318. Hessisch / Mittelrheinisches Kolloquium des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte

318. Hessisch / Mittelrheinisches Kolloquium des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Universität Kassel; Verena Epp / Georg Strack, Philipps-Universität, Marburg; Ludger Körntgen / Nina Gallion / Steffen Krieb, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz; Christine Reinle / Stefan Tebruck, Justus-Liebig-Universität, Gießen; Gerrit Jasper Schenk, Technische Universität, Darmstadt
Ort
digital (Kassel)
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.07.2021 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Phillip Landgrebe, Fachbereich 05 - Geschichte, Universität Kassel

Die Kasseler Sitzung der Hessisch-Mittelrheinischen Sektion des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte präsentierte eine Vielfalt aktueller Beiträge, die sich unter anderem in der Sozial-, Politik-, Kultur- und Geschlechtergeschichte verorten lassen. Dabei vermochte die ausnahmsweise über Zoom ausgerichtete Sitzung eine Bandbreite mediävistischer Forschungsthemen abzudecken und neue Perspektiven auf etablierte Forschungsmeinungen zu schaffen. Sie steht damit in der Tradition des seit 1964 periodisch stattfindendem Kolloquiums, welches in seiner Ausrichtung zwischen Gießen, Darmstadt, Marburg, Mainz und Kassel alterniert und Wissenschaftler:innen die Möglichkeit bietet, Ergebnisse ihrer Forschung vorzustellen sowie im Expert:innenkreis zu diskutieren.

Das Kolloquium wurde mit einer Begrüßung und einführenden Worten der Sitzungsleiterin INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel) eröffnet, die auch die weitere Moderation übernahm. Im ersten Vortrag nutzte EVA CERSOVSKY (Köln) Geschlecht als mehrfach relationale sowie situativ variable Ordnungskategorie, um die Partizipationsmöglichkeiten in der städtischen Armen- und Krankenfürsorge Straßburgs im ausgehenden Spätmittelalter zu analysieren. Gerade die deutschsprachige Forschung habe den geschlechtlich codierten Dimensionen städtischer Fürsorge bislang nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Ziel ihres Beitrags war es, aus Perspektive der Geschlechtergeschichte unterschiedliche Formen von Hilfe zu untersuchen. So leisteten Hunderte von Frauen und Männern unterschiedlicher sozialer Schichten, religiöser Gruppen, Altersklassen oder Familienstandes Hilfe für Menschen, die aufgrund von Krankheit, Gebrechlichkeit oder Beeinträchtigungen darauf angewiesen waren. Cersovsky unterteilte den Vortrag in die drei idealtypischen Handlungsbereiche „Beaufsichtigen und Kontrollieren“, „Leiten und Verwalten“ und „Pflegen und Heilen“. So schilderte sie zunächst die Tätigkeiten männlicher Pfleger, die sich als Aufseher städtischer Fürsorgeeinrichtungen vor allem seit der Jahrhundertwende häufig mit Erwartungen rund um Vaterrollen konfrontiert sahen und diese Vorstellungen gerade in der Interaktion mit Bittstellenden maßgeblich mitprägten. Anhand von zwei Fallstudien zeigte sie außerdem, dass auch Straßburgerinnen Aufsichtsfunktionen in Hospitälern wahrnahmen, bei denen es sich zum Teil um Ehefrauen oder Witwen von Pflegern handelte. Cersovsky veranschaulichte anschließend, dass die verbreitete These vom Ehe- und Arbeitspaar, das an der Spitze einer karitativen Einrichtung in klarer geschlechterspezifischer Aufgabenteilung für deren Leitung verantwortlich war, differenzierter betrachtet werden muss. Bei genauerem Hinsehen begegnen nicht nur vielfältige und dynamische Leitungs- und Paarkonstellationen, sondern auch flexible, sich wandelnde Mechanismen der Aufgabenteilung. Zuletzt verdeutlichte sie unter anderem die Relevanz des Familienstands bei der Einstellung neuer Pflegekräfte und Heilkundiger für die Einrichtungen. So wurden etwa Siechenwärter in der Regel nur dann angestellt, wenn sie verheiratet waren, um eine gewisse soziale Kontrolle der Männer bei Ausübung ihrer Pflichten zu gewährleisten. Männliches Fehlverhalten gegenüber weiblichen Fürsorgesuchenden oder Beschäftigten der Einrichtungen konnte dagegen zum Karriereende führen. Cersovsky gelang es aufzuzeigen, dass einfache Narrative, etwa über ,typische Frauenarbeit‘, im Spiegel der Quellen zur Armen- und Krankenfürsorge in Straßburg im 15. und 16. Jahrhundert nicht zu halten sind. Ganz im Gegenteil ergibt die Auswertung ein dynamisches und facettenreiches Bild, auf dessen Basis die vielfältigen Aushandlungsprozesse und Wandlungserscheinungen im Untersuchungszeitraum sichtbar zu machen sind. Gerade der systematische Einbezug von Männern erweist sich als eine große Stärke des Promotionsprojekts, da auch deren Handlungsmöglichkeiten, anders als von der bisherigen Forschung angenommen, massiv durch Haushalts- und Familienpflichten sowie ihrem Ehestand beeinflusst wurden.

