Philosophie des Körperlichen / Philosophies de la Chair 1680-1750: Le théâtre du libertinage entre art et science

Philosophie des Körperlichen / Philosophies de la Chair 1680-1750: Le théâtre du libertinage entre art et science

Organisatoren
Goethe-Institut Nancy
Ort
Nancy
Land
France
Vom - Bis
06.10.2005 - 08.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Klein, Goethe-Institut

Das Kolloquium "Philosophien des Körperlichen" brachte vom 6. bis 8. Oktober im Goethe-Institut Nancy Wissenschaftler auf internationaler Ebene und aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um die Entwicklung des radikalen Zweigs der Aufklärung, der Vorläufer de Sades, zu diskutieren und ihre Hinwendung von einem mechanisch verstandenen Körper zum lebendigen Fleisch, nachzuvollziehen. Nach drei Tagen Vorträgen und Diskussion erwies sich eine neue Lektüre der libertären Philosophie als brandaktuell.
Organisiert wurde das Kolloquium vom Goethe-Institut Nancy (Ute Grauerholz), in Zusammenarbeit mit der Stadt Nancy, der Universität Nancy 2, dem CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique), den Archives Poincaré (Gerhard Heinzmann) und der Freien Universität Berlin (Ludger Schwarte). Neben der Unterstützung durch die Stadt Karlsruhe im Rahmen des 50. Jubiläums der Städtepartnerschaft mit Nancy war die Veranstaltung Teil der Feierlichkeiten zum Großprojekt "Nancy 2005 Le Temps des Lumières", die ganz Nancy für ein Jahr ins Zeichen der Aufklärung stellen.

"Schon die Tatsache ist erstaunlich, dass die schockierende Philosophie der Libertinage Gegenstand einer hochkarätig besetzten Tagung geworden ist", stellte Ludger Schwarte von der Freien Universität Berlin, zum Abschluss des Kolloquiums fest. Die "schockierende Philosophie" ist die der radikalen Frühaufklärer: In den Texten von La Mettrie, D'Holbach, Maupertuis, Boyer d'Argens, Baculard d'Arnaud und Voltaire finden sich Überlegungen zu einer Praxis der Sinnlichkeit, die noch heute viele als anstößig empfinden. Am Hof Friedrichs II. in Berlin trafen diese Freidenker zusammen, hier schmiedeten sie gemeinsam an neuen Vorstellungen. Die Zusammenarbeit erwies sich dabei als grundlegend und so ist etwa das im preußischen Exil entstandene Skandalbuch "Thérèse Philosophe" von Boyer d'Argens, dessen Vorgeschichte Jean-Pierre Cavaillé von der EHESS Paris in seinem Vortrag behandelte, ohne die "libertins érudits" nicht denkbar.
Der Schwerpunkt der Tagung lag auf der Hinwendung von einem mechanisch verstandenen Körper hin zum lebendigen Fleisch, auf der neuen Vorstellung vom Körper als Organismus, die sich mit der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' um 1700 und gestützt auf zeitgenössische medizinische Forschungen herausbildete. Bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts hatten verschiedene geistige Strömungen - Baconismus, Cartesianische Mechanik, Epikureismus, empirische Erkenntnistheorie und die Newtonsche Synthese -, aus denen die unter dem Begriff der wissenschaftlichen Revolution bekannte Transformation menschlichen Denkens bestand, die gesamte Verstehensweise des Körpers, auch in seinem Verhältnis zum Kosmos, radikal verändert. Die libertäre Philosophie, die sich um 1700 in ganz Europa auf verschlungenen und geheimen Pfaden ausbreitete, ging allerdings noch weit darüber hinaus: sie entdeckte den Leib als Verstehenszentrum, sie machte die Lust und den Schmerz zum Ausgangspunkt des politischen und moralischen Räsonierens, sie betonte die Gleichartigkeit und Entwicklungsfähigkeit alles Lebendigen. Daraus ergaben sich dramatische Konsequenzen: Atheismus, Materialismus, die Emanzipation der Frau werden in Traktaten verhandelt, die ihr Publikum nicht zuletzt durch ihr aufreizend-pornographisches Gewand für sich zu gewinnen suchten. Graphische und sprachliche Darstellung konnten dabei erheblich voneinander abweichen, die Illustrationen konnten die erregenden Strukturen der Texte aufgreifen, verstärken aber auch konterkarieren, wie Carolin Fischer von der Humboldt Universität Berlin am Beispiel des erregenden Romans des 18. Jahrhundert aufzeigte.

Ist der Paradigmenwechsel vom cartesianischen Mechanismus zur Vorstellung des Organismus als Ausgangspunkt der heutigen Biologie anerkannt, so stellten die Referenten fest, dass in letzterer noch Kausalbegriffe vorherrschen. Das dynamische Denken, von Leibniz begründet - das den Körper als Übergang definiert, der sich durch Erfahrung ständig wandelt und diesen somit als Struktur und Wahrnehmungsmöglichkeit begreift - ist in der modernen Biologie noch nicht angekommen, so die Kritik. Heute wie damals, betonte Jochen Büchel von der TU München, scheiden sich die Geister am Umgang mit den Kräften, die den dynamischen Prozessen zugrunde liegen. Es ergab sich die Forderung, dass Biologie und Biographie zusammengedacht werden müssen.

