Kollision und Interferenz normativer Ordnungen im frühen und hohen Mittelalter. Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte e.V.

Kollision und Interferenz normativer Ordnungen im frühen und hohen Mittelalter. Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte e.V.

Organisatoren
Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e.V.
Ort
online (Konstanz)
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2021 - 18.03.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Patrick Breternitz, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, die coronabedingt um ein Jahr verschoben werden und digital stattfinden musste, beschäftigte sich mit Kollisionen und Interferenzen normativer Ordnungen. Ziel der Tagung war es nicht nur, wie STEFAN ESDERS (Berlin) und KARL UBL (Köln) in ihrer Einführung betonten, die Phänomene zu erforschen, sondern auch die Diskussion über Begriffe wie „Recht“ und „Norm“ sowie über unterschiedliche Arten von Pluralität voranzutreiben. Sie stellten für die Tagung eine Differenzierung zwischen normativer Pluralität, rechtlicher Pluralität (Normen, die vor Gericht zur Anwendung kommen konnten) und jurisdiktioneller Pluralität (z.B. Forum-Shopping) zur Diskussion.

Uneindeutigkeit und Pluralität von Recht seien, so der Rechtshistoriker PETER OESTMANN (Münster) in seinem Impulsreferat, aus historischer Sicht der weit verbreitete Normalzustand und auch in der Gegenwart stark verbreitet. Anhand zahlreicher Beispiele vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit arbeitete Oestmann eine Typologie der Rechtsvielfalt heraus, der er eine Reihe mittelalterlicher Lösungsmöglichkeiten gegenüberstellte. Scharf kritisierte er das Konzept der Multinormativität von Thomas Duve und plädierte für die Beibehaltung der Begriffe „Rechtsvielfalt“ und „Rechtspluralismus“, um rechtliche Normen von anderen, nicht mit Zwang durchsetzbaren Normen wie Sitte oder Moral abgrenzen zu können.

STEFFEN PATZOLD (Tübingen) zweifelte an, dass sich im 9. Jahrhundert kirchliches und weltliches Recht als zwei fundamentale Ordnungen gegenüberstanden. Schließlich sei alles Recht ekklesiales Recht, wenn ecclesia nach Mayke de Jong die Gemeinschaft aller Christen im Reich bezeichne. Für das Karolingerreich des 9. Jahrhunderts konstatierte Patzold eine Fülle, ja Überfülle von Normen, die alle von allen an einem Streit Beteiligten zum Argument gemacht werden konnten. Normen seien vor allem genutzt worden, um Anhänger als Unterstützer in einem Streit zu mobilisieren, weshalb er zwar von normativer, aber nicht von rechtlicher oder jurisdiktioneller Pluralität sprechen möchte.

JENNIFER DAVIS (Washington, D.C.) stellte eine Urkunde Karls des Großen aus dem Jahr 797 für das Kloster Prüm, die einen langwierigen Rechtsstreit um zwei villae zum Abschluss gebracht hatte, in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen über die rechtliche Welt dieses Herrschers. Ihr Befund weichte von Patzolds Beobachtungen zum 9. Jahrhundert ab, da sie in der Urkunde eine rechtliche Pluralität („plurality of legal frameworks“) in der Praxis verwirklicht sah. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Davis den Referenzen auf Rechtsquellen. Diese Referenzen seien größtenteils bewusst unspezifisch gestaltet worden, um einen größeren Handlungsspielraum zu gewinnen.

ALICE HICKLIN (London) nahm mit den scabini (Schöffen) eine Gruppe von Akteuren in den Blick, die nicht selten mit rechtlichem bzw. normativem Pluralismus konfrontiert gewesen sein dürfte. In Abgrenzung zur älteren Forschung, die eine Lücke zwischen dem Aufkommen der scabini in der Karolingerzeit und einem erneuten Auftreten im 12. Jahrhundert postuliert hatte, gelang es ihr anhand zahlreicher Quellenbeispiele und Verbreitungskarten überzeugend, eine Kontinuität vom Früh- bis ins Hochmittelalter plausibel zu machen. Die scabini stellten für Hicklin keinen Versuch dar, Recht zu vereinheitlichen.

FRANÇOIS BOUGARD (Paris) warf einen schlaglichtartigen Blick auf Italien von der vorfränkischen Zeit bis ins 11. Jahrhundert. Dabei untersuchte er insbesondere für eine Kollision unterschiedlicher Rechte prädestinierte Rechtsfälle, wie beispielsweise ethnisch gemischte Ehen oder Probleme im Rahmen des Launegilds, das nach langobardischem Recht als Gegenleistung für eine Schenkung aufgebracht werden musste, um dieser dauerhafte Gültigkeit zu verleihen. Anhand des italienischen Quellenmaterials konnte Bougard herausarbeiten, dass Rechtspluralismus für die betroffenen Individuen häufig eine geringere Herausforderung darstellte, als von der Forschung befürchtet. Seine Beobachtung deckte sich mit den Erkenntnissen weiterer Vorträge, dass Pluralität nicht nur Probleme verursachen, sondern auch Chancen und Handlungsspielräume eröffnen konnte.

