Das Kaiserreich vermitteln: Brüche und Kontinuitäten seit 1918

Das Kaiserreich vermitteln: Brüche und Kontinuitäten seit 1918

Organisatoren
Staatliche Schlösser und Gärten Hessen; Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2021 - 22.06.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Patrick Wolfgang Schäfer, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Zum 150sten Mal jährte sich in diesem Jahr die Gründung des Deutschen Kaiserreiches. Die Zeit zwischen der Proklamation des Reichs durch die deutschen Fürsten im Spiegelsaal von Versailles und dem verlorenem Weltkrieg 1918 lässt sich heute, so erscheint es, am überzeugendsten durch eine gewisse „Beziehungslosigkeit“ der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu diesem Staat, den Prozessen und Transformationen, die in und durch ihn entstanden, den progressiven und auch problematischen Errungenschaften, die über sein bestehen hinauswirkten, charakterisieren. In der Geschichtswissenschaft ist mehr oder weniger pünktlich zum Jahrestag eine Auseinandersetzung über das Kaiserreich entflammt und seine Deutung wird wieder einmal kontrovers diskutiert. Welche Brüche und Kontinuitäten seit 1918 sind feststellbar? Wie vielfältig und facettenreich erwies sich die deutsche Gesellschaft um 1900? Wie sollten wir diese Epoche deuten und vor allem wie sollten wir sie in Zukunft vermitteln? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Tagung, die im Schloss Bad Homburg vor der Höhe zusammenkam und digital verfolgt werden konnte. Gefördert wurde die Veranstaltung zudem durch die Kulturstiftung der Länder (Berlin) sowie die Hessische Kulturstiftung (Wiesbaden). Eingeteilt in drei Sektionen wurden die historiografischen Positionierungen, die Ambivalenzen der Moderne und die heutige Vermittlung des Kaiserreichs diskutiert.

Ziel der ersten Sektion war es, neue Aspekte der Interpretation des Kaiserreichs aufzuzeigen und der Frage nachzugehen, wie viel Differenzierung möglich ist. Besonders die Verfassungsgeschichte stand hier im Vordergrund.

Zu Beginn der Tagung verwies TORSTEN RIOTTE (Frankfurt am Main) auf die doppelte Dialogizität wissenschaftlicher Forschung. Diese richte sich nicht nur an interessierte Leser:innen und versuche diese von den eigenen Erkenntnissen zu überzeugen, sondern stelle gleichzeitig eine Positionierung innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses dar. Am Beispiel der aktuellen Veröffentlichungen zum Kaiserreich werde dies besonders deutlich. So gebe es heftige Debatten die Deutung der Epoche als Ganzes, einhergehend mit entsprechenden Positionierungen. Ein neues Bild des Reichs sei aber nicht entstanden, stattdessen setze sich die neuere Forschung damit auseinander, wie viel Differenzierung möglich sei und wie die Epoche vermittelt werden könne. Die neueren Diskussionen seien Ergebnis einer grundsätzlichen Frage, wie viel Reduzierung möglich und nötig sei.

Es folgte der Beitrag von FRANK LORENZ MÜLLER (St Andrews), der seinen Fokus auf die Funktion des Monarchen und die Person Wilhelm II. legte. Er argumentierte, dass die an den Monarchen herangetragenen Erwartung – eine unparteiische modernisierende Kraft innerhalb des Staates zu bilden – von Wilhelm II. nicht erfüllt werden konnte, da er sich selbst während seiner gesamten Regentschaft als von Gott legitimierten Monarchen betrachtet habe und eine Zusammenarbeit mit dem Reichstag somit erschwert worden sei, zumal er auch über keine moderierenden Eigenschaften verfügt habe. Dennoch habe Wilhelm II. einzelne Funktionen der Rolle des „Reichsmonarchen“ ausfüllen können und bot durch seine Inszenierung dieser Rolle ein Spektakel an, sodass eine breite anti-monarchistische Bewegung bis 1914 verhindert worden sei. In seinem Resümee kam Müller zu dem Schluss, dass die positiven Effekte dennoch von den negativen Eigenschaften des Monarchen überdeckt worden seien, sodass 1918 der Glaube an eine Reformfähigkeit der Monarchie nicht ernsthaft existiert habe.

