Figurationen und Personifikationen des Nationalen im frühneuzeitlichen Europa

Figurationen und Personifikationen des Nationalen im frühneuzeitlichen Europa

Organisatoren
Forschungsplattform „Frühe Neuzeit. Figurationen des Nationalen“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.05.2021 - 21.05.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Teresa Cordero Villar, Romanisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz

Matthias Müller (Mainz), Klaus Pietschmann (Mainz) und Thomas Maissen (Paris) begrüßten die Teilnehmer:innen der interdisziplinären Onlinetagung; das Grußwort des Mainzer Vizepräsidenten für Forschung, Stefan Müller-Stach (Mainz), verlas Klaus Pietschmann. Im Anschluss führte Thomas Maissen die Teilnehmer:innen in das Tagungsthema ein und nahm besonders Bezug auf italienische Beispiele frühneuzeitlicher Staatspersonifikationen.

Panel I zum Thema Nationalallegorien eröffnete CORNELIA LOGEMANN (München), die an einem Gemälde aus der Zeit um 1500 Genuas Trauer aufzeigte und diese mit Tugenden, die Länder allegorisieren, verschwisterte. So entsteht eine Verbindung zwischen Bild und Sprache, die Logemann beide als national codiert versteht. Daran machte sie deutlich, dass ihre Interpretation für den zeitgenössischen Betrachter dechiffrierbar gewesen sein kann.

MATTHIAS SCHNETTGER (Mainz) legte dar, dass tierische Nationalallegorien in der Frühen Neuzeit unterschiedlich konnotiert waren. Der Einsatz von Tieren in der Publizistik war einerseits praktischer Natur, da der Verfasser auf das Vorwissen der Bevölkerung bauen konnte, andererseits vermochte er somit das Spektrum von Aussagen und Uneindeutigkeiten oder versteckter Kritik zu erhöhen.

STEFANIE ACQUAVELLA-RAUCH (Mainz) machte auf die Personifikationen des Nationalen im schottischen Arkadien aufmerksam. Sie zeigte auf, dass zahlreiche Liedsammlungen im frühneuzeitlichen Schottland von fluiden Gattungsgrenzen zwischen Literatur und Musik geprägt waren und betonte deren Bedeutung für die Musikkulturgeschichte. Die Uneindeutigkeit des Genres allegorisiert den Verlust bestimmter „nationaler“ Elemente, die sich im Politischen, Wirtschaftlichen und Kulturellen niederschlagen. Diesen Umbruch zeichnete die Referentin nach und zeigte die Verschiebungen und Anpassungen nationaler Personifikationen des schottischen Arkadiens auf textlicher Ebene, die zugleich eine Integration in europäische Vorstellungen und den Verweis auf die Anschlussfähigkeit der eigenen Kultur in übergeordnete Zusammenhänge demonstrieren.

POLINA A. CHEBAKOVA (St. Petersburg) referierte über Allegorien Russlands in der Kunst des 18. Jahrhunderts, die nicht in Russland selbst entstanden, sondern durch europäische Künstler erst nachträglich konstruiert worden sind. Bei der Entstehung von russischen Nationalallegorien ist auffällig, so Chebakova, dass die Herausbildung nationaler Bildlichkeit von positiv besetzten Veranstaltungen sowohl politischer als auch soziokultureller Natur vorangetrieben wurde. Als besonders ausgeprägtes Beispiel führte sie den Aspekt der problematischen Thronfolge Russlands an: Die zumeist weiblich gezeichnete Allegorie „Russland“ diente als politisches Instrument. Mithilfe der Kunst sollte Herrschaft legitimiert und die öffentliche Meinung beeinflusst werden. Sie galt als wichtiges Mittel imperialer Politik.

DIETRICH SCHOLLER (Mainz) beschäftigte sich mit Italienallegorien in Agrippa d'Aubignés Aktualitätsepos „Les Tragiques“, die er am Beispiel einer Monster-Allegorie auf Caterina de Medici nachzeichnete. Das Epos verhandelt die französischen Hugenottenkriege, in deren Zeit die Regentschaft der florentinischen Regentin fällt und die d'Aubigné simultan als pars pro toto für Italien wie Florenz heranzieht. Dabei dient die Hintergrundallegorie der Alma Mater Frankreich – dargestellt als France désolée – dazu, Caterina de Medici als parasitäres Monstrum darzustellen. Als gefährlicher Fremdkörper im Zentrum der Macht infiltriert die Regentin den französischen Staatskörper auf doppelte Weise: als Italienerin und als Frau.

TERESA BAIER (Frankfurt am Main) kehrte mit ihrem Vortrag über Germania-Allegorien in der Heroidendichtung der Frühen Neuzeit nach Deutschland zurück und referierte über das erwachende Nationalgefühl, welches deutsche Humanisten ideell-präskriptiv, sprich frei von Ständezugehörigkeiten, mit einer emotionalen Vaterlandsrhetorik prägten. In der Heroendichtung wird die Germania als hingebungsvoll liebende und zu Unrecht leidende Mutter beschrieben, wodurch Sympathie gelenkt und die Akzeptanz des Symbolischen mittels einer Sprecherinstanz mit überindividueller Autorität dargestellt wird. Die Mutterfigur ermöglicht die Darstellung politischer Schwierigkeiten als familiäre Konflikte; übertragen gesprochen, so Baier, werben die Humanisten für eine harmonische Allianz von Reichsfürsten und Kaiser, für die Reichspolitik als innerfamiliäre Friedenslösung.

MATTHIAS MÜLLER (Mainz) eröffnete das Panel II zu nationalen Leitbildern und Konzepten. Mit seinem Vortrag über Reflexionen patriotischer und nationaler Leitbilder in der deutschen Kunst und Architektur um 1500 verwies er auf den besonders polemisch ausgetragenen Nationendiskurs deutscher Humanisten und der in ihrem Umkreis beschäftigten Künstler. Müller untersuchte, inwiefern der Status der Auftraggeber Einfluss auf die inhaltlichen Akzente der Bildwerke hatte. Am Beispiel der sich durchsetzenden Landschaftsdarstellungen zeigte er, dass eine vernetzte Bildpropaganda mit einer internationalen Elitenbildung einhergeht und auf eine nationale (Kultur-)Landschaft verweist.

ANDREJ W. DORONIN (Moskau) untersuchte Gründungsfiguren der Deutschen in den Narrativen der transalpinen Renaissance-Humanisten und verwies auf das neue Bedürfnis nach identitätsstiftenden Allegorien mit dem Aufkommen moderner Nationen, da diese Konstrukte eines überregionalen ethnokulturellen Gemeinwesens sind. Doronin analysierte die Bedeutung von Mythen als Ausgangspunkt für die nationale Geschichtsschreibung. Als imaginierte Realität sind sie ein fundamentaler Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins, haben aber keine verifizierbare Legitimation, weshalb die Humanisten eine Methode entwickelten, Mythen auf der Quellenbasis (ad fontes) zu verifizieren und Nationalallegorien somit eine „haltbare“ Berechtigung zu verleihen.

MEINRAD VON ENGELBERG (Darmstadt) eruierte, ob es „deutsche Baukunst“ vor 1770 gegeben hat und untersuchte dies anhand einer doppelten Fragestellung: Gab es den Versuch nationaler Aufladung von Architektur schon vor dem heutigen Nationenbegriff in der beginnenden Moderne? Wie geht Bildende Kunst heute damit um? Das Beispiel Goethes, der die „deutsche Baukunst" mit der Gotik identifizierte, ist dem Referenten zufolge keinesfalls neu, sondern beschreibt bereits das Ergebnis eines Rezeptions-, nicht eines Produktionsprozesses, wobei Figurationen des Nationalen in der Architektur in der Regel die Überbietung und Abgrenzung im Fremden wie im Eigenen suchen.

SERGEY FYODOROV und FELIKS LEVIN (St. Petersburg) referierten über kulturelle Praktiken und lokale Identitätskonstruktionen im frühneuzeitlichen England. Eine britische Nationalidentität gilt als besonders schwierig, respektive nicht existent, da die Koexistenz unterschiedlicher Identitäten und der Mangel einer einheitlichen Nationalsprache diese verhinderten und ein interkulturelles Zusammenspiel erschwerten.