MELANIE PANSE-BUCHWALTER (Kassel) beschäftigte sich im zweiten Vortrag mit Wechselwirkungen zwischen Herrschaft und Kreuzzug im Spannungsfeld von Präsenz und Absenz sowie mit dem Umgang mit kreuzzugsbedingter Kontingenz. Dabei konzentrierte sie sich auf das Beispiel Theobalds III. von Champagne, das aufgrund der ungewöhnlichen Umstände des geplanten Kreuzzuges für die Fragestellung besonders ergiebig erscheint. Theobald, der seine Reise eineinhalb Jahre lang vorbereitete, verstarb 1201 noch vor dem Aufbruch und hinterließ Anweisungen, wie nach seinem Tod zu verfahren sei. In dem zweigeteilten Vortrag galt es zunächst, die Kreuznahme als getroffene Entscheidung zu begreifen und zu kontextualisieren, um die symbolisch-expressive und performative Bedeutungsebene des geplanten Kreuzzugs zu hinterfragen. Dafür wurde nach den Vorbedingungen sowie Verstärkern, Stimuli und Ressourcen gefragt, die der Entscheidung zugrunde lagen. Ausgangspunkt der Analyse war die Histoire de la conquête de Constantinople Gottfrieds von Villehardouin, der nicht nur als einer der wichtigsten Chronisten des Vierten Kreuzzugs, sondern auch als Marschall der Grafen von Champagne wirkte. Panse-Buchwalter zeichnete mit Verweisen auf weitere schriftliche wie materielle Quellen einige der Faktoren nach, die Theobald dazu bewogen haben dürften, das Kreuz zu nehmen, obgleich der junge Graf eigentlich erst in der Konsolidierungsphase seiner Herrschaft stand. Motivationsressourcen wie die innerfamiliäre Weitergabe von Kreuzzugsnarrativen oder das soziokulturelle Prestige der miles christi sind dabei hervorzuheben, wobei Theobalds Kompensationspraktiken aufgrund seines durch Krankheit absehbaren Todes vor Kreuzzugsbeginn zudem Rückschlüsse auf Vorstellungen von Buße und Frömmigkeit erlauben. Denn der Graf ließ zum einen die für das Unternehmen gedachten Gelder unter seinen Gefährten verteilen, wenn diese schworen, sich dem Kreuzfahrerheer in Venedig anzuschießen. Dadurch versuchte er nicht nur den Erfolg des Kreuzzugs zu sichern, sondern auch sein Seelenheil nach dem Tod zu beeinflussen. Zum anderen zeigte die Gestaltung von Theobalds Grabmal sowie die Nähe zum Grab seines Vaters, der zu Lebzeiten sogar zu zwei Kreuzzügen aufgebrochen war, eine Verbundenheit mit dem Kreuzfahrergedanken und eine symbolische Teilhabe trotz physischer Absenz vom Kreuzzug. Im zweiten Schritt behandelte Panse-Buchwalter präventive Sicherheitspraktiken, mit denen Theobald seine Herrschaft in der antizipierten Abwesenheit festigen wollte. Die Analyse und Kontextualisierung ausgewählter Urkunden und Briefen ließ erkennen, dass sich Theobald aktiv darum bemühte, nicht nur seine eigene Person, Ländereien und Güter abzusichern, sondern diesen Schutz auch auf seine Erben auszudehnen. Dabei konnte Panse-Buchwalter zeigen, wie sich Kreuzzugsaktivitäten der Familie in Vergangenheit und Gegenwart überlappten. Gleichzeitig verdichteten sich Kontingenzerfahrungen derart, dass dem Grafen wohl nur eine Kombination von ineinandergreifenden Schutzmaßnahmen mit verschiedenen Sicherheitsgaranten auf unterschiedlichen sozialen Ebenen als wirksamer Mechanismus zum Machterhalt als geeignet erschien. Einzelne seiner Sicherheitspraktiken, die darauf abzielten, potenzielle Gefahren zu minimieren, entfalteten allerdings durchaus auch unerwünschte und gegenläufige Wirkungsweisen. Panse-Buchwalter resümierte, dass die Kreuzzüge in der Champagne als hochgradige Kontingenzarrangements Kaskadeneffekte produzierten, die nicht nur die Handlungsspielräume der Kreuzfahrer, sondern auch vieler weiterer Akteur:innen der Zeit massiv beeinflussten und das Potential besaßen, lokale Macht- und Herrschaftsstrukturen zu erschüttern und zu veränderten.

