Sozialisation und sozialistische Politik: Die „1870er“ in international vergleichender Perspektive

Sozialisation und sozialistische Politik: Die „1870er“ in international vergleichender Perspektive

Organisatoren
Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg
Ort
digital (Heidelberg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.03.2021 - 11.03.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Linus Maletz, Generallandesarchiv Karlsruhe

Der Duden sieht in einer Generation eine „Gesamtheit der Menschen ungefähr gleicher Altersstufe [mit ähnlicher sozialer Orientierung und Lebensauffassung]“. Seit langem sind generationengeschichtliche Ansätze in der Historiographie etabliert, und auch im Kontext der Arbeitergeschichtsschreibung ist wiederholt versucht worden, das Konzept fruchtbar zu machen, indem für Deutschland von einer „Generation Bebel“ oder einer „Generation Ebert“ gesprochen wurde1. Bereits 1928 befasste sich Karl Mannheim aus soziologisch-historischer Perspektive mit der gesellschaftlichen Differenzierung verschiedener Konzepte der Generation2, aber auch die jüngere Forschung widmet sich regelmäßig diesem „problembeladenen Begriff“3. Doch lässt sich die Vorstellung handlungsleitender, generationell bedingter Gemeinsamkeiten innerhalb einzelner Alterskohorten von sozialistischen und sozialdemokratischen Politikern und Politikerinnen auch auf die europäische Ebene übertragen? Diese Frage stand im Mittelpunkt der digitalen Tagung mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus verschiedenen europäischen Ländern, die anlässlich des 150. Geburtstages von Friedrich Ebert stattfand.

Die Beiträge fokussierten sich auf nationale Partikularentwicklungen in den einzelnen Staaten sowie internationale Netzwerke und Kooperationen. Anhand der Entwicklung von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und der sie begleitenden Lebensläufe verschiedener politischer Akteure und Akteurinnen wurde das Ziel verfolgt, die Geburtskohorte Friedrich Eberts auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen.

Zu Beginn widmete WOLFGANG MADERTHANER (Wien) sich der österreichischen Sozialdemokratie. Anhand der Person Victor Adlers und seines Umfeldes, dem sogenannten Adler-Horst, verdeutlichte er das progressive, assimilierte jüdisch-intellektuelle und deutschfreundliche Denken dieser Generation innerhalb der Arbeiterbewegung, die sich um einen breiten, maßgeblich auf Bildung gerichteten Blick auf gesellschaftliche Missstände bemühte. Ziel war eine „Revolutionierung der Gehirne“, die durch eine nahezu liturgische emotionale Bindung an Feiern und Aufmärsche der Bewegung erreicht werden sollte.

Für den Schweizer Fall argumentierte CHRISTIAN KOLLER (Zürich), dass der Landesstreik im November 1918 ein generationell prägendes Ereignis war. Viele Mitglieder des Streikkomitees gehörten der Alterskohorte der Spät-1870er an, die die eidgenössische Arbeiterbewegung über Jahrzehnte prägen sollte. Dabei spiegelte sich die vergleichsweise konfliktarme und wirtschaftlich sowie politisch stabile Entwicklung der Schweiz seit 1848 in den Karrieren der Spät-1870er wider, die „selten von großen Einschnitten“ geprägt waren.

JAN WILLEM STUTJE (Gent) befasste sich anhand der Biografie von Hendrik de Man mit der Frage, inwiefern sich die belgischen Sozialisten und Sozialistinnen einer „Generation Ebert“ zuordnen lassen. Im Vordergrund seiner kritischen Überlegungen standen die bildungspolitischen Ideen de Mans und sein Wandel vom revolutionären und internationalen zum nationalistischen Theoretiker, die ihn in Distanz zur proletarischen Arbeiterklasse, aber auch zu anderen Sozialisten und Sozialistinnen seines Geburtsjahrzehntes brachten.

