Die Habsburger in Schwaben – Perspektiven der Forschung

Die Habsburger in Schwaben – Perspektiven der Forschung

Organisatoren
Stadt Günzburg; Bezirk Schwaben; Historischer Verein für Schwaben; Historischer Verein Günzburg e.V.
Ort
digital (Günzburg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.03.2021 - 26.03.2021
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Von
Gregor Jakob, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Habsburger waren seit dem Spätmittelalter eine der bedeutendsten und einflussreichsten Herrschaftsdynastien Europas und stellten von 1439 bis 1806 nahezu ohne Unterbrechung die Könige bzw. Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Häufig in Vergessenheit gerät jedoch der weitreichende Einfluss, den die Habsburger über Jahrhunderte hinweg auf die Entwicklungen im schwäbischen Süddeutschland nahmen. Denn als Teil der bereits unter Zeitgenossen als „Schwanzfeder des Kaiseradlers“ titulierten österreichischen Vorlande standen zahlreiche schwäbische Gebiete wie die Markgrafschaft Burgau bis zum Untergang des Alten Reichs unter der Oberhoheit des Hauses Habsburg. Umso erstaunlicher mutet es an, dass die langwährende habsburgische Landesherrschaft im kulturellen Bewusstsein der Region kaum präsent zu sein scheint – eine Lücke auf der historisch-kulturellen „mental map“, in die die Tagung nun tiefere Schneisen schlagen konnte. Sie war konzentrisch um die Stadt Günzburg als Hauptort der ehemaligen Markgrafschaft Burgau angelegt, von wo aus ein ausgedehnter politik-, rechts-, sozial-, kultur-, wirtschafts- sowie kirchenhistorischer Bogen über Gesamt-Vorderösterreich gespannt wurde.

Zu Beginn zeichnete BERNHARD NIETHAMMER (Illerbeuren) die baugeschichtliche Entwicklung des Günzburger Schlosses – des einzigen von den Habsburgern in Deutschland errichteten Komplexes – nach. Unter Erzherzog Ferdinand II. von Tirol in den Jahren 1564 bis 1580 entstanden, von 1610 bis 1618 Residenz des Markgrafen Karl von Burgau, verlor es durch zahlreiche Umbauten und weitreichende Zerstörungen in den folgenden Jahrhunderten weitgehend seinen ursprünglichen baulichen Charakter. Im Rahmen einer Generalsanierung wurde der Schlosskomplex nun erstmals einer eingehenden bauforscherischen Untersuchung unterzogen, die eine Vielzahl neuer Befunde hervorbrachte und den bisherigen Forschungsstand zur Bau- und Nutzungsgeschichte revidiert. Niethammer profilierte die Zeit der Renaissance als wesentliche Gestaltungsepoche, von der sich weitaus mehr erhalten habe als bisher angenommen. Bemerkenswert erscheint zudem, dass die repräsentative Bedeutung des Schlosses auch nach 1618 erhalten blieb. So war es bis weit in das 18. Jahrhundert hinein ein Symbol habsburgischer Herrschaftsansprüche, wovon nicht zuletzt ein vor gut 200 Jahren zerstörter und nun wiederentdeckter Festsaal samt aufwendig gestalteter Wandmalereien ein instruktives Zeugnis ablegt. Zum reinen Verwaltungsgebäude wurde der Komplex erst durch die Eingliederung Günzburgs in das bayerische Königreich 1806.