Abschließend thematisierte VERENA KREBS (Bochum) die diplomatischen Beziehungen, die das salomonische Äthiopien mit den Herrschern des lateinischen Europas im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert unterhielt. Dabei stellte sie Ergebnisse aus ihrer erst kürzlich veröffentlichten Monografie „Medieval Ethiopian Kingship, Craft, and Diplomacy with Latin Europe” vor. Die salomonische Dynastie betrieb von 1270 an im östlichen Afrika, ausgehend vom äthiopischen Hochland, eine kontinuierliche Expansion. Um 1400 umfasste der Machtbereich der nägäśt (also der salomonischen Könige) ein Gebiet von etwa 700 Meilen in der Länge und mehreren hundert Meilen in der Breite, wodurch das Großkönigtum zu einem der bedeutendsten Mächte in der Region avancierte. Nichtsdestotrotz herrschte bis in die jüngste Zeit in der Forschung das Narrativ vor, dass die Salomonen Gesandtschaften nach Europa schickten, um für ihr Reich unbekannte Technologien und vor allem militärische Unterstützung zu erlangen. Krebs umfassende Analyse äthiopischer, europäischer und arabischer Quellen brach diese überholte Interpretation auf und entwarf stattdessen ein vielschichtiges Bild des reziproken Austausches zwischen christlichen Großreichen. So spielten Bitten der Äthiopier um militärisches Wissen oder praktische Unterstützung gegen die umliegenden muslimischen Reiche über den Verlauf des ersten Jahrhunderts diplomatischer Missionen überhaupt keine Rolle. Es waren vielmehr europäische Herrscher wie Alfons V. von Aragon, die in den Salomonen einen mächtigen Verbündeten für einen neuen Kreuzzug sahen. Die Salomonen selbst hingegen waren in erster Linie an künstlerisch-liturgischen Gütern sowie praktischen (kunst-)handwerklichen Fertigkeiten interessiert. Daneben motivierte der Wunsch nach Reliquien die nägäśt, immer neue Gesandtschaften auf den langen und beschwerlichen Weg nach Europa zu senden. Um den Fokus der Salomonen zu verstehen, ist es wichtig, deren diplomatische Unterfangen im Kontext weitläufiger religiöser Bauprojekte im ostafrikanischen Hochland zu sehen. Vor allem der Bau von Kirchen mit in Europa angeworbenen Handwerkern und deren Ausstattung mit kostbaren und edlen Gegenständen sollte der Machtdarstellung der nägäśt im eigenen Reich sowie gegenüber unterworfenen muslimischen Herrschern dienen. Europäische Angebote über militärische Bündnisse blieben zunächst unbeantwortet; auf sie wurde erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Angesicht einer grundlegend veränderten politischen Situation im Großkönigreich und im erweiterten Rotmeerbereich eingegangen. Den Europäer:innen jedoch blieb die äthiopische Lokalpolitik zumeist unklar, sahen sie doch das salomonische Äthiopien auch immer in Verbindung zum sagenumwobenen Reich des Priesterkönigs Johannes. Zudem verstanden sie die äthiopischen Pilger, die vereinzelt dokumentiert sind, fälschlicherweise als Gesandte der nägäśt anstatt als eigenständig Reisende.

Die Kasseler Sitzung vermochte durch das gelungene Format als digitale Veranstaltung mit einiger Strahlkraft das traditionsreiche Kolloquium erfolgreich fortzuführen. Die innovativen Vorträge mit ihren individuellen Schwerpunkten auf Gender- und Sozialgeschichte sowie Kulturaustausch führten zu regen Diskussionen, welche die Relevanz der Themen für die aktuelle mediävistische Forschung nochmals verdeutlichten. Wiederholt konnten etablierte Positionen in der Forschung überdacht und Mehrwert aus neuen Ansätzen gewonnen werden. Damit zeigt sich anschaulich, wie gewinnbringend die interdisziplinäre Ausrichtung der Serie der Kolloquien ist, die im Januar 2022 in Mainz fortgeführt wird.

Konferenzübersicht:

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Einführung und Moderation

Eva Cersovsky (Köln): Geschlechterverhältnisse in der Krankenfