Anti-/Intellektualismus in der U.S.-amerikanischen Geschichte

Anti-/Intellektualismus in der U.S.-amerikanischen Geschichte

Organisatoren
Nils Steffensen, Europa-Universität Flensburg; Andreas Hübner, Leuphana Universität Lüneburg/Universität Leipzig
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.02.2021 - 27.02.2021
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Von
Ann-Kathrin Hoffmann, Europa-Universität Flensburg

Die Aktualität des (Anti-)Intellektuellen, der (Anti-)Intellektualität und damit der Thesen des Historikers Richard Hofstadters, der den Anti-Intellektualismus als Charakteristikum des „American Life“ ausmachte, ist als Ausgangspunkt (psychologisierender) Gegenwarts- und Krisenanalysen ungebrochen. Von dieser Beobachtung ausgehend formulierten NILS STEFFENSEN (Flensburg) und ANDREAS HÜBNER (Lüneburg/Leipzig) als Ziel eines zweitägigen Workshops an der Europa-Universität Flensburg eine Prüfung von Hofstadters Thesen, eine Historisierung des amerikanischen Anti-Intellektualismus sowie eine Erweiterung der Thesen Hofstadters auf bislang nicht berücksichtigte gesellschaftliche Gruppen in den USA. Über das Nachspüren anti-intellektueller Momente im amerikanischen Republikanismus, Evangelikalismus wie auch der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte und der Wahl neuer Zugänge werde, so die Prämisse des Workshops, ein neuer Blick auf den U.S.-amerikanischen Demokratieentwurf möglich.

NILS STEFFENSEN schloss an die Rezeption von John Adams als „public intellectual“ an und unternahm, ausgehend von der wissenschaftshistorisch zu begründenden Diskrepanz zwischen dessen Gelehrsamkeit und Publizistik auf der einen und seinem engen, utilitaristischen Bildungsverständnis auf der anderen Seite eine Neubestimmung unter der Perspektive von Hofstadters Intellektuellen-Typologie. Für Adams seien Bildung, Wissenschaft und Künste für die Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft bedeutend gewesen, indem sie als Treiber von Entwicklungen fungierten, und so verstand er sie als konstitutiv für menschliche Grundbedürfnisse, als staatliches Qualitätsmerkmal und gar Voraussetzung für „happiness“. Adams, der vor allem der Politik(wissenschaft) eine exponierte Bedeutung beimaß, sie gar als „göttliche Wissenschaft“ bezeichnete, habe sich als Gelehrter zudem durch die Verquickung von Erkenntnis- und Ruhmesstreben in seiner juristischen Karriere ausgezeichnet, der sich gleichzeitig dagegen zu verwehren suchte, den Künsten zu erliegen. Steffensen deutete Adams als Intellektuellen und arbeitete in der Reflexion der Hofstadterschen Typologie die Zeit- und Standortgebundenheit des Intellektuellen-Begriffs heraus, der insbesondere mit Blick auf den Politiker als Intellektuellen nicht frei von Spannungen sei.

GEORG ECKERT (Wuppertal/Freiburg) eruierte das Potential des Begriffs der „Philosophenpräsidenten“ für die Analyse politischer Praktiken, indem er diesen als ein heuristisches Instrument verwandte, um die Politik dieser Präsidenten als (anti-)intellektuell zu bestimmen und sie historisch (neu) zu deuten. Die U.S.-amerikanischen Präsidenten Wilson, Taft und Roosevelt als „Exponenten“ einer Art von Politik, die intellektuell gemeint, an- und wahrgenommen wurde, bildeten bei Eckert dank ihres gemeinsamen, wissenschaftlich fundierten Politikstils den Ausgangspunkt für die Reflexion des Verhältnisses von Politik und „life of mind“. Diesem wurde nachgespürt auf den Ebenen des Intellektualismus als Habitus, als Arbeitsweise und Methode sowie als Weltzugang bzw. Überzeugung, wie Hofstadter sie herausgestellt hatte. Als Ausprägungen derselben identifizierte Eckert eine religiöse Prägung des life of mind, ein Bekenntnis zur Bildung im Sinne der gentlemen scholars sowie ein Bekenntnis zur Wissenschaft respektive wissenschaftlicher Expertise modernerer Prägung. Letztere habe sich u.a. in den getroffenen Personalentscheidungen niedergeschlagen und all dies das Verhältnis der Philosophenpräsidenten zum Common Sense neu ausgelotet.

