Deportationen im Nationalsozialismus – Quellen und Forschung

Deportationen im Nationalsozialismus – Quellen und Forschung

Organisatoren
Arolsen Archives. International Center on Nazi Persecution, Bad Arolsen
Ort
digital (Potsdam)
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2020 - 04.11.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Jakob Müller / Alina Bothe, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Deportationen waren ein zentrales Strukturelement der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Es waren jene Momente der vollständigen Exklusion aus der Gesellschaft, die in aller Öffentlichkeit, auf der Straße stattfanden, wie Klaus Hesse es beschreibt.1 In den Deportationen kondensieren sich wie unter einem Brennglas Verfolgung und Vernichtung, verschiedene Akteur:innen, ihre Handlungsmacht bzw. Handlungsohnmacht werden sichtbar. Von diesen Überlegungen ausgehend, wurden bei der internationalen Konferenz neue Forschungen und Quellen zu den Deportationen von etwa drei Millionen Jüdinnen und Juden sowie zehntausenden Sintize und Sinti und Romnja und Roma präsentiert.

Nachdem THOMAS ULBRICH und DOMINIC STRIEDER (beide Potsdam) mit dem Bestand Rep. 36 a (II) der Vermögensverwertungsstelle Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg einen der größten Quellenbestände zur biographischen Forschung zu den Deportationen aus Deutschland vorgestellt hatten, sprach AKIM JAH (Bad Arolsen) einleitende Worte. Obwohl bereits Raul Hilberg die Deportationen ins Zentrum seines Werks zur Vernichtung der europäischen Juden gestellt und ihnen mehr als vierhundert Seiten gewidmet hat, gibt es weiterhin gravierende Forschungslücken. Beispiele sind die sogenannten Judenhäuser, die Rolle der Gerichtsvollzieher, das Verhalten der Bevölkerung im Allgemeinen, die Sammellager sowie die spezifische Situation von Juden ausländischer Staatsangehörigkeit. Auch der Polizeiapparat ist weniger erforscht als gedacht, bis heute existiert keine Gesamtdarstellung. Vergleichende Forschung ist die Ausnahme, und es ist noch ein weiter Weg bis zu einer Gesamtgeschichte der Deportationen nach dem Vorbild Saul Friedländers.

An diese Ausführungen schloss HENNING BORGGRÄFE (Bad Arolsen) an, der über die verschiedenen Kontexte sprach, aus denen die Quellen stammen. Dokumente aus der Zeit der Deportationen stehen neben solchen, die im Zuge der Strafverfolgung der Täter und der Entschädigung der Opfer sowie bei der Suche nach Angehörigen entstanden. Mit der Digitalisierung zahlreicher Bestände sei die Chance verbunden, zu einer integrierten Geschichte im Sinne Friedländers zu gelangen. Hier wie auch in anderen Beiträgen wurde allerdings auch auf mit der Digitalisierung verbundene Risiken verwiesen, die etwa in der Vernachlässigung nicht digitalisierter Bestände liegen.

In den Vorträgen von MIHAIL GRUEV (Sofia), DÓRA PATARICZA und MERCÉDESZ CZIMBALOS (Turku) wurde deutlich, dass politischer Einfluss auf die Entscheidung, welche Bestände digitalisiert werden und welche nicht, immer noch ein Problem ist. Auch die schlechte Qualität vieler Digitalisate macht den persönlichen Besuch der Archive auf absehbare Zeit unumgänglich.

ALFRED ECKERT (Fürth) führte anhand der genauen Analyse der Schicksale der Deportierten eines Transports aus Fürth vor, welche Bedeutung der Einbezug in soziale Gruppen für das Überleben der Deportierten hatte.

ANDREA HURTON (Wien) diskutierte am Beispiel nach Belgien geflohener Wiener Jüdinnen und Juden die unterschiedlichen Einflussfaktoren auf individuelle Verfolgungserfahrungen.