CHRISTOPH NONN (Düsseldorf) setzte sich mit den prägenden Erzählweisen der Geschichtswissenschaft über das Kaiserreich auseinander. Er kritisierte dabei sowohl eine Betrachtungsweise, die er als „schwarzen Legende“ bezeichnete und deren Fokus auf der Betrachtung des Militarismus, dem vorhandenen Antisemitismus sowie den demokratischen Defiziten des Kaiserreichs läge, als auch eine Interpretation, für die er den Begriff der „weißen Legende“ verwendete und deren Sichtweise auf die Modernisierungsschübe in Technik und Naturwissenschaften oder eine positive Bewertung von Bismarck und dessen Sozial- und Bündnispolitik beschränkt bliebe. Hinter dieser Auseinandersetzung wähnte Nonn dabei nicht das Kaiserreich als solches, sondern die Interpretation der folgenden Epochen, der Weimarer und Bonner Republik als eine Option, der nationalsozialistischen Diktatur als der anderen. In beidem gehe es stärker um geschichtspolitische als um wissenschaftliche Positionen. Nonn selbst plädierte für eine breitere Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich, um die Ambivalenz der Moderne aufzeigen zu können.

EVA GILOI (Newark) brachte mit ihren Ausführungen zu Markenrecht und Werbeanzeigen mit monarchischen Symbolen und Namen einen neuen Blickpunkt ein. Zuerst zeigte sie, wie sich erst gegen Ende des Jahrhunderts neue Gewerberegelungen mit der Schaffung eingetragener Namen ergaben. Da auf den neuen Massenmärkten um immer weitere Aufmerksamkeit gekämpft werden musste, wurden auch schnell Produkte mit monarchischen Symbolen oder Namen auf den Markt gebracht. Die Gründe für eine solche Benennung waren dabei vielfältig, konnten den meist neuen und unbedeutenden Herstellern doch schnell Aufmerksamkeit garantieren. Zudem zeigte sich an diesem Beispiel, dass die Entstehung des modernen Rechts nicht mit den Interessen der Monarchie einherging. Klagen der Hohenzollern gegen einige Markenprodukte wurden dabei mit Verweis auf geltendes Gewerberecht abgelehnt und zeigten die Grenzen monarchischer Macht auf, die sich dem modernem Rechtsstaat beugen mussten.

In seinem Vortrag stellte CHRISTIAN JANSEN (Trier) fest, dass es in den letzten Jahren in Deutschland eine Entspannung gegenüber dem Kaiserreich gegeben habe. Dieses werde nicht mehr als Vorgänger des NS-Staates wahrgenommen, sondern zunehmend werde auf die demokratischen Errungenschaften, wie das allgemeine Wahlrecht verwiesen. Jansen konstatiert jedoch, dass die positiven Errungenschaften des Reichs keineswegs diesem anzurechnen seien, im Gegenteil seien sie Folgen der Revolution von 1848/49 ungewollte Nebenwirkungen preußischer Machtpolitik gewesen. Bereits die Revolution von 1848/49 habe die Idee von nationaler Einheit im Bürgertum festigen können und habe zudem das allgemeine (Männer-)Wahlrecht in den Köpfen verfestigt. Die Gründung „von oben“ erfolgte demnach um den Anstrich des revolutionären vermeiden zu können. Das Scheitern des Kaiserreichs sei letztlich auch ein Scheitern des europäischen Nationalismus gewesen und lasse heutzutage besonders die Bedeutung nicht-intendierter Nebenwirkungen deutlich werden.

Die zweite Sektion der Tagung setzte sich mit den Facetten und Ambivalenzen der Gesellschaft des Kaiserreichs auseinander. Zentral für diesen Abschnitt war die Frage, ob jenseits der politischen Arenen Orte zu finden seien, durch die sich das Kaiserreich darstellen lasse.

VERENA STELLER (Frankfurt am Main) ging in ihrem Beitrag auf die deutsche Frauenrechtsbewegung und deren angeblicher Wirkungslosigkeit mittels einer Erfahrungsgeschichte der beteiligten Akteurinnen ein. Anhand des Beispiels der deutschen Juristinnen zeigte sie auf, dass diese sich meist im Ausland ausbilden ließen und dort erste Erfahrungen mit dem Recht sammelten. Im Kaiserreich selbst versuchten diese Pionierinnen mit der Bildung von Frauenrechtsschutzvereinen Aufklärung zu leisten und die Widersprüchlichkeit einengender Gesetze aufzuzeigen. Auch untereinander wurde dabei um die eigene strategische Positionierung gestritten. Die Juristinnen seien damit keineswegs ohnmächtig gegenüber den rechtlichen Einschränkungen gewesen, sondern hätten versucht, die existierenden Handlungsoptionen zu erweitern und innerhalb dieser zu agieren. Dabei sei es ihnen durchaus gelungen, Recht und Geschlecht neu zu konturieren und zu definieren.