Auch ANDREW THORPE (Leeds) wählte in seinem Beitrag zum britischen Fall einen sehr biografisch geprägten Ansatz. Besonderes Augenmerk legte er auf die Verschiedenheiten zwischen Gewerkschafts- und Parteikarrieren. Auffällig war, dass die „britischen 1870er“ es nicht in die höchsten politischen Ämter der britischen Regierung bzw. der Parteien geschafft haben, was Thorpe unter anderem damit begründete, dass der Spagat zwischen Gewerkschaftsarbeit und parlamentarischer Regierungsbeteiligung eine zu große Hürde für das Erreichen wichtiger Ämter darstellte. Auch der politische Erfolg der zwischen 1850 und 1870 geborenen sozialistischen Akteure in Großbritannien sei ein Hindernis für die 1870er-Kohorte gewesen.

FELICITAS FISCHER VON WEIKERS-THAL (Heidelberg) richtete den Fokus auf Frauen in der russischen Arbeiterbewegung. Sie hob hervor, dass sich in der Eigenwahrnehmung („revolutionäre Autobiografik“) der in den 1870er Jahren geborenen russischen Revolutionärinnen viele Schnittmengen finden lassen, die auf eine Selbstidentifikation innerhalb einer politischen Generation zurückzuführen seien. Zentrale gemeinsame Erfahrungswerte markierten etwa das Agieren in der Illegalität, politische Verfolgung oder Verbannung oder die Zugehörigkeit zur Intelligenzia sowie die Selbstwahrnehmung als politische Avantgarde.

SCHOT HAYRUNI (Jerewan) sah in der regelmäßig wiederkehrenden Verfolgung, Zwangskonvertierung und Ermordung der armenischen Bevölkerung prägende Elemente der Identitätsbildung innerhalb der armenischen sozialistischen Bewegung. Die wechselnden Herrschaftsverhältnisse in Russland und im ehemaligen Osmanischen Reich nach Ende des Ersten Weltkrieges verkomplizierten die Situation für die armenischen Sozialisten und Sozialistinnen dieser Alterskohorte noch weiter. Diese Erfahrungen wurden darüber hinaus als prägend für die nachfolgenden Generationen der armenischen Arbeiterbewegung sowie des gesamten Volkes herausgestellt.

DIETMAR MÜLLER (Leipzig) legte das Hauptaugenmerk auf die sozialistischen Bewegungen in Serbien, Rumänien und Bulgarien und wies auf die stark agrarisch und bäuerlich geprägten Lebensumstände und die damit verbundenen Problematiken einer proletarisch-städtischen Revolution hin. Geprägt wurden die südosteuropäischen 1870er maßgeblich durch Auslandskontakte und -aufenthalte sowie den dadurch zustande gekommenen Import politischer Ideen, Organisationen und Konzepte, wobei russische und deutsche Einflüsse im Vordergrund standen.

Mit der Frage nach der generationellen Einordnung der spanischen Sozialisten und Sozialistinnen beschäftigte sich TILL KÖSSLER (Halle-Wittenberg). Er wies mittels biografischer Beispiele darauf hin, dass es sich bei den Sozialisten und Sozialistinnen der spanischen 1870er-Kohorte um eine höchst heterogene Personengruppe handelte, mit unterschiedlichen sozialen und politischen Lebensläufen, ideellen Haltungen und regionalen Hintergründen. Für eine Kategorisierung als Generation spricht aus Sicht Kösslers vor allem, dass sich die in den 1870er Jahren geborenen Mitglieder der Arbeiterbewegung in ihrer Interpretation des Sozialismus deutlich von den Vertretern und Vertreterinnen des Anarchosyndikalismus abgrenzten.

FRANCESCO TACCHI (Venedig) analysierte abschließend die Haltung der deutschen und italienischen Bischöfe aus der Alterskohorte Eberts zum Sozialismus. Dass die katholischen Würdenträger dieser Jahrgänge die politisch erstarkende Sozialdemokratie zunehmend als Gefahr empfanden, verdeutlichte Tacchi exemplarisch an der von den deutschen Oberhirten um Karl Joseph Schulte im Hirtenbrief anlässlich der Nationalversammlung 1919 postulierten „Unvereinbarkeit von Christentum und Sozialismus“.