Die Verfügbarkeit und elektronische Aufbereitung einer Fülle von Quellen machen ihre genaue Interpretation umso wichtiger, wie auch der auf Erfahrungen bei der Suche nach Quellen zu ihrem Großvater beruhende Vortrag von AYA ZARFATI (Berlin) aufzeigte. Das Fehlen eines zentralen Portals für die Familienforschung erschwere die Suche ebenso wie der Umstand, dass die Familienüberlieferung zum Schicksal Angehöriger fehlerhaft sein kann. Daneben gebe es in vielen Archiven Potential, die Suche für jene einfacher zu gestalten, die mit den Recherchewerkzeugen nicht vertraut sind. Gleiches gilt für die oft herausfordernde Interpretation der personenbezogenen Quellen.

Das Potential einer digitalen Aufbereitung von Daten zu den Deportationen illustrierten THÉOPHILE LEROY (Paris) und DAAN DE LEEUW (Worcester). Leroy analysierte Informationen zur Verfolgung von Sinti:ze mithilfe der genealogischen Software Heredis, während De Leeuw den Weg einer Gruppe aus dem Sammellager Westerbork deportierter Frauen visualisierte. Er machte deutlich, wie häufig die Deportierten an andere Orte verlegt wurden, aber auch, dass die Transportgruppen oftmals bestehen blieben.

ELISABETH PÖNISCH (Freiburg) und CHRISTOPH KREUTZMÜLLER (Berlin) beschäftigten sich mit Filmen und Fotos der Deportationen. Beide wiesen darauf hin, dass berücksichtigt werden muss, dass diese fast ausschließlich aus der Perspektive der Täter und Zuschauenden gemacht wurden. Kreutzmüller betonte, dass die Aufnahmen in einer Zeit entstanden, in der Aufmärsche und Paraden fast alltäglich waren. Die Fotos bieten zudem nur einen begrenzten lokalen Ausschnitt. Die etwa 550 bekannten Aufnahmen aus Deutschland wurden fast ausschließlich in Kleinstädten gemacht, während es aus den Orten mit den größten jüdischen Gemeinden so gut wie keine Fotos gibt. So existiert von den Deportationen der ca. 50.000 Jüdinnen und Juden aus Berlin kein einziges Foto. Auch ein Aufruf im Jahr 2020 an die Berliner Bevölkerung, bisher unbekannte Fotos einzuschicken, blieb ohne Erfolg. In der anschließenden Diskussion und im Chat gab es jedoch Hinweise auf weitere Fotografien und Filme zu den Deportationen aus Deutschland – wenn auch nicht aus Berlin. ALINA BOTHE (Berlin) regte in ihrem Tagungskommentar an, die existierenden visuellen Quellen in einem virtuellen Portal zusammenzuführen.

Wie präsent die Deportationen in der Öffentlichkeit waren, verdeutlichte JOHANNES PLATZ (Bonn), der über das 1941 in einem konfiszierten Kloster eingerichtete Sammellager Bonn-Endenich sprach. Er ging so weit, von einem „Ghettolager“ zu sprechen, und hob hervor, dass die Insassen im Gegensatz zu anderen Sammellagern im Altreich bis zu einem Jahr interniert waren, Zwangsarbeit leisteten und es Formen einer Selbstverwaltung gab. Bis zum Verbot jüdischer Schulen im Juli 1942 wurden hier auch Kinder unterrichtet.

Dass die Ausgrenzung in der Mitte der Gesellschaft stattfand, machte auch JOACHIM SCHRÖDER (Düsseldorf) vom Erinnerungsort Alter Schlachthof deutlich. Sieben Deportationen aus Düsseldorf fanden während des laufenden Schlachtbetriebs statt. Gemeinsam mit Studierenden der Hochschule Düsseldorf, deren Campus sich heute auf dem Gelände befindet, fand ein Projekt zur Erforschung sogenannter Judenhäuser im Regierungsbezirk Düsseldorf statt. Der Erinnerungsort soll nicht nur der Opfer gedenken, sondern auch in Erinnerung rufen, dass ihre Enteignung und Ermordung das Werk vieler waren. Neben den Biographien der Deportierten werden daher auch solche örtlicher Finanzbeamter oder der Verantwortlichen in den Fürsorgeämtern gezeigt, die etwa freigewordenen Wohnraum an als „Arier“ privilegierte Personen verteilten.