LIOBA GEIS (Köln) beschäftigte sich mit den von der bisherigen Forschung sträflich vernachlässigten Simoniediskursen vor dem 11. Jahrhundert. Für das 9. Jahrhundert postulierte sie einen konkreten Regelungsbedarf vor allem im Hinblick auf Priester. Die hauptsächlich von Bischöfen getragene Bekämpfung der Simonie bettete sie in allgemeinere Disziplinierungsbestrebungen des Klerus ein. In den Kirchenrechtssammlungen Reginos von Prüm und Burchards von Worms konnte Geis unterschiedliche Umgangsmöglichkeiten mit widersprüchlichen Normen zur Simonie herausarbeiten (Präzisierung des Tatbestandes bei Regino und Vereinheitlichung und Verschärfung der Sanktionierung bei Burchard), die sie auf unterschiedliche Gestaltungsspielräume aufgrund der Stellung und Funktion der Kompilatoren und Werke zurückführte.

Bis auf wenige Ausnahmen wie die Collectio Hibernensis aus dem 8. Jahrhundert war die Widersprüchlichkeit kirchlicher Rechtsnormen bis zum späten 11. Jahrhundert kein Thema in bedeutenden Kirchenrechtssammlungen, wie CHRISTOF ROLKER (Bamberg) betonte. Sein Durchgang durch die wichtigsten Kirchenrechtssammlungen ergab zwar keine entwickelte Rechtsquellenlehre in vorgratianischer Zeit, zeigte aber durchaus auch das Bedürfnis, die Vielfalt der Rechtsquellen in eine Ordnung zu bringen. Für Rolker erweiterten die widersprüchlichen Kanones den Handlungsspielraum des geistlichen Richters in der pastoralen Praxis und konnten auch eine didaktische Funktion für die Vermittlung exegetischer Techniken übernehmen. Langfristig sollte sich die Distinktionstechnik, wie sie sich beispielsweise bei Bonizo von Sutri zeige, durchsetzen und damit die magistri in den Mittelpunkt rücken.

NICOLAS SCHROEDER (Brüssel) wendete sich mit Ludolf Kuchenbuch und Thomas Kohl gegen das in seinen Augen vor allem in Deutschland verbreitete Forschungskonzept der Grundherrschaft. Klösterliche Herrschaftsformen des 12. Jahrhunderts seien für ihn keine kohärenten und starren Rechtssysteme. Lokale Herrschaftsformen seien vielmehr differenziert zu betrachten, wobei Rechtsweisungen als konkreten Situationen, in denen Herrscher und Beherrschte zusammenkamen, eine besondere Bedeutung zukomme. Im Rahmen der Rechtsweisungen sei es zur öffentlichen Anerkennung der Herrschaftsbeziehung durch die Betroffenen gekommen. An ausgewählten Quellenbeispielen machte Schroeder deutlich, dass Rechtsweisungen eine hohe Flexibilität innegewohnt habe, da hier „Macht ohne Wissen“ auf Seiten der Äbte und „Wissen ohne Macht“ auf der Seite der Schöffen und Zeugen aufeinandergeprallt seien.

Die Dekonstruktion des Lehnswesens, eines anderen Forschungsparadigmas, stand im Zentrum des Vortrags von JÜRGEN DENDORFER (Freiburg im Breisgau). Die Lehnsentscheidungen des Königs- und Hofsgerichts in staufischer Zeit interpretierte er überzeugend als Reaktion auf unterschiedliche und vielfältige rechtliche und normative Vorstellungen vor Ort. Ein systematisches Lehnswesen, wie von der älteren Forschung postuliert, vermochte Dendorfer für die Zeit bis 1250 in den Quellen nicht zu erkennen. Um der Vielfalt an Leihen von Land und Herrschaftsrechten gerecht zu werden, schlug er vor, den Begriff „Lehen“ durch den weiteren Begriff der Leihe zu ersetzen.

CHRISTINA ABEL (Saarbrücken) beschäftigte sich mit Bündnisverträgen italienischer Kommunen im 13. Jahrhundert und vor allem mit den präventiven Maßnahmen, die Bündnispartner ergriffen, um Normenkollisionen zu verhindern. Aus den Detailregelungen der Verträge konnte Abel ein hohes Bewusstsein der Zeitgenossen für unterschiedliche Normen in den einzelnen Bündnisstädten herausarbeiten. Dabei habe Bündnisrecht je nach Ausgestaltung des Vertrages Stadtrecht, Kaiserrecht oder auch im Hinblick auf vorher eingegangene Bündnisse anderes Bündnisrecht brechen können. Auf lokaler Ebene und in der sozialen Praxis nahm sie noch keine Dominanz des ius commune, sondern eine Vielseitigkeit normativer Ordnungen wahr.