Einen Überblick zum Stand der Vorderösterreich-Forschung lieferte GERHARD HETZER (Augsburg), der ein chronologisches Bild von den ersten historischen Arbeiten im ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zu Studien des 20. und 21. Jahrhunderts zeichnete. Eine wesentliche Zäsur lasse sich zunächst für die Jahre zwischen 1875 und 1895 erkennen, innerhalb derer die Vorderösterreich-Forschung wichtige Impulse erfuhr, wohingegen die vorangegangenen Jahrzehnte bis auf einige Ausnahmen wie Raisers „Guntia“ von 1823 durch eine weitgehende „Tabuisierung“ Vorderösterreichs geprägt gewesen seien. Ein wichtiger Einschnitt seien schließlich die Jahre nach 1945 gewesen, die zu einer „Wiederbelebung“ föderalistischer Traditionen in Süddeutschland geführt hätten und die österreichischen Vorlande als Untersuchungsraum wieder stärker in den Fokus hätten rücken lassen. Damit schien der Weg für die neuere Forschung geebnet, die sich zwar „vielfältig“ und „quellenorientiert“ präsentiere, jedoch weiterhin zahlreiche Desiderata aufweise.

Die komplexen verfassungs- und herrschaftsrechtlichen Strukturen Vorderösterreichs profilierte WOLFGANG WÜST (Erlangen), der zunächst auf die große administrative Leistung des Hauses Habsburg verwies, die zahlreichen territoria non clausa über Jahrhunderte hinweg zu regieren. Einen wichtigen verbindenden Faktor nahmen die vorderösterreichischen Landstände ein, deren Existenz seit dem späten Mittelalter zu den Grundzügen deutscher Territorialgeschichte zählt. Im Vergleich zu vielen anderen Gebieten konnten sich diese in Vorderösterreich bis zum Ende des Alten Reichs behaupten. Am Beispiel der Markgrafschaft Burgau, der Landgrafschaft Nellenburg sowie des Hegaus skizzierte Wolf das habsburgisch-landständische Wechselspiel, wobei das Verhältnis zwischen Landständen und Landesherren keineswegs klar geregelt schien. Vielmehr lasse sich für Schwäbisch-Österreich ein enormer Variantenreichtum ständischer Verfassungen ausmachen, bei dem die gebräuchliche Abgrenzung zwischen Landes- und Ortsherrschaft „vielfach fließend“ war. Insofern plädierte Wüst auch dafür, weniger den „Dualismus“ als vielmehr die „gemeinsame Verantwortung“ der Akteure in den Vordergrund zu rücken.

Ähnlich vielschichtig wie die Herrschaftsverhältnisse erweist sich im habsburgischen Schwaben auch die Frage nach der katholischen Konfessionalisierung, die DIETMAR SCHIERSNER (Weingarten) erörterte. Er legte die grundsätzliche Problematik klassischer, auf die konsequente Durchsetzung des „ius reformandi“ abzielender Konfessionalisierungsthesen offen, die zwar in Bezug auf geschlossene Territorien wie das benachbarte Herzogtum Bayern hinreichende Erklärungsmuster bereithalten könnten, hinsichtlich schwäbisch-österreichischer territoria non clausa allerdings deutlich zu kurz griffen. Die Frage laute demnach, wie es den katholisch-habsburgischen Landesherren gelungen sei, ihre im 16. Jahrhundert für die Lehre Luthers vielfach empfänglichen schwäbischen Besitzungen katholisch zu konfessionalisieren. Nach Schiersner, der seine Erörterungen exemplifizierend an der Markgrafschaft Burgau ausrichtete, könne die habsburgische Konfessionalisierungspolitik insgesamt mit dem Schlagwort „Rekatholisierung“ beschrieben werden. Diese dürfe jedoch nicht im Sinne einer Konfessionsvorgabe „von oben“, sondern müsse als kommunikativer „Interaktionsprozess“ verstanden werden, an dem zahlreiche Akteure (habsburgische Landesherren, Bischöfe, Stadt- und Ortsobrigkeiten, Pfarr- und Säkularklerus, gelehrte Räte, land- bzw. reichsständische Ausschüsse etc.) partizipierten.