VERENA MEIER (Heidelberg) nahm eine Mikroanalyse der Deportationen von Sinti:ze und Rom:nja aus Magdeburg 1943 vor. Ihr Vortrag ergab mit den Ausführungen von KRISTINA VAGT (Hamburg) zur ersten Deportation von Sinti:ze und Rom:nja aus Hamburg 1940 interessante Einblicke in die lokale und reichsweite Entwicklung des Deportationsregimes.

CHRISTIAN GROH und KIM DRESEL (Bad Arolsen) gingen auf die zahlreichen neu erschlossenen Quellenbestände zur Geschichte der Deportationen im Bestand der Arolsen Archives ein. Diese umfassen kleinere micro archives, die die Arolsen Archives aufnehmen, ebenso wie Listenbestände, die die Arisierung des Besitzes von Sinti:ze und Rom:nja zeigen, ein Thema, das der weiteren Forschung dringend bedarf. Die Diskussion des Vortrags machte das große fachwissenschaftliche Interesse an Quellenbeständen deutlich.

Die Schwierigkeit, die Perspektiven der Deportierten einzubeziehen, thematisierten ALEXANDRA PATRIKIOU und MARIA VASSILIKOU (Athen) in ihrem Vortrag über die Flucht Henry Bottons, der 1944 aus Athen deportiert wurde und in der Slowakei vom Zug sprang. Botton selbst hat reflektiert, wie wenig repräsentativ seine Erfahrung für das Gros der Deportierten war. Als junger kräftiger Mann, der zudem ohne Familienangehörige verschleppt worden war, konnte er sich für eine Flucht entscheiden. Dennoch sind Berichte von Überlebenden wichtig, auch als notwendiges Korrektiv zur technokratischen Sprache der Dokumente der Täter.

In einer von SARAH GRANDKE (HAMBURG) moderierten Podiumsdiskussion repräsentierten MAX STRNAD (München), CORNELIA SHATI-GEISSLER (Jerusalem), TANJA von FRANSECKY (Berlin) und THOMAS FREIER (Mainz) sehr unterschiedliche digitale Projekte, die erhebliche Bedeutung für die Erforschung der Deportationsgeschichte haben. Auffällig ist, dass es zur Geschichte der Deportationen der Sinti:ze und Rom:nja keine entsprechenden Projekte gibt. In seinem Kommentar zur Diskussion hob GIORA ZWILLING (Bad Arolsen) zwei Herausforderungen hervor: a) die unterschiedliche Qualität und Tiefe von Datenbanken und b) die Verknüpfung der verschiedenen Datensätze aus verschiedenen Archiven. In der Diskussion wurde deutlich, wie wichtig das strukturierte Gespräch zwischen Geschichtswissenschaftler:innen und Archivwissenschaftler:innen bei der Entwicklung digitaler Projekte und dem Auf- und Ausbau von Datenbanken ist. Auch der Datenschutz bleibt ein relevantes Thema.

Anders als bei den von Deutschen organisierten Transporten gibt es über die Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie Roma und Romnja aus Rumänien verhältnismäßig wenige staatliche Quellen. Die Vertreibungen sollten ausdrücklich ohne Formalitäten durchgeführt werden, wie IONELA DĂSCULȚU (Washington) betonte. Sie widmete sich der Perspektive jüdischer Kinder, die aus Rumänien nach Transnistrien deportiert wurden und von denen 18.322 die Verschleppung überlebten. Als Quellen dienten Tagebucheinträge, aber auch nachträgliche literarische Verarbeitungen. Diese machten insbesondere deutlich, welche Erschütterung die Deportation für das Gefüge der Familien bedeutete.

Die Perspektive der Deportierten beleuchtete auch VIOREL ACHIM (Bukarest) in seinem Vortrag über die Petitionen nach Transnistrien verschleppter Rom:nja.