Doch die Referenten betonten auch die Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels bis in den Alltag des "modernen" Menschen: Der Körper, der sich heute zum Raum der Lebenserfahrung und des Lebensgenusses gewandelt hat, wird zum regelrechten "Schauplatz". So brachte Peter Weibel, Direktor des ZKM Karlsruhe, den Begriff der zweiten Haut ein, deren bekannteste Stofflichkeiten Pelz und Samt sind, neben Lack und Leder, Gummi, Brandings, Tätowierungen von den Schamlippen bis zu den Oberarmen. Die Kleidung sieht er, genauso wie die gepeitschte, verletzte, tätowierte oder bemalte Haut als Auseinandersetzungen mit einer Grenze zwischen Ich und Welt. Die Inszenierung des Körpers und der Lust an Partialobjekten in der zeitgenössischen Kunst, in der Mode und besonders in der Photographie muss zurückgeführt werden auf jene auf der Tagung untersuchte Periode zwischen 1680 und 1750, seit der die Disziplinierung und Technisierung des Fleisches als Lust der Selbstkontrolle erlebt wird.

In den Diskussionen war ein weltlicher Begriff von "Fleisch" vorherrschend, als Grundlage der Wahrheit und der Existenz. Bernard Andrieu von der Université Nancy 2 betonte im Zuge seiner vergleichenden Betrachtung der Erotik des Körperlichen bei La Mettrie (1709-1751) und Merleau-Ponty, dass sowohl der sprachliche Externalismus, der die Ansicht verteidigt, dass ohne Bild und Sprache das Fleisch nicht sichtbar sei, als auch der biologische Internalismus, der aus dem Fleisch die erste Substanz macht, auf der unsere Geschichte eingeschrieben ist, vermieden werden muss.

Der Begriff des "Fleisches" erschien dabei nicht allen selbstverständlich, so dass ihn etwa Michael Astroh von der Universität Greifswald unter dem Begriff der "Masse", Peter Weibel unter dem des "Phantoms" verhandelte. Die Praxis des Masochismus kann seiner Auffassung zufolge Ausgangspunkt einer Politik der Anerkennung sein. Aber auch die libertine Schreibweise kann, wie Jean-Pierre Dubost (Université Blaise Pascal, Clermont-Ferrand) darlegte, eine Praxis bieten, die schematische Ansprüche der Vernunft zurückweist und die Religion und die Wissenschaft als Theater der Politik durchschaut. So zeigte Gianni Paganini (Università del Piemonte Orientale) an der Metapher des Welttheaters auf, wie das Bild eines Gottes als Marionettenspieler säkularisiert wurde und stellte sie in den Kontext einer politischen Lesart der Religion. Antony McKenna von der Université Saint-Etienne entdeckte im Werk Molières ein regelrechtes "Théâtre de la chair" und enttarnte etwa Don Juan, der traditionell als Verkörperung des flammenden Libertinismus Molières gilt, als einen "falschen" Libertin, stellte ihn in eine Reihe mit dem "falschen" Frömmler Tartuffe und dem "falschen" Einzelgänger Alceste. Für Ludger Schwarte stellt der Begriff des Fleisches den Ausgangspunkt einer Überwindung von Geschmacks- und Körperinstruktionen dar, die sich in ein System der Vermarktung eingliedert.

Dass die Aufklärung nicht nur eine Sache der Popularisierung von Wissen durch autorisierte Eliten ist, sondern ein kollektives Unterfangen sein kann, zeigte schließlich Ulrich Johannes Schneider am Beispiel von Zedlers Universal-Lexikon. Mit gewissen Ähnlichkeiten zu der heutigen Internet-Enzyklopädie Wikipedia handelte es dabei um einen sich strukturell erweiternden Wissens-Korpus, den Schneider als Spiegel des städtischen Publikums, als Mittel zur Aneignung des eigenen Körpers durch ausgetauschte Diagnose und Therapie-Rezepte interpretierte.

Trotz der nicht immer leicht zugänglichen Thematik fanden sich zahlreiche Interessierte zu den Vorträgen ein. Mit Gästen aus Frankfurt/Oder, Berlin und Paris wurden dabei regionale Grenzen weit überschritten. Allgemein wurde der positive Verlauf und der rege Austausch unter den Referenten betont. Ein solches Treffen unter Spezialisten aus verschiedensten Fachbereichen - von der Philosophie, Geschichte, Kunst und Literatur bis zur Chemie - und in internationaler Zusammenstellung empfanden alle Teilnehmer als bisher einmalige Chance. Schließlich war es Ute Grauerholz, Leiterin des Goethe-Institutes Nancy, ein besonderes Anliegen, dass das Kolloquium einen Beitrag zur Wieder-Entdeckung der Aufklärung als gesamteuropäisches Projekt leistet. Denn, was im 17. Jahrhundert ein gesamteuropäisches Netzwerk des intellektuellen Austauschs von Freidenkern war, wird heute mehr und mehr als nationales Kulturgut gepflegt, die europäische Dimension immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Thematisch wie in der Zusammenstellung stellte sich das Kolloquium gegen diese Tendenz.

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Katharina Klein

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Frankreich

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