Mit den Auswirkungen der ersten Globalisierung auf das Kaiserreich setzte sich CORNELIUS TORP (Bremen) auseinander. Er skizzierte die stärker werdende Verflechtung des Reichs in den internationalen Handel und verwies darauf, dass deutsche Unternehmen eine entscheidende Rolle bei der Globalisierung zugekommen seien. Die Globalisierung sei somit nicht einfach über das Kaiserreich hereingebrochen, sondern von diesem aktiv mitgestaltet worden. Durch die starke Einbindung in den Handel habe zudem die Zoll- und Handelspolitik eine immer stärkere Rolle in politischen Entscheidungen gespielt. Dabei habe sich die Reichsregierung nicht von Zollbefürwortern aus Reihen des Agrarsektors beeinflussen lassen, sondern habe bis zuletzt eher eine begünstigte liberale Politik für die neuen Industrien fortgesetzt. Eine Neubewertung sei hier zumindest in einem Punkt angebracht, nämlich der eigentlichen Motivation Bülows für eine stärkere Schutzpolitik, die wesentlich moderater ausfiel, als die klassische Interpretation einer „Allianz von Roggen und Eisen“ impliziere.

Auf die entstehenden alternativen Lebensentwürfe im Kaiserreich, die unter dem Schlagwort der Reformbewegungen subsumiert wurden, ging FLORENTINE FRITZEN (Frankfurt am Main) ein. Sie stellte dar, dass es einerseits viele Anknüpfungspunkte zu heutigen Bewegungen, wie etwa der Klimaschutzbewegung gebe, andererseits aber auch viele Differenzen. Die Reformbewegungen verstanden sich selbst als Mitglieder einer Gemeinschaft, die ein jeweils gesetztes utopisches Ziel verfolgten. Dabei seien sie keineswegs Gegner der Moderne gewesen, sondern sahen sich selbst als „Erleuchtete“, die sich ein besseres Leben wünschten. Sie argumentierten durchaus naturwissenschaftlich – etwa gegen das Essen von Tieren –, doch wurden auch Ziele der Selbstoptimierung verfolgt. Den größten Einfluss erlangten die Reformbewegungen durch ihr Wirken in Richtung Kultur und Literatur. Sie seien letztlich auch für heutige Bewegungen prägend und stellten einen Ansatzpunkt für die weitere Vermittlung des Kaiserreichs dar.

In der dritten und abschließenden Sektion wurde die praktische Vermittlung des Kaiserreichs in heutiger Zeit diskutiert. Die vor diesem Abschnitt stehende Frage lautete, wieviel Differenzierung bei der Vermittlung möglich sei und wie diese erfolgen könne.

Die Vermittlung des Kaiserreichs spielte bei MARKUS HÄFNER (Frankfurt am Main) eine zentrale Rolle. Das Kaiserreich würde in der Stadtgeschichte auch heute noch ein zentraler Bestandteil der Erinnerung und Vermittlung sein. Gerade die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, städtische Persönlichkeiten, Gebäude und ganze Stadtviertel böten immer wieder Anlass zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Reich. Zentral sei meist das Aufzeigen von Brüchen, ob politischer oder gesellschaftlicher Natur, wie dies etwa durch Ausstellungen zur Kleidungs- und Geschlechtergeschichte geschehe. Auch für die Entwicklung ganzer Viertel könne das Kaiserreich als Referenzpunkt dienen, da städtischer Wandel und die Erläuterung der Lebensumstände der damals lebenden Personen zum Nachdenken über die eigenen gesellschaftlichen Veränderungen dienen könnten. Auch wenn die kritische Einordnung in der Vermittlung meist wenig Tiefe besäße, sei das Kaiserreich ein wichtiger Punkt um Geschichte zu vermitteln.

MARKUS BERNHARDT (Essen) beschäftigte sich mit der Vermittlung des Kaiserreichs in Schulbüchern. In diesen würde das Kaiserreich meist über den Zugang der demokratischen Defizitgeschichte und Erzählungen von „großen“ Persönlichkeiten vermittelt, während die Vielfalt und Modernität der Gesellschaft kaum Beachtung fänden. Die generalisierende und vereinfachende Darstellung einer komplexen Gesellschaft sowie die Reduzierung auf deren negative Eigenschaften seien darauf zurückzuführen, dass letztlich die Bewertungsmaßstäbe der Schulbuchautor:innen weitergegeben würden und eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich nicht stattfände. Das Kaiserreich böte aber gerade wegen seiner Ambivalenz und der kollektiv gemachten Modernisierungserfahrung der Menschen interessante und aktuelle Ansatzpunkte, die Schüler:innen neue Einsichten bringen könnten.