DIMITAR GRIGOROV (Sofia) behandelte die Flucht von Jüdinnen und Juden über den Balkan, die in Bulgarien von zionistischen Organisationen in Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden organisiert wurde. Die Helfer sahen sich dabei bulgarischen Behörden gegenüber, die unterschiedliche Positionen zum Transit jüdischer Flüchtlinge vertraten. Obwohl dieser ab 1941 eigentlich strikt verboten war, wurden weiterhin halboffizielle Visa ausgestellt.

Der deutsche Apparat, der die Ermordung von Juden und Sinti:ze und Rom:nja durchführte, sollte sich nicht auf diese Gruppen beschränken, wie ALEXANDRA PULVERMACHER (Klagenfurt) ausführte. Kurz nach dem offiziellen Abschluss der „Aktion Reinhardt“ wurde das Zamość-Gebiet zum ersten deutschen Siedlungsgebiet im Generalgouvernement erklärt. Odilo Globocnik sollte nun gemeinsam mit dem Leiter der „Umwandererzentrale“, Hermann Krumey, die „Aussiedlung“ der polnischen Bevölkerung organisieren. Nach einer „rassischen“ Begutachtung sollten als nicht „germanisierungsfähig“ beurteilte Polinnen und Polen zur Zwangsarbeit nach Auschwitz oder ins Reich gebracht werden. Arbeitsunfähige sollten in „Rentendörfern“ (oftmals geräumten jüdischen Ghettos) ihrem Schicksal überlassen werden. Aufgrund des Widerstands der polnischen Bevölkerung mussten die Deportationstransporte nach einigen Wochen abgebrochen werden, die deutsche Herrschaft in Polen stieß 1943 auf erste Grenzen.

In seinem Beitrag zu den Deportationen in das Ghetto Litzmannstadt wies INGO LOOSE (Berlin) auf bestehende Forschungslücken hin und machte dies am Beispiel der „Ghettorenten“ deutlich. Die von den Sozialgerichten benötigten Informationen waren von den Historiker:innen nicht erforscht worden. Daneben kritisierte Loose einen Fokus auf den Konflikt zwischen Juden aus West- und Osteuropa innerhalb des Ghettos, den er als irreführend bezeichnete. Fehlende Sprachkenntnisse präformierten und limitierten immer noch viele Forschungen.

Dass noch längst nicht alle Quellen ausgewertet sind, illustrierte ANNA POBBES (Trient) in ihrer Untersuchung der Überlieferung zu den Konten des Ghettos Litzmannstadt als Quelle für die Deportationen und die Vernichtung der Ghettobewohner.

TOMÁŠ FEDOROVIČ (Terezín) beleuchtete die Entscheidungsprozesse während der Deportationen aus dem Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau im September 1943. Er ging insbesondere auf die Rolle des „Judenältesten“ Paul Eppstein und anderer Ratsmitglieder ein, die zunächst von der Deportation ausgenommen waren. Darüber hinaus hatten sie die Möglichkeit, „Schutzlisten“ anzufertigen. Neben persönlicher Protektion spielten auch Faktoren wie die Staatsangehörigkeit und der Zeitpunkt der Ankunft im Lager eine Rolle dabei, wer zuerst abtransportiert wurde. Es war zudem möglich, eine Ersatzperson zu stellen, wenn andere Gefangene beispielsweise Familienangehörige begleiten wollten.

SUSANNE KILL (Berlin) zeigte die Möglichkeiten für die Forschungen zur Deportationsgeschichte durch den von ihr erschlossenen Nachlass von Alfred Gottwaldt auf. Gottwaldts Sammlung ist insbesondere für die Eisenbahngeschichte der Deportationen von zentraler Bedeutung.

MICHAELA RAGGAM-BLESCH (Wien) und MAXIMILIAN STRNAD (München) präsentierten ihre Forschungsergebnisse zu den letzten im Reichsgebiet verbliebenen „jüdischen Reichsfeinden“ und den späten Deportationen der zunächst geschützten Gruppen. Raggam-Blesch diskutierte die Situation von „Mischehen“ in Wien und stellte heraus, dass, wenngleich es einen gewissen Schutz gegeben habe, zugleich kleinere Transporte in die Konzentrationslager bis zur Befreiung stattgefunden haben. Strnad hob den Aspekt der Verfolgung durch Kriminalisierung hervor und fokussierte auf Deportationen in den Jahren 1944 und 1945. UTA LARKEY (Baltimore) nahm eine andere Perspektive ein und thematisierte einzelne Gruppen internierter Jüdinnen und Juden, die „freigekauft“ wurden.