KLAUS WOLF (Augsburg) widmete sich dem Untersuchungsraum aus kulturhistorischer Perspektive, indem er die Rolle der Habsburger für die schwäbische Literaturgeschichte beleuchtete. Insbesondere würdigte er die Funktion der habsburgischen Herrschaftsträger als Literatur- und Kulturmäzene. Von herausragender Bedeutung sei Maximilian I. gewesen, der einen besonders kulturorientierten Regierungsstil gepflegt habe. Letztlich hätten aber sämtliche Habsburger neben ihrer Heirats- und Kriegspolitik immer auch auf Kunst und Bildung gesetzt. Laut Wolf schufen sie damit gewisse Rahmenbedingungen (Universitäten, Klöster etc.), die sich positiv auf die Etablierung eines „literarischen Lebens“ auswirkten. Vor dem Hintergrund des überregionalen Charakters habsburgischer Bildungs- und Literaturpolitik sei eine umfassende, noch ungeschriebene Literaturgeschichte der Habsburger in Schwaben aber nur in Form einer Perspektiverweiterung auf sämtliche österreichische Herrschaftsgebiete möglich.

Mit historisch-germanistischem Ansatz profilierte SIMON PAINTNER-FREI (Augsburg) die komplexe Verschränkung von Bauernkrieg und Reformation – ein gerade für den Untersuchungsraum hochbedeutendes Problem- und Spannungsfeld. Den Zugang dazu lieferte ihm die 1525 vom franziskanischen Reformer und reformatorischen Prediger Johann Eberlin von Günzburg (1465–1533) verfasste und in ihrer inhaltlichen Vielfalt bis heute weit unterschätzte Schrift „Eine getreue Warnung an die Christen in der Burgauischen Mark“, die er in ihrem ereignisgeschichtlichen Kontext deutete. Er arbeitete die Verbundenheit des Autors mit seiner Heimat, seine ablehnende Haltung gegenüber den Aufständen, die große Besorgnis vor erneuten Unruhen sowie die Verurteilung pseudoreformatorischer Lehren heraus. Insgesamt, so Paintner, gründete Eberlins konservative Reformationstheologie ebenso wie seine in erster Linie theologisch motivierte „Warnung“ auf den Auslegungen Luthers und Melanchtons.

Die vorherrschende These der reibungslosen und ohne größere Widerstände ablaufenden Integration Vorderösterreichs in den deutschen Süden in Folge des Preßburger Friedens im Jahr 1805 stand im Mittelpunkt der Ausführungen von SENTA HERKLE (Stuttgart), die ein differenziertes Bild der damaligen Integrationsproblematik aufzeigte. Demzufolge bildete der Tiroler Aufstand des Jahres 1809 – von der Forschung bislang weitgehend als einziger Aufstand gegen die neue Herrschaft wahrgenommen – eine wichtige „Gelenkstelle“ des Integrationsprozesses, von der aus breite Verbindungslinien zum Vorarlberger Aufstand sowie weiteren, bislang unbekannten Widerstandsbewegungen im deutschen Südwesten (Freiburg, Konstanz, Stockach, Günzburg etc.) führten. Die Ursache dieser Erhebungen sieht Herkle vor allem in weitreichenden kulturell-sozialen, das Alltagsleben betreffenden Eingriffen der neuen Obrigkeiten. Bemerkenswert erscheint zudem, dass der gesellschaftlich breit gestreute Widerstand große Unterstützung am Wiener Hof fand. Letztlich müsse die Annahme der unproblematischen Eingliederung Vorderösterreichs deutlich relativiert werden, wofür nicht zuletzt der „wehmütige“ Empfang von Kaiser Franz I. in Günzburg im Jahr 1815 spricht.