ANDREAS GIPPER (Mainz/Germersheim) untersuchte Übersetzungen im Dienst der Konstruktion einer nationalen Architektur im Frankreich der Querelle des Anciens et des Modernes. Er nahm die Übersetzungen zweier bedeutender Architekturtheoretiker in den Blick: Roland Fréart de Chambray (Verteidiger der Antike) und Claude Perrault (Fürsprecher der Moderne), die sich im Zuge der Bestrebungen, die französische Kultur von „alten“ Einflüssen zu befreien, verorten lassen. Beide Theoretiker instrumentalisierten ihre Übersetzungen für politische Zwecke; so sollte eine französische Nationalliteratur „erfunden“ werden mit dem Anspruch, eine Hegemonialstellung einzunehmen, und zwar in Abgrenzung zu Italien und zur römischen Antike.

ISAURE BOITEL (Amiens) sprach über die Darstellung von Nationen in königlichen Almanachen zur Zeit der Herrschaft von Ludwig XIV. Als populärste identifizierte sie die stereotype Darstellung eines Individuums, das sie verkörpern sollte. Das Verfahren löste die eher traditionell-akademische nationale Frauenallegorie oder die des Bestiariums ab und bot mehr Freiheit in Ton und Form. Ziel war es, der französischen Bevölkerung durch Figurationen eine transnationale interikonische Identität zu vermitteln. Dabei entstand eine visuelle Geschichte des Königreichs Frankreich und seiner Interaktionen mit anderen europäischen Mächten.

JANA GRAUL (Rom) referierte über das Neid-Argument in nationalen Künstlervergleichen des 16. und 17. Jahrhunderts und arbeitete heraus, wie sich Zuschreibungen von Neid in Schriften von Humanisten und Kunstliteraten niederschlugen. Der Neid diente als distinktives Mittel im nationalen Künstlervergleich, folglich sind die Bereiche von Moral und Sitten besonders relevant. Graul verortete dies vor dem Hintergrund des humanistischen Nationendiskurses in Italien und Europa, mit dem der Eintritt in eine neue Phase der Nationalisierung von Kultur beginnt.

Der Abendvortrag von MARIA SERENA SAPEGNO (Rom) fand im Rahmen der Jeudis de l’Institut historique allemand statt und wurde von Arthur Weststeijn (Padua) kommentiert. Sapegno referierte über die Bedeutung figurativer Italien-Darstellungen und der Italien gewidmeten Tradition der lyrischen Gattung, die mit Petrarca ihren Anfang nahm. Seine Liebesdichtung wendet sich der Konstruktion von Subjektivität zu und lässt erstmals die Frage nach individuellem und kollektivem Subjekt in Beziehung zum Mutterland zu.

In Panel III über die Nation in der Musik und auf der Bühne referierte KLAUS PIETSCHMANN (Mainz) über musikalische Repräsentationen der Natio Helvetica im 16. Jahrhundert. Der Musik als nonverbale und immaterielle Kunst kommt bei der Frage nach Figurationen und Personifikationen eine Sonderstellung zu. Sie vermag zwar nicht selbst konkrete Inhalte zu artikulieren, sehr wohl aber kann sie gesungenen Texten semantischen Gehalt einziehen. Am Beispiel des musikalischen Städtelobs verdeutlichte Pietschmann, dass der Musik in der frühen Phase frühneuzeitlicher Figurationen als metaphysisches Ordnungsprinzip einer konfessionell gespaltenen Nation ein hoher Stellenwert zukam.

BARBARA NESTOLA (Tours) beschäftigte sich mit Opernprologen während der Regentschaft Ludwigs XIV. Eine der emblematischsten Manifestationen seiner Herrschaft war die Entstehung einer nationalen Kunstform, die als Geburtsstunde des französischen Musikstils, der Tragödie in der Musik, gilt. Die Musik diente somit als politisches Instrument, das die Erneuerung des Königsbildes prägte. Die Referentin zeigte, dass der Verweis auf das Bild des Herkules seinen Vorläufer in den ersten italienischen Opern fand, die am französischen Hof im 17. Jahrhundert aufgeführt wurden, und verschwisterte dies mit den Prologen der französischen Opern der späten Herrschaft Ludwigs.