ALIAKSANDR DALHOUSKI (Minsk) gab einen Überblick über den Umgang mit der Vernichtungsstätte Maly Trostinez bei Minsk. Unmittelbar nach der Befreiung begann eine außerordentliche staatliche Untersuchungskommission mit der Beweissicherung, wobei die Experten zunächst davon ausgingen, dass hier ausschließlich deutsche Juden ermordet worden waren. In der Nachkriegserinnerung wurden die jüdischen Opfer jedoch ausgeblendet, und auf einem im August 1945 eingeweihten Denkmal war lediglich von der Ermordung „friedlicher Zivilisten und Kriegsgefangener“ die Rede. Der Ort stand nicht unter Denkmalschutz und wurde als Artillerieübungsplatz und Mülldeponie genutzt. Dennoch konnten im August 2017 während der Arbeiten an einem neuen Erinnerungsort an der eigentlichen Erschießungsstätte Blagowschtschina, noch zahlreiche archäologische Funde gesichert werden.

ALEKSANDAR BURSAĆ (Novi Sad) berichtete über die im Archiv der Vojvodina befindlichen Unterlagen. Die Vojvodina war während des Krieges in eine deutsche, eine kroatische und eine ungarische Besatzungszone geteilt. Eine bereits am 30. November 1943 gegründete Untersuchungskommission sammelte nach der Befreiung Informationen über Verbrechen an den rund 25.000 Juden, von denen nur 3.532 überlebten. Die Dokumente über die Befragung von Opfern und Zeugen sowie Berichte über die Täter sind bewahrt geblieben.

JOHANNES MEERWALD (Frankfurt am Main) stellte die Akten des ungarischen Nationalen Komitees für die Betreuung Deportierter (DEGOB) als Quelle für das Schicksal der als Zwangsarbeiter ins Reich deportierten ungarischen Juden vor. Das DEGOB befragte die Überlebenden systematisch mithilfe detaillierter Fragebögen. Die Unterlagen sind nicht nur eine wichtige Ergänzung der oft lückenhaften Täterquellen, sondern ermöglichen auch eine Annäherung an die Opferperspektive.

ANDREA LÖW (München) richtete den Blick auf die Lebenswege deutscher Juden und Jüdinnen in Osteuropa nach der Deportation und ordnete dabei die Deportationen als ein Element der Verfolgungs- und Vernichtungspolitiken ein.

KAROLA FINGS (Freiburg) stellte das vom Auswärtigen Amt geförderte Projekt einer Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja vor. Dessen Erforschung begann erst spät, und die Diskriminierung brach mit dem Kriegsende nicht ab. So wurden die von der Rassehygienischen Forschungsstelle erstellten Akten über 30.000 Sinti:ze und Rom:nja auch nach 1945 verwendet. Der Anti-Roma-Rassismus führte außerdem dazu, dass Betroffene sich nicht äußerten und teilweise noch immer nicht äußern wollen. Viele Quellen seien zudem zerstört worden. Für die Enzyklopädie sollen in den nächsten Jahren Beiträge zu mehreren hundert Stichwörtern entstehen, die zunächst online präsentiert werden. Auf dieser Grundlage soll dann ein Handbuch zum Thema erarbeitet werden.