Die Erforschung des vorderösterreichischen Raums wird in nicht unerheblichem Maße durch die breite Streuung des archivalischen Quellenmaterials erschwert, die die komplexen Herrschaftsverhältnisse deutlich widerspiegelt. Eine insbesondere für die Allgäuer Besitzungen des Hauses Habsburg grundlegende Forschungssäule bildet das Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz, wo das Amtsschriftgut der ab der Mitte des 15. Jahrhunderts in den österreichischen Herrschaftsbereich gelangten Allgäuer Besitztümer Hohenegg (1451), Stadels (1523), Thalerdorf (1523), Weiler (1570), Scheidegg (1570) und Altenburg (1571) lagert. ALOIS NIEDERSTÄTTER (Dornbirn) gab einen summarischen Einblick in das zahlreich überlieferte, doch weitgehend unerschlossene Quellenmaterial (Urkunden, Zinsbücher, Urbare, Lehensbücher, künstlich geschaffene Quellencorpora etc.), dessen systematische Auswertung für heterogene verwaltungs- über alltagsgeschichtliche Fragestellungen äußerst lohnend sei. Weitere, für die Geschichte der Allgäuer Besitzungen gleichfalls aufschlussreiche Bestände seien im Stadtarchiv Bregenz, im Staatsarchiv Augsburg und im Tiroler Landesarchiv verwahrt.

Die historischen Möglichkeiten des Letzteren untersuchte NADJA KRAJICEK (Innsbruck). Da die Verwaltung Schwäbisch-Österreichs auf das Engste mit Innsbruck verbunden war, bildet das Tiroler Landesarchiv eine zentrale Anlaufstelle für sämtliche Vorderösterreich-Forschungen. Krajicek zeigte wissenschaftliche Verwertungsmöglichkeiten des umfangreichen und vielschichtigen Innsbrucker Quellenbestandes auf. Mit Konrad von Rot (Forstmeister 1500–1519), Karl Welser (Landvogt 1566–1580), Johann Widmann (Landammann 1629–1636) und Joseph Fortunat von Reuburg (Rentmeister 1730–1734) richtete sie den exemplarischen Fokus auf vier verschiedene Amtsträger der Markgrafschaft Burgau, deren bisher unbekannte Lebens- und Wirkungslinien sie anhand der Archivalien ansatzweise rekonstruierte. Gerade eine prosopographische Auseinandersetzung mit Amtsträgern zeigt sich als ertragreiches Untersuchungsfeld, das tiefe Einblicke in die Verwaltungspraxis vorderösterreichischer territoria non clausa gewährt.

RAPHAEL GERHARDT (Günzburg) verließ den eigentlichen Untersuchungszeitraum und widmete sich den langfristigen Nachwirkungen der österreichischen Herrschaft am Beispiel der ehemals markgräflichen Residenzstadt Günzburg. Der Vortrag kreiste um die Frage nach der Existenz und Genese einer „habsburgischen“ Erinnerungskultur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Laut Gerhardt seien es insbesondere drei Zeitabschnitte gewesen, in denen die Fundamente für die heutige Habsburger-Erinnerung gelegt wurden: 1806–1850 (nostalgische, teils bayernfeindliche Erinnerung durch Zeitgenossen, erste neutrale Forschungen), 1900–1930 (Geschichtskonjunktur mit neuen Akteuren, Historischer Verein Günzburg), seit 1970 (Entdeckung und Vermarktung gebauter Geschichte, Stadtverwaltung als wichtiger Akteur). An den Themen und Grundmotiven habe sich nur wenig geändert: Die Residenzzeit des Markgrafen Karl (1610–1618) sowie die Jahrzehnte unter Maria Theresia und Joseph II. (1750–1790) werden bis heute als Blütezeit der Stadt verstanden, worin sich nicht zuletzt der Wunsch nach einer Teilhabe am „Glanz“ Habsburgs ausdrücke.