REBECCA BRÜCKMANN (Bochum) spürte in Panel II dem Nexus von Anti-Intellektualismus, Geschlechteressentialismus und White Supremacy in Verbindung mit dem New Conservatism im U.S.-Süden ab Ende des Zweiten Weltkriegs nach. Anti-Intellektualismus drückte sich hier insbesondere in einer Haltung gegen das Establishment aus, wobei „die Eliten“ eine Art „umbrella term“ darstellte und schichtübergreifend die Abgrenzung zu Washington und dem Liberalismus meinte. Obschon mit unteren Schichten verbunden, sei der Anti-Intellektualismus eigentlich vielmehr eine Frage der Rhetorik und Selbstdarstellung, die ihrerseits wiederum je nach Kontext und Adressat differieren konnte. Illustriert wurde dies am Beispiel der „Cheerleader“ aus New Orleans: einer Gruppe von weißen Frauen, die sich als „white trash“ inszenierten, die im Kontext der Desegregation von Schulen als vulgär und anti-intellektuell wahrgenommen wurden – als Positionierung gegen das Establishment.

Anhand von Rebecca Harding Davis und Eliza Francis Andrews nahm JULIA NITZ (Halle-Wittenberg) exemplarisch die Rolle privilegierter, weißer Frauen in anti-intellektuellen Diskursen des späten 19. Jahrhunderts in den Blick. Sie thematisierte über die Verortung der Frauen im politischen Raum und das Moment der Partizipation auch das Verhältnis von Demokratie und Anti-Intellektualismus, wie es sich bereits bei Hofstadter – allerdings unter Auslassung der im domestischen Raum verankerten Frauen – findet. Ihre schriftstellerische Tätigkeit ermöglichte den Frauen eine gesellschaftliche Positionierung, die mit einer Befürwortung von Intellekt einherging, jedoch einen bodenständigen Intellektualismus propagierte, der „das Weibliche“ in die Politik einbezog, sodass die Protagonistinnen als Fürsprecherinnen eines partizipatorischen, angewandten Intellektualismus gedeutet werden können.

Ausgehend vom Scopes Trial 1925 zeichnete ANJA-MARIA BASSIMIR (Mainz) in Panel III die diskursive Verquickung von religiösem Fundamentalismus und Anti-Intellektualismus nach, die auch in Hofstadters Deutung orthodox Gläubiger zu finden und durch den Zeitungsredakteur Henry L. Mencken paradigmatisch geworden sei. Dieser habe im Zuge der Prozessberichterstattung und der anschließenden fehlgeschlagenen, anti-intellektualistisch gefärbten Debatte zur polarisierten Deutung von Religion, Fundamentalismus und Evangelikalismus auf der einen und Wissenschaft, Modernismus und Mainline auf der anderen Seite erheblich beigetragen. Damit einher gingen, so Bassimir, Probleme für eine analytische Kategorienbildung durch die Identifizierung des Evangelikalismus mit einer nicht näher bestimmten „religiösen Rechten“.