NICOLE HAITZINGER (Salzburg) und MASSIMO DE GIUSTI (Paris) widmeten sich paradigmatischen Bühnenpersonifikationen von Proto-Nationen im europäischen Theater des 17. Jahrhunderts, die sie am Beispiel der Comédie héroïque illustrierten, einem allegorischen Theaterstück, das von Kardinal Richelieu in Auftrag gegeben und im November 1642 im Kardinalspalast aufgeführt wurde. Ein Vergleich zwischen den beiden Hauptgegnern – Iberern und Franken – sowie ein analoger Vergleich zwischen Europa und Ausonia (Italien) diente dazu, symbolische und künstlerische Prozesse zu beleuchten, die der Charakterisierung der Figuren/Nationen und der vermittelten politischen Botschaft zugrunde liegen. Ihren Ausklang fand die interdisziplinäre Onlinetagung mit einer Abschlussdiskussion über die Plattform wonder.me.

Konferenzübersicht:

Thomas Maissen (Paris): Politische Personifikationen. Eine Einleitung

Panel I: Nationalallegorien // National Allegories

Cornelia Logemann (München): How France's Coat Dries Genoa's Tears. About the Visual Dimension of Allegory Around 1500

Matthias Schnettger (Mainz): Der Hahn und der Adler. Tierische Nationalallegorien in der Flugpublizistik der Frühen Neuzeit

Stefanie Acquavella-Rauch (Mainz): „Ye Caledonian Beauties“. Personifikationen des Nationalen im schottischen Arkadien

Polina A. Chebakova (St. Petersburg): Allegory of Russia in the 18th Century Art

Dietrich Scholler (Mainz): Italienallegorien in Agrippa d’Aubignés „Les Tragiques“

Teresa Baier (Frankfurt am Main): Germania-Allegorien in der Heroidendichtung der Frühen Neuzeit

Panel II: Nationale Leitbilder und Konzepte // National Models and Concepts

Matthias Müller (Mainz): Kunst für eine „teutsche Nation“? Reflexionen patriotischer und nationaler Leitbilder in der deutschen Kunst und Architektur um 1500

Andrej W. Doronin (Moskau): Die Gründungsfiguren der Deutschen in den Narrativen der transalpinen Renaissance-Humanisten

Meinrad von Engelberg (Darmstadt): „Deutsche Baukunst“ vor 1770?

Sergey Fyodorov / Feliks Levin (St. Petersburg): Cultural Practices and Local Identities in Early Modern Britain

Andreas Gipper (Mainz/Germersheim): Figurationen des Nationalen in der französischen Querelle des Anciens et des Modernes

Isaure Boitel (Amiens): „La plaisante allure des ennemis“. Les représentations nationales dans les almanachs royaux du règne de Louis XIV

Jana Graul (Rom): Neidische Italiener. Das Neid-Argument in „nationalen“ Künstlervergleichen des 16. und 17. Jahrhunderts

Abendvortrag in der Veranstaltungsreihe „Les jeudis de l'Institut historique allemand“

Maria Serena Sapegno (Rom): L’Italia di Petrarca tra Poesia e Politica

Kommentar: Arthur Weststeijn (Padua)

Panel III: Die Nation in der Musik und auf der Bühne // Nation Performed: Nation on Stage and in Music

Klaus Pietschmann (Mainz): Musikalische Repräsentationen der Natio Helvetica im 16. Jahrhundert

Barbara Nestola (Tours): La France en Scène. Les Prologues d’Opéra pendant le Règne de Louis XIV

Nicole Haitzinger (Salzburg) / Massimo De Giusti (Paris): Europe. Comédie Héroïque (1642). France, Espagne, Italie et Europe comme figures scéniques. Une constellation esthéticopolitique dans le Théâtre du XVIIe siècle

Abschlussdiskussion