen oder Politiker:innen, in den Lernprozess und seine Aushandlung involviert sind. Die Visionen von Nachhaltigkeit bei der Entwicklung der städtischen Landwirtschaft sind nicht selbstevident, sondern wurden durch die drei miteinander verflochtenen Prozesse der Wissensproduktion, des Lernens und der Interrelation vorangetrieben.

ERIKO YAMASAKI und MELANIE UTH (beide Köln) erweiterten die bisherigen Perspektiven des Workshops um Erkenntnisse zum Dilemma der Entwicklung des internationalen Tourismus und des Lagunen-Managements anhand einer ethnografischen Feldstudie in Mexiko. Die globalen Verflechtungen sowie nicht nachhaltiges Konsumieren und Produzieren erhöhen den Druck auf die dortige Umwelt. Gleichzeitig bilden sich lokale Initiativen, die die Umwelt vor den Folgen dieser Entwicklung schützen wollen, aber zugleich auch die globalen Verflechtungen zum Schutz nutzen. Diese komplexen diskursiven Ebenen wurden anhand von Beispielen präsentiert, die zeigten, wie Betroffene ihre Vorstellung einer nachhaltigen Zukunft aufgrund ihrer Erfahrungen beim Halten des empfindlichen Gleichgewichts zwischen dem Schutz der lokalen Umwelt und der Entwicklung des internationalen Tourismus ausbildeten.

Im letzten Panel zu Nachhaltigkeit, Energie und Verkehr verknüpfte LISANNE ROTHER (Köln) das Veranstaltungsthema mit der Umweltkommunikation. Anhand der Imagewerbung der Elektrizitätswirtschaft, insbesondere der Informationszentrale für Elektrizitätswirtschaft (IZE) in den 1980er Jahren, analysierte sie die Kommunikations- und Visualisierungsstrategien sowie die damit verwobenen Vorstellungen von nachhaltigem Wirtschaften und Handeln. Strom aus Wasser, Wind und Sonne wurde als nachhaltig deklariert, wenngleich der Begriff in den Quellen nicht explizit verwendet wurde. Parallel wurden in den Kampagnen jedoch Zweifel gesät, um die „alten“ Energien als alternativlos darzustellen. Nichtsdestotrotz verstanden die Unternehmen Umweltschutz als imagefördernd und lancierten daher Umwelthandeln als Unternehmenspolitik.

LAURA MENEGHELLO (Siegen) analysierte im letzten Vortrag die Nachhaltigkeitsdiskurse in Bezug auf Pläne von pneumatisch angetriebenen Transportsystemen und erweiterte dadurch die Perspektive des Workshops um eine technokratische Nachhaltigkeitsdebatte. Sie legte dar, dass die aktuellen Visionen von pneumatisch angetriebenen Netzen als Antwort auf Klima- und Umweltprobleme in einer Kontinuität zu den utopischen Rohrpostprojekten des 19. Jahrhunderts und den sogenannten atmosphärischen Eisenbahnen stehen. Insbesondere in Bezug auf den Transport wird, sowohl in den früheren als auch in den zeitgenössischen Diskursen, das Narrativ der Luftreinheit besonders beachtet. Damit einhergehend lässt sich eine Transformation der Attribute „sauber“ und „gesund“ zu „nachhaltig“ feststellen. Im Bereich der pneumatischen Transportsysteme tritt darüber hinaus die Verflechtung von Technikoptimismus und Nachhaltigkeitsdiskursen besonders zu Tage.

In der abschließenden Zusammenfassung und Diskussion resümierte Noyan Dinçkal (Siegen) systematisch und pointiert die Eindrücke und Ergebnisse des Workshops. Auf der Basis der Beiträge des Workshops unterstrich er die konstruktivistische Sicht auf den Nachhaltigkeitsbegriff, dem immer auch eine Zukunftsvision wie auch ein Versprechen inhärent seien. Dem Nachhaltigkeitskonzept sei dadurch zudem eine Verschränkung der zeitlichen Dimensionen immanent, da es eine Vision für die Zukunft verspreche, die erst in der Retrospektive bewertet werden könne.

Mit nuancierendem Blick hoben die Vortragenden spezifische Bedeutungsdimensionen und Aushandlungsprozesse innerhalb dieses Kontextes hervor. Dank des räumlich und konzeptionell breit angelegten Ansatzes des Workshops konnten dabei die vielseitig ausgeprägten, stets auf Wechselwirkung beruhenden Aushandlungen während und infolge des Transformationsprozesses des Nachhaltigkeitsbegriffs eindrucksvoll aufgezeigt werden. Überlagerungen, Beeinflussung, Zusammenspiel und Konkurrenz zwischen den beteiligten Akteuren sind ebenso deutlich geworden wie die mannigfaltigen Handlungsspielräume und Sinnzuschreibungen. In der Essenz ließ sich festhalten, dass das Konzept der Nachhaltigkeit obwohl es aufgrund seiner Vagheit zunehmend kritisiert wird, trotzdem wirkmächtig ist. Die Historizität von Nachhaltigkeit beziehungsweise des Nachhaltigkeitsbegriffs, verbunden mit der Frage danach, wie der Begriff von wem und weswegen fruchtbar gemacht wird, gilt es daher weiter zu erforschen.

Konferenzübersicht:

Noyan Dinçkal (Siegen): Begrüßung / Welcome

Laura Meneghello (Siegen): Einführung: Nachhaltigkeitsvisionen

Panel I: Nachhaltigkeit und Ressourcen

Moderation: Angela Schwarz

Martin Gabriel (Klagenfurt): Silberbergbau in Spanisch-Amerika. Zur „Sustainability“ von Mensch und Natur im kolonialen Kontext

Martin Stuber (Bern): Hochwasserschutz und Holzrendite – Diskurse der Nachhaltigkeit in der Schweiz im Übergang zur Industriegesellschaft

Panel II: Naturschutz

Moderation: Uta Fenske

Johanna Sackel (Paderborn): Zwischen Artenschutz und Ressourcenpolitik – zur ambivalenten Geschichte des Meeresschutzes seit den 1970er Jahren

Hans Schouwenburg (Utrecht): Nature Conservation Experts and Sustainable Development, 1970–2000

Keynote
Elke Seefried (Aachen): Zeitgeschichte der Nachhaltigkeit

Panel III: Nachhaltigkeitsvisionen und -politik

Moderation: Laura Meneghello

Jens Lachmund (Maastricht): Imagining the Sustainable City: The Visions and Politics of Urban Agriculture in London

Eriko Yamasaki / Melanie Uth (beide Köln): Visions of Sustainable Future Shaped through a Dilemma: International Tourism Development and Lagoon Management in Bacalar, Mexico

Panel IV: Nachhaltigkeit, Energie und Verkehr

Moderation: Noyan Dinçkal

Lisanne Rother (Köln): „Wie weit kommen wir mit den neuen Energien?“ Nachhaltiger Strom in der Imagewerbung der Elektrizitätswirtschaft der 1980er Jahre

Laura Meneghello (Siegen): Utopien des pneumatischen Transports als „nachhaltige Alternative“

Abschlussdiskussion