ANDREAS HÜBNER (Lüneburg/Leipzig) untersuchte in Panel IV das Leben des deutsch-amerikanischen Filiopietisten J. Hanno Deiler aus New Orleans entlang von dessen Tätigkeiten als Pädagoge, Musiker im Sängerwesen und Historiker. Für Deiler, der neben seiner Professur an Schulen tätig war, habe die Verankerung und Sicherung des Deutschunterrichts im Curriculum im Mittelpunkt seiner Bemühungen und bildungspolitischen Anstrengungen gestanden, die er im Rahmen seiner Position als Präsident der „Deutschen Gesellschaft“ forcierte. Sein Versuch, das „Deutschtum“ zu „heben“ und eine deutsch-amerikanische Ethnizität zu konstruieren, bedurfte nicht nur der „Produktion kohärenten Nicht-Wissens“, sondern machte Deiler auch zu einem Typus des „obsessiven“ Intellektuellen. Deiler, der sich selbst als Historiker verstand und eher an genealogischen Erkundungen denn an einer professionellen Geschichtsschreibung interessiert war, habe die Potenziale der Wissenschaft begrenzt, indem er sie der praktischen Zielsetzung unterordnete: der Verankerung des „Deutschtums“ in der amerikanischen Geschichte und der Konstruktion eines transnationalen, „vereinten Deutschtums“.

CHARLOTTE LERG (München) ging in historischer, transatlantisch vergleichender Perspektive der Frage nach, ob es deshalb so schwierig sei, über akademische Freiheit zu sprechen, weil es sich weniger um eine Freiheit denn ein Privileg handle. War die civitas academica im vormodernen Europa einst Voraussetzung für freies Lehren und Lernen, sei es zunehmend zu einer Bedeutungsverschiebung hin zum Individuum gekommen. Im amerikanischen Hochschulsystem habe hingegen keine wissenschaftliche Selbstverwaltung zur Sicherstellung institutioneller Autonomie gegenüber dem Staat bestanden; vielmehr stand academic freedom früh im Zeichen des (Kündigungs-)Schutzes der Lehrenden gegenüber der Hochschuladministration. Interpretationen akademischer Freiheit differenzierten sich aus in solche, die den Fokus entweder auf das Individuum oder die Institution lenkten. Diese Dualität sei über steigende Studierendenzahlen und die Studentenproteste in den 1960er-Jahren dynamisiert und in der Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Öffentlichkeit neu ausgehandelt worden – ein Prozess transnationalen Transfers, der bis heute andauere, wenngleich er trotz der „Entfesselung der deutschen Hochschule“ kaum thematisiert werde.

TORBEN LÜTJEN (Kiel) erörterte in Panel V die Rolle des Anti-Intellektualismus im US-Konservatismus, einer Bewegung, die sich durch ihren aggressiven Anti-Intellektualismus auszeichne und zugleich selbst aus Intellektuellen konstituiere. Entlang dreier Phasen wurde dabei auch das Verhältnis zwischen dem bei Hofstadter überzeitlich gefassten Anti-Intellektualismus und dem zeitlich verorteten Populismus als symbiotisches ausgeleuchtet. Als Anti-Rationalismus sei der Anti-Intellektualismus der 1960er-Jahre mit einem Appell an den Common Sense und einer Verknüpfung mit libertären Ideen einhergegangen, im postmodernen Konservatismus der 1990er-Jahre mit der Negierung von Wahrheit. Die dritte Phase zeichne sich durch den Aufbau von konservativer Gegenexpertise und alternativer Fakten in der Gegenwart aus: Die Demokratisierung des Wissens erst durch die Bildungsexpansion, dann durch das Internet habe zu einem konservativen „self-empowerment“ und einen „cult of the amateur“ geführt, der mithin weniger als Anti-Intellektualismus denn als Parodie von Intellektualismus und Wissenschaft gedeutet werden könne.

PATRICK BAHNERS (Frankfurt am Main) nahm Hofstadters Aufsatz „Beard and the Constitution: The History of an Idea“ von 1950 zum Ausgangspunkt seines Vortrages. In diesem Text hatte Hofstadter unter Bezugnahme auf Charles A. Beards „An Economic Interpretation of the Constitution of the United States“ von 1913 dessen wissenschaftliche Idee, dass die Verfassungsgebung auf den Gegensatz ökonomischer Interessen zurückzuführen gewesen wäre, historisiert. Auf der Basis eines close reading der Argumentationstextur entdeckte Hofstadter eine Ambiguität, die ihm zufolge die Frage offen lasse, inwiefern Beards Grundthese – eng gefasst – als Suche nach Motiven oder – allgemeiner – als heuristischer Rahmen zu verstehen sei. Dieses Argumentationsschema wandte Bahners sodann auf Hofstadters Werk „Anti-Intellectualism in American Life“ von 1963 selbst an und skizzierte mögliche Niederschläge seiner persönlichen Weltsicht auf Narrativ und Argumentation des Buches.