Die Tagung hat den Blick auf die Quellen gerichtet, Themenstränge zusammengeführt, die bei zwei Tagungen im Sommer 2019 in Wien und im Februar 2020 in Hamburg bereits eröffnet worden waren, und Anregungen für vertiefte Kooperationen und mögliche neue Forschungsprojekte gegeben. Vier Aspekte sollen abschließend hervorgehoben werden. Die Tagung richtete erstens den Fokus auf die Bedeutung der Deportationen im Gesamtkontext der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitiken. Insbesondere der gesamteuropäische, komparative Ansatz zeigte neue Fragestellungen auf. Zweitens sind durch die innovative parallele Diskussion der Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie Sinti:ze und Rom:nja zahlreiche Forschungslücken und sinnvolle Forschungsvorhaben aufgezeigt worden. Diverse Quellen zur Deportationsgeschichte müssen drittens noch geschichtswissenschaftlich erschlossen und erforscht werden. Besonders auffällig ist dies für die zahlreichen visuellen Quellen der Deportationen (Fotos und Filme), deren konzise, gegebenenfalls digitale Veröffentlichung und Kontextualisierung noch ein Desiderat ist. Viertens haben verschiedene digitale Angebote, digitale Forschungsmethoden (Georeferenzialisierung, Mapping) und neue Datenbanken aufgezeigt, dass das Forschungsfeld der Deportationsgeschichte produktiv mit den Methoden der digitalen Geschichtswissenschaft zu bearbeiten ist.

Konferenzübersicht:

Thomas Ulbrich / Dominic Strieder (Potsdam): The holdings Rep. 36 A (II) (Vermögensverwertungsstelle Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg) for biographical research on Nazi-persecutees

Floriane Azoulay (Bad Arolsen) / Sigmount A. Königsberg (Jüdische Gemeinde zu Berlin) / Petra Rosenberg (Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V.) / Richard Lutz (Deutsche Bahn AG): Begrüßung und Grußworte

Akim Jah (Bad Arolsen): Fragestellungen und Stand der Forschung

Henning Borggräfe (Bad Arolsen): Quellentypen und Kontexte

Panel 1: Vor den Massendeportationen – „Konzentrierung“ und „Judenhäuser“ im Altreich

Elisabeth Pönisch (Freiburg): Artefakte und Filme als Abbild der sozialen Wirklichkeit? Zur Analyse von visuellem Material zu Deportationen aus den „Judenhäusern“

Joachim Schröder (Düsseldorf): „Judenhäuser“ und Sammelunterkünfte im Kontext der Deportationen am Düsseldorfer Schlachthof (1941-1944)

Johannes Platz (Bonn): Ein Ghettolager im Westen: Das Sammel- und Deportationslager im konfiszierten Klostergebäude in Bonn-Endenich

Christoph Kreutzmüller (Wannsee): Fotos der Deportationen im Reich

Panel 2: Frühe Deportationen und „lernende Verwaltung“

Verena Meier (Heidelberg): Die Deportation von Sinti und Roma aus Magdeburg in die Konzentrations- und Vernichtungslager durch die Kriminalpolizei

Kristina Vagt (Neuengamme): Die Deportation von Sinti und Roma aus dem norddeutschen Raum ins Zwangsarbeitslager Belzec 1940

Panel 3: Flucht und Verstecken vor der Deportation in Südosteuropa

Dimitar Grigorov: (Sofia): Flucht aus Europa über den Balkan: Archivarische Quellen in Bulgarien, Serbien und Rumänien zu unterschiedlichen Beispielen, wie Juden und Jüdinnen versuchten, die Nazi-Verfolgung und Deportationen zu überleben

Alexandra Patrikiou / Maria Vassilikou (Athen): Die Deportation der Juden und Jüdinnen aus Griechenland. Die Flucht von Henry Botton

Kim Dresel / Christian Groh (Arolsen): Die Überlieferung zur Deportation der Juden und Jüdinnen sowie der Sinti und Roma in den Arolsen Archives

Panel 4: Digitale Projekte zu Deportationen aus Südosteuropa

Dóra Pataricza / Mercédesz Czimbalmos (Turku): Die Deportationen aus Szeged – ein internationals Projekt zur Rekonstruktion der Verfolgungswege von Holocaustopfern aus Ungarn und Backa

Mihail Gruev (Sofia): Digitale Sammlungen des Bulgarischen Staatsarchivs als Quelle für Forschungen zum Holocaust während des 2. Weltkrieges

Panel 5: Deportationen aus dem Reich und Flucht

Alfred Eckert (Fürth): Deportationszug Da 32 und das Schicksal seiner 1.027 Insassen

Andrea Hurton (Wien): Verfolgung und Rettungswiderstand: Untergetauchte Wiener Juden und Jüdinnen in Belgien 1940-1945