Im letzten Vortrag der Tagung berichtete JACCO PEKELDER (Utrecht) von der Entwicklung des „Huis Doorn“, von einer reinen „Zeitmaschine“ zu einem Erinnerungsort. Er verdeutlichte, dass die letzte Residenz Wilhelms II. durch ihre Funktion über viele Jahre in rein ästhetischer Art die letzten Lebensjahre des Kaisers vermittelte und keine tiefere Auseinandersetzung mit der Thematik zugelassen habe. Es habe jedoch eine Transformation zu einem Erinnerungsort stattgefunden, die nun auch eine kritische Reflexion mit dem Thema Kaiserreich und Erster Weltkrieg zulasse. Die kontextualisierende Darstellung von Personen und Schlüsselelementen sei zudem an aktuellen Geschehnissen ausgerichtet – etwa der aktuellen Debatte um die Rolle der Hohenzollern für den Aufstieg des Nationalsozialismus – und veranschauliche somit das Kaiserreich eingebettet in heutige Diskussionen.

Als Resümee der Tagung wurde formuliert, dass eine weitere Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich nicht auf eine verfassungsgeschichtliche Diskussion reduziert werden dürfe, sondern auch auf die vorhandenen Ambivalenzen hinweisen müsse. Die Betonung von Brüchen und Kontinuitäten dürfen sich nicht nur auf die Epoche des Nationalsozialismus oder die Sozialgesetzgebungen beschränken, sondern sollte das Kaiserreich in einem weiteren Kontext fassen. Das Kaiserreich weise eine Vielzahl von Facetten auf, die sich weder in die eine noch andere politische Richtung einengen ließen. Dennoch muss bei der Vermittlung auch klar sein, dass hier zwangsläufig bestimmte Aspekte ausgelassen würden. Welche Aspekte bei dieser Reduzierung wegfallen sollten und welche in den Fokus gestellt werden, muss Gegenstand weiterer Debatten werden.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Reformfähigkeit diskutieren

Torsten Riotte (Frankfurt am Main): Der schwierige Blick zurück. Wie spricht man 2021 über das Kaiserreich?

Frank Lorenz Müller (St Andrews): „… da hilft das älteste Erbrecht nichts.“ Kaiser Wilhelm II. als Monarch zwischen Funktion und Versagen

Christoph Nonn (Düsseldorf): Ambivalente Moderne: Das Kaiserreich als doppelte Vorgeschichte von Demokratie und Diktatur

Eva Giloi (Newark): Patent Law, Royal Brand Names, and how the Consumer Economy co-opted the Monarchy

Christian Jansen (Trier): Nationalismus – Imperialismus – Obrigkeitsstaat – Demokratie. Warum soll man sich heute noch mit dem Kaiserreich auseinandersetzen?

Sektion 2: Wirtschaft, Gesellschaft, Lifestyle: Modernität problematisieren

Torsten Riotte (Frankfurt am Main): Die „Moderne“ und andere Stolpersteine

Verena Steller (Frankfurt am Main): „Ein eigenes Zimmer“. Geschlecht und Recht im Kaiserreich – auf den Spuren einer Erfahrungsgeschichte

Cornelius Torp (Bremen): Das Kaiserreich in der ersten Globalisierung

Florentine Fritzen (Frankfurt am Main): Veganer avant la lettre: Warum es eine Gratwanderung ist, das Kaiserreich anhand der Reformbewegungen zu vermitteln

Sektion 3: Das Kaiserreich didaktisch vermitteln

Torsten Riotte (Frankfurt am Main): Lost in translation? Was die Vermittlung des Kaiserreichs zur Herausforderung macht

Markus Häfner (Frankfurt am Main): Das Kaiserreich in der stadtgeschichtlichen Vermittlung: Bedeutung, Formate und Praxisbeispiele

Markus Bernhardt (Essen): Das Deutsche Kaiserreich (1871-1918) als Lerngegenstand im Geschichtsunterricht – Probleme und Potenziale

Jacco Pekelder (Utrecht): Ein Museum für den Kaiser? ‚Huis Doorn‘ als Zeitmaschine und Erinnerungsort