Zusammenfassend zeigten die Beiträge, dass es zwar vielerorts zur Formierung von Generationen sozialistischer Politiker und Politikerinnen kam, aber eine für alle Länder gültige Definition einer europäischen Generation kaum möglich ist, da die unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Spezifika stark auf die jeweilige nationale Entwicklung der Arbeiterbewegungen zurückwirkten. Genau vor diesem Hintergrund argumentierte auch STEFAN BERGER (Bochum) in seinem per Livestream auf YouTube ausgestrahlten und aufgezeichneten Abendvortrag4, dass ein derartiger Blick auf die internationale Arbeiterbewegung die Gefahr einer zu starken Vernachlässigung der individuellen Begebenheiten und Besonderheiten berge, die letztlich für die Bildung einer Generation ausschlaggebend seien. Entscheidend sei auch das Problem der chronologischen Abfolge innerhalb des generationellen Denkens, auf das Berger in Bezug auf die Forschungen von Achim Landwehr hinwies5. So müsse ein lineares Zeitverständnis hinterfragt und „Pluritemporalitäten“ beachtet werden, die einen großen Einfluss auf die Erfahrungswelten der verschiedenen Akteure und Akteurinnen hätten. Indes zeigte die Abschlussdiskussion, dass das Konzept der Generation dennoch für eine vergleichende Betrachtung der Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fruchtbar gemacht werden kann und weitere Forschungsperspektiven eröffnet.

Konferenzübersicht:

Dirk Schumann (Göttingen): Einführung

Panel 1: Österreich und die Schweiz

Moderation: Dirk Schumann (Göttingen)

Wolfgang Maderthaner (Wien): Marxistische Wagnerianer. Das jüdische Großbürgertum, die organische Facharbeiterintelligenz und das Entstehen einer Sozialdemokratie in „Kakanien“

Christian Koller (Zürich): Organisation, Rebellion, Integration: Die „Spät-1870er“ und die Entwicklung der Schweizer Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Panel 2: Belgien und Großbritannien

Moderation: Moritz Föllmer (Amsterdam)

Jan Willem Stutje (Gent): Hendrik de Man and the Crisis of Social-Democracy in Belgium and in Germany, 1918-1940

Andrew Thorpe (Leeds): Between MacDonald and Attlee: British Labour leaders born in the 1870s

Öffentlicher Abendvortrag

Moderation: Anja Kruke, Bonn

Stefan Berger (Bochum): Gibt es die 1870er? Skeptische Bemerkungen zum Zusammenhang von Generation und politischer Sozialisation im europäischen Sozialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Panel 3: Der Osten

Moderation: Bernd Braun (Heidelberg)

Felicitas Fischer von Weikersthal (Heidelberg): „Führer werden im Kampf geboren“. Russische 1870er und ihre Sozialisation in Illegalität, Verbannung und Emigration

Aschot Hayruni (Jerewan): Die sozialistische politische Elite Armeniens vor und nach dem Ersten Weltkrieg

Panel 4: Süd(ost)europa

Moderation: Christoph Cornelißen (Frankfurt am Main)

Dietmar Müller (Leipzig): Südosteuropäische Sozialisten zwischen Nationalismus und Agrarpopulismus

Till Kössler (Halle-Wittenberg): Generation und Politik im spanischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit

Francesco Tacchi (Venedig): Deutsche und italienische Bischöfe der Kohorte Eberts und die sozialistische Bewegung: Vergleichende Bemerkungen

Anmerkungen:
1 Klaus Schönhoven / Bernd Braun (Hrsg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2003.
2 Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied 1970.
3 Benjamin Ziemann, Generationen im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Kritik eines problembeladenen Begriffs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), Nr. 52/53, S. 4-9, URL: https://www.bpb.de/apuz/generationen-2020/324485/zur-kritik-eines-problembeladenen-begriffs.
4https://youtu.be/PlybXeGT22A
5 Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020.