In der abschließenden Diskussion wurden mit Blick auf das Ziel des Workshops, aus historischer Perspektive Hofstadters Aktualität und Potentiale für Gegenwartsanalysen auszuleuchten, vor allem fünf Kristallisationspunkte für weitere Forschung deutlich: Zum einen ließen sich unter Einbezug von Hofstadters Ideengebern selbst und den Bogen über die Anwendung seiner Ideen auf die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neue Hinweise für das Verhältnis von Politik und Moderne finden, zum anderen wäre im Rekurs auf demokratische und geistesaristokratische Ideen die Rolle der Universitäten und die Stellung der Wissenschaftler und Intellektuellen innerhalb der amerikanischen, aber auch europäischen und deutschen Gesellschaft überhaupt zu bestimmen. Daran schließen sich drittens Fragen nach dem Rollenproblem der Intellektuellen zwischen Introspektion und Öffentlichkeit insbesondere für die Zeit des New Deals sowie die 1950er- und1960er-Jahre an. Viertens seien Curriculums-Analysen mögliche, fruchtbare Ausgangspunkte für eine Verhältnisbestimmung klassischer Bildungsinhalte und solcher des life adjustment. Abschließend müsse es darum gehen den Blick darauf zu richten, welche sozialen Gruppen zunächst von klassischer Bildung, von Intellektualität ausgenommen worden seien, wobei diese Erweiterung des Akteurskreises und des Raumes Fragen nach der Beständigkeit der Kategorien neu aufwerfe. Weniger der Intellektualismus als der Anti-Intellektualismus im Hofstadterschen Sinne bildete den Bezugspunkt der Vorträge und Diskussionen, woraus sich aufgrund dessen weniger strenger Konzeptionalisierung Spannungen aufgetan haben, die sich vor diesem Hintergrund produktiv weiterentwickeln lassen.

Konferenzübersicht:

Nils Steffensen (Europa-Universität Flensburg) und Andreas Hübner (Leuphana Universität Lüneburg/Universität Leipzig): Begrüßung und Einführung

Panel I: Antiintellektuelle Tendenzen in der Bildungsaristokratie?

Nils Steffensen (Europa-Universität Flensburg): John Adams – Intellektueller, Nichtintellektueller, Antiintellektueller?

Georg Eckert (Universität Wuppertal/Freiburg): Philosophenpräsidenten? Roosevelt, Taft und Wilson als Intellektuelle?

Panel II: Rassismus, Gender und Antiintellektualismus

Rebecca Brückmann (Ruhr-Universität Bochum): Outside the Silk-Stocking District: Anti-Intellektualismus, Geschlechteressentialismus und White Supremacy im US-Süden, 1948–1972.

Julia Nitz (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): U.S. Anti-Intellektualismus im 19. Jahrhundert: Ein Privileg weißer Männer?

Panel III: Anti/ Intellektualismus und Religion

Anja-Maria Bassimir (Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Das „Mencken Paradigma“. Anti-Intellektualismus und die Darstellung von Religion in den USA.

Panel IV: Anti-/ Intellektualismus transatlantisch

Andreas Hübner (Leuphana Universität Lüneburg/Universität Leipzig): Anti-/Intellektualismus und deutsch-amerikanischer Filiopietismus.

Charlotte Lerg (Ludwig-Maximilians-Universität München): Anti-/Intellektualismus und akademische Freiheit – ein transatlantischer Blick.

Panel V: Intellektualisierter Antiintellektualismus

Torben Lütjen (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel): Von Common Sense zu Alternative Facts: Transformation des Anti-Intellektualismus im US-Konservatismus.

Patrick Bahners (Frankfurter Allgemeine Zeitung): Hofstadter und der Antiintellektualismus. Die Geschichte einer Idee.


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