FLORIAN HARTMANN (Aachen) beobachtete in den Kontroversschriften des späten 11. Jahrhunderts ein zunehmendes Bewusstsein für Normenkollision und Versuche ihrer Überwindung durch eine Hierarchisierung von Autoritäten, wobei sich keine einheitliche Terminologie für rechtliche Phänomene und Sphären erkennen lasse. Die durch die Normenvielfalt gegebene Flexibilität habe sich für die Suche nach Kompromissen aber auch als vorteilhaft erwiesen. Die gelehrten theoretischen Diskussionen hätten jedoch in den konkreten politischen Auseinandersetzungen oft eine geringere Bedeutung gespielt als traditionelle Formen der Ausgleichsfindung.

SIMON TEUSCHER (Zürich) betonte in seiner Zusammenfassung die große Vielfalt offengelegter normativer Ordnungen und plädierte dafür, die von Margaret Davies für die Betrachtung von Rechtspluralität vorgeschlagene Differenzierung zwischen einer Binnen- und einer Außenperspektive auf das Recht stärker zu berücksichtigen. So beobachtete er, dass die Akteure die Vielfalt des Rechts meist nicht aus einer Metaperspektive, sondern aus der Perspektive der in ihrer Rechtspraxis gültigen normativen Ordnung betrachteten, ohne sich vielleicht überhaupt der eigenen abgrenzbaren normativen Ordnung bewusst zu werden. Auch müsse verstärkt gefragt werden, wie die vermehrte Wahrnehmung von Widersprüchen innerhalb eines Normensystems im Zusammenhang mit einer stärkeren Wahrnehmung von Kollisionen zwischen verschiedenen Normensystemen stehe. Vor dem Hintergrund der heutigen Normenvielfalt und der daraus resultierenden Probleme begriff Teuscher die auf der Tagung diskutierten Kollisionen und Interferenzen mittelalterlicher normativer Ordnungen als Chance, um die Diskussion über Rechtspluralität von einer zu starken Fokussierung auf den Staat zu befreien.

Die Tagung zeigte, dass sich die große Bandbreite der in verschiedenen Jahrhunderten und auf verschiedenen Gebieten beobachteten Pluralität im Recht schwierig mit einem gemeinsamen Begriff fassen lässt. Jurisdiktionelle Pluralität spielte in den Vorträgen nur eine untergeordnete Rolle, während normative oder rechtliche Pluralität oft festgestellt wurde. Allerdings wurde im Laufe der Tagung deutlich, dass Definition und Abgrenzung von normativer und rechtlicher Pluralität durchaus divergierten. Nicht zuletzt ist die Ursache dafür in unterschiedlichen Rechtsbegriffen zu suchen. Das Verhältnis von Recht und Norm unterlag im Mittelalter sowohl in geographischer und zeitlicher als auch in sozialer Hinsicht einem Wandel. Die Untersuchung von Kollisionen und Interferenzen normativer Ordnungen birgt das Potential, diese Begriffe weiter zu schärfen.

Konferenzübersicht:

Stefan Esders (Berlin) / Karl Ubl (Köln): Einführung in das Tagungsthema

Peter Oestmann (Münster): Rechtsschichten, Rechtskreise, Rechtsordnungen. Rechtsvielfalt als Problem der Rechtsgeschichte

Steffen Patzold (Tübingen): „Weltliches Recht“ und „Kirchliches Recht“ im 9. Jahrhundert? Überlegungen zu einer problematischen Unterscheidung

Jennifer Davis (Washington, D.C.): Charlemagne’s Legal World

Alice Hicklin (London): The scabini after Charlemagne

François Bougard (Paris): Collisions et accommodements dans la pratique sociale du droit en Italie, VIIIe–XIe siècle

Lioba Geis (Köln): Moralische Ökonomie und kirchliches Amt. Simoniediskurse im Kirchenrecht (9. bis frühes 11. Jahrhundert)

Christof Rolker (Bamberg): Kollisionen und Interferenzen in den Sammlungen des kanonischen Rechts (8. bis 12. Jahrhundert)

Nicolas Schroeder (Brüssel): Asserentes eas nulli ecclesiae iuri subiacere. Konflikte und normative Ordnungen in der kirchlichen „Grundherrschaft“ zwischen Seine und Rhein im 12. Jahrhundert

Jürgen Dendorfer (Freiburg im Breisgau): Auf dem Weg zu einer neuen normativen Ordnung? Leihe- und Lehnrecht zwischen sozialer Praxis und gelehrten Rechten (12./13. Jahrhundert)

Christina Abel (Saarbrücken): Quod Deus advertat. Zum Umgang mit Normkollisionen in den Bündnisverträgen italienischer Kommunen im 13. Jahrhundert

Florian Hartmann (Aachen): Das Ringen um die Rechtsordnung in der Welt. Die Bewältigung von Normkollisionen in den Kontroversschriften des Investiturstreits

Simon Teuscher (Zürich): Zusammenfassung


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