Panel 6: Deportationen nach Transnistrien

Viorel Achim (Bukarest): Petitionen von deportierten Roma als Quelle für die Erforschung von „Romadörfern“

Ionela Ana Dăsculțu (Washington): Herumgeworfen wie Blätter im Wind. Die Erfahrungen von jüdischen Kindern während der Deportationen nach Transnistrien

Panel 7: Verschränkte Deportationen

Alexandra Pulvermacher (Klagenfurt): Die Deportation von Polen im Zamosc-Gebiet 1942/43 im Kontext der „Aktion Reinhardt“

Aya Zarfati (Berlin): Wechselwirkung, Verwirrung und Potenzial. Über das Aufeinandertreffen von Archiven (zur NS-Geschichte) und Familienforschung

Podiumsdiskussion
Welches Potential bieten Datenbanken und Onlineportale für die Deportationsforschung?

Max Strnad (München), Cornelia Shati-Geißler (Jerusalem), Tanja von Fransecky (Berlin), Thomas Freier (Website „Statistik des Holocaust“)

Panel 8: Entscheidungsprozesse in den Ghettos

Ingo Loose (München): Deportationen nach Litzmannstadt. Einige Überlegungen zu Forschungstand, alten Diskussionen und offenen Fragen

Anna Veronica Pobbe (Trient): Auf der Suche nach dem Geld. Bankkonten als Quelle für die Geschichte der Deportationen

Tomáš Fedorovič (Terezín): Vorbereitung und Organisation der Transporte aus dem Ghetto Theresienstadt in das sogenannte Familienlager Theresienstadt in Auschwitz-Birkenau im September 1943

Susanne Kill (Berlin): Reichsbahn und Deportationen: Die Überlieferung des Privatarchivs von Alfred Gottwaldt

Panel 9: Wege durch das Lagersystem

Théophile Leroy (Paris): „Rasse: Zigeuner“. Einzelne und kollektive Verfolgungswege von Sinti-Familien aus dem Rheinland durch Europa

Daan de Leeuw (Worcester): Kartierung der Wege jüdischer Zwangsarbeiter:innen durch die Konzentrationslager

Panel 10: Letzte Transporte und „geschützte Gruppen“

Michaela Raggam-Blesch (Wien): Die Deportation der geschützten Gruppen während der letzten Jahre des Krieges in Wien

Max Strnad (München): Räumung der frontnahen Gebiete und Aktion gegen die Mischehen – die Deportation der letzten jüdischen „Reichsfeinde“ im September 1944 und Frühjahr 1945

Uta Larkey (Baltimore): Transporte in die Freiheit. Freikauf von Juden in der Nazi-Zeit

Panel 11: Frühe Untersuchungskommissionen und ihre Quellen

Aliaksandr Dalhouski (Minsk): Zum Umgang sowjetischer und belarussischer Experten mit den Deportationen der mitteleuropäischen Juden nach Minsk

Aleksandar Bursać (Novi Sad): F.183, Bestand Kommission zur Untersuchung von Verbrechen, die von den Besatzern und ihren Kollaborateuren in der Vojvodina begangen wurden

Johannes Meerwald (Frankfurt am Main): Die Deportation von jüdischen Häftlingen in den KZ-Komplex Dachau aus dem ungarischen Staatsgebiet im Spiegel der Protokolle der Organisation DEGOB (1944-1945)

Panel 12: Forschungsperspektiven

Andrea Löw (München): „Nach Osten“. Das kurze Leben deutschsprachiger Juden nach ihrer Deportation ins besetzte Osteuropa

Karola Fings (Heidelberg): Leerstellen und Fragmente. Wege zu einer Enzyklopädie des NS-Völkermordes an Sinti und Roma in Europa

Henning Borggräfe / Akim Jah (beide Bad Arolsen): Abschließende Bemerkungen

Anmerkung:
1 Klaus Hesse: Die Bilder lesen – Interpretationen fotografischer Quellen zur Deportation der deutschen Juden, in: ders./ Philipp Springer: Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002, S. 185-212, hier S. 201.


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