Die Semiterritorialität Vorderösterreichs zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele seiner Territorien über keine festen Grenzen verfügten. Insofern mussten territoriale Herrschaftsansprüche im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neu ausgehandelt, legitimiert und gegenüber benachbarten Herrschaften verteidigt werden. MARTIN KESSLER (München) exemplifizierte dieses Spannungsfeld anhand der Markgrafschaft Burgau und profilierte hierbei die Relevanz vormoderner Flusslandschaften als wichtige „Markerfunktion“ territorialer Grenzziehung. Für die Markgrafschaft Burgau sei die stets ihren Flusslauf verändernde Donau von besonderer Bedeutung gewesen, die als wichtige Verbindungsstraße nach Wien fungierte und entlang derer es über Jahrhunderte hinweg Grenzstreitigkeiten mit Pfalz-Neuburg gab. Die „Rückendeckung“ aus Innsbruck und Wien sei für die Markgrafschaft von Vorteil gewesen, habe beim pfälzisch-neuburgischen Kontrahenten allerdings auch Protest hervorgerufen. Vor diesem Hintergrund beschrieb Keßler auch den praktischen Nutzen von Flusslandschaften (Jagd- und Forstregal, Geleitrecht, Grundruhrecht, Fischereirecht, Verbauungsrecht) als „Elemente“ territorialer Hoheit sowie die verschiedenen „Modi“ zur Herstellung von Grenzverläufen (Zeugenbefragungen, bauliche Eingriffe, Besichtigungen).

ANKE SCZESNY (Augsburg) näherte sich dem vorderösterreichischen Untersuchungsraum aus wirtschaftshistorischer Perspektive, indem sie Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftlichen Handelns in einem territorium non clausum im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Markgrafschaft Burgau diskutierte. Sie rückte die Entwicklung des burgauischen Textilwesens in den Mittelpunkt der Betrachtung; insbesondere Günzburg als ehemalige Residenzstadt im 18. Jahrhundert habe einen rasanten Aufstieg im Leinengewebe verzeichnen können. Der Weg dahin sei allerdings mit zahleichen Schwierigkeiten verbunden gewesen, was sich nicht zuletzt in den wirtschaftlichen Maßnahmen des Markgrafen Karl ausdrücke, die am Widerstand der burgauischen Insassen gescheitert seien. Zwar konnte sich Günzburg mit Hilfe verschiedener Handelsfamilien im Folgenden zu einem bedeutenden Umschlags- und Handelsplatz für Textilien etablieren, doch sei die im merkantilistisch-kameralistischen Sinne angestrebte Profilierung in anderen Wirtschaftszweigen gescheitert. Insgesamt seien die Markgrafschaft Burgau und dessen wichtigste Stadt Günzburg somit zwischen wirtschaftlichem Aufstieg und Stagnation einzuordnen, wobei nicht zuletzt die Landzünfte in und außerhalb der Markgrafschaft ein wichtiger Faktor gewesen seien.

Mit Simon von Günzburg (1505–1585) beleuchtete TOBIAS STAMPFER (Eichstätt) einen der bedeutendsten jüdischen Kaufleute der Frühen Neuzeit. Damit gab er nicht nur tiefere Einblicke in die Handlungspraxis frühneuzeitlicher Wirtschaftsakteure, sondern ebenso in die Geschichte jüdischen Lebens in den habsburgischen Vorlanden. Dass sich ein solches zu Beginn der Neuzeit gerade in Vorderösterreich entfaltete, hing eng mit der Überschneidung landesherrlicher und kaiserlicher Schutzherrschaft zusammen. Nicht zuletzt in diesem Kontext habe sich Günzburg im 16. Jahrhundert zu einem der größten Zentren jüdischen Lebens entwickelt, was auch die Grundlage für die Erfolgsgeschichte Simons gewesen sei, dessen Aufstieg sich insbesondere durch enge Kontakte zum Kaiserhof in Wien sowie geschicktes wirtschaftliches und juristisches Agieren erklären lasse. Seine Kredite deckten die Bedürfnisse eines breiten sozioökonomischen, überregionalen Umfeldes ab, zu deren Absicherung er sich einer systematischen Nutzung der niederen Reichsgerichte (vor allem des Kaiserlichen Hofgerichts Rottweil) sowie territorialer Konflikte im deutschen Südwesten bediente.

Eine für die deutsche Wirtschaftsgeschichte des Alten Reichs bedeutungsvolle soziale Minderheit bildeten italienischstämmige Händler und Kaufleute, die SEBASTIAN REBAY (München) untersuchte. Er nahm die Kaufmannsfamilien Brentano, Rebay und Molo zentriert in den Blick, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu führenden Akteuren im Günzburger Leinwandhandel emporstiegen. Das Wirken der Italiener könne nur vor dem Hintergrund der habsburgischen Zentralverwaltung bewertet werden. Insbesondere die Reformen Maria Theresias hätten wichtige politische Rahmenbedingungen geschaffen, in die sich die „flexiblen“ Unternehmensstrukturen der italienischen Kaufleute einfügten und die sie als „Sprungbrett“ für den Ausbau ihres wirtschaftlichen und sozialen Kapitals nutzten. Nur durch das Ineinandergreifen unternehmerischen Engagements und politischer Weichenstellungen gelang es den Brentanos, Rebays und Molos letztlich, sich von saisonal migrierenden „Spezereienhändlern“ zu das Bürgerrecht besitzenden „Kommissionshändlern“ mit festem Standort und weitverzweigten Beziehungen zu entwickeln.

RAINALD BECKER (München) profilierte die bildungsgeschichtliche Bedeutung des um 1600 in Rom gegründeten Piaristenordens (Padri Scolopi), der sich im Jahr 1748 auch in Günzburg niederließ, wo er unter dem Motto „Frömmigkeit und Gelehrsamkeit“ („Pietati et Litteris“) Jungen aus allen gesellschaftlichen Schichten elementarschulische Bildung vermittelte. Becker zufolge verdankte sich die Schule, die sich schon bald zu einem intellektuellen Zentrum der habsburgischen Vorlande entwickelt habe, nicht nur lokalen Absichten, sondern war ein „Prestigeprojekt der österreichischen Staatsräson“, die sich damit in der vorderösterreichischen Einflusssphäre kulturell zur Geltung brachte. Die piaristische „schola“ habe die Schulreformen von Maria Theresia und Joseph II. vermittelt und könne somit als „Agentur der katholischen Aufklärung unter josephinischen Vorzeichen“ gelten. Ihr Untergang nach der Eingliederung Günzburgs ins Königreich Bayern sei jedoch nicht (so die ältere Forschung) auf innere Strukturschwächen, sondern allein auf die napoleonischen Umwälzungen zurückzuführen.

CHRISTOF PAULUS (München/Augsburg) fasste die zentralen Tagungsergebnisse zusammen. Er hob nochmals das große Erkenntnispotential des Untersuchungsraums hervor, mit dem auf Grund der Semiterritorialität allerdings auch konzeptionell-methodische Probleme verknüpft seien. Gängige, verallgemeinernde territorialgeschichtlich und nationalstaatlich geprägte Perspektiven mit ihren Kategorien „Zentrum“ und „Peripherie“ ließen sich auf ein territorium non clausum nur bedingt übertragen. Vielmehr müsse Vorderösterreich in seiner Heterogenität betrachtet werden, wobei gerade komparatistische Ansätze, die auf Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede sowie das „Dynamische“ der Region abzielen, sinnvoll erscheinen. Ein wichtiges Forschungsdesiderat seien kulturgeschichtliche Fragestellungen, die das Verständnis und Selbstverständnis der einzelnen vorderösterreichischen Besitzungen thematisierten und auch die Möglichkeiten und Ausformungen „herrschaftlich abwesender Anwesenheit“ beleuchten könnten. Die Abkehr der Forschung von einer Betonung territorialstruktureller Defizite und die positive Hervorhebung von Vielfalt, Varianz, Verdichtung, kulturellen Austauschprozessen sowie Binnenstrukturierungen seien zwar zu begrüßen, doch müsse darauf geachtet werden, dass die gegenwärtige Wertschätzung derartiger Raumgebilde nicht in eine „remonarchisierende Glorifizierung“ einer doch eher strukturschwachen frühneuzeitlichen Region abdriftet.

Die Tagung konnte ertragreiche Impulse für die vorderösterreichische Geschichtsforschung setzen und zugleich aufzeigen, dass sich in der Auseinandersetzung mit relativ kleinen, mindermächtigen Territorien immer wieder wichtige Antworten auf makrohistorisch ausgerichtete Fragestellungen ergeben. So gewährte das Symposium nicht zuletzt tiefere Einblicke in die vieldiskutierte, für die frühneuzeitliche Forschung entscheidende Frage, wie das Alte Reich funktionierte und was es im Innersten zusammenhielt. Insofern darf man auf die Publikation zur Tagung gespannt sein, die nicht nur für die regionale und überregionale Wissenschaft von Bedeutung sein wird, sondern die habsburgische Vergangenheit Schwabens auch in ein breiteres gesellschaftliches Bewusstsein rücken wird.

Konferenzübersicht:

Oberbürgermeister Gerhard Jauernig (Günzburg), Bezirksheimatpfleger Christoph Lang (Augsburg), Raphael Gerhardt (Günzburg): Grußworte und Einführung

Sektion I: Zwischen Reichspolitik und Landeherrschaft

Bernhard Niethammer (Illerbeuren): Neue bauforscherische Erkenntnisse zum einzigen Schloss der Habsburger in Deutschland

Gerhard Hetzer (Augsburg): Vorderrösterreich in der bisherigen Geschichtsforschung – ein Überblick

Wolfgang Wüst (Erlangen): Habsburg und Schwaben. Burgau und die vorderösterreichische Landschaft

Dietmar Schiersner (Weingarten): Confessionis conductus. Markgraf Karl und die habsburgische Konfessionspolitik in Schwaben

Klaus Wolf (Augsburg): Die Rolle der Habsburger in der bayerischen und schwäbischen Literaturgeschichte. Schlaglichter aus dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit

Simon Paintner-Frei (Augsburg): Bauernkrieg in der Markgrafschaft Burgau. Johann Eberlin und seine Warnung an die Christen der Burgauischen Mark, 1525

Senta Herkle (Stuttgart): Die Integration Vorderösterreichs in den deutschen Süden nach 1805

Sektion II: Blick in die Archive

Alois Niederstätter (Dornbirn): Die Allgäuer Besitzungen des Hauses Österreich in den Beständen des Vorarlberger Landesarchivs

Nadja Krajicek (Innsbruck): Landvogt, Forstmeister, Rentmeister und Co. Quellen und Forschungsmöglichkeiten zu Amtsträgern der Markgrafschaft Burgau im Tiroler Landesarchiv

Raphael Gerhardt (Günzburg): Der Umgang mit der habsburgischen Vergangenheit in Günzburg vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Sektion III: Strukturen und Beziehungsgefüge

Martin Keßler (München): Markgrafschaft an und auf den Flüssen. Vereinnahmungs- und Aushandlungsprozesse um die Nutzung der Flusslandschaften in der Frühen Neuzeit

Anke Sczesny (Augsburg): Wirtschaftliche Maßnahmen in der Markgrafschaft Burgau im 17. und 18. Jahrhundert: Möglichkeiten und Grenzen in einem territorium non clausum

Tobias Stampfer (Eichstätt): Simon von Günzburg (1505-1585). Ein namhafter jüdischer Finanzier in der Markgrafschaft Burgau

Sebastian Rebay (München): Die italienischen Familien Brentano, Rebay und Molo in der Markgrafschaft Burgau

Rainald Becker (München): Die Piaristen in Vorderösterreich

Christof Paulus (München und Augsburg): Die Habsburger in Schwaben. Ergebnisse und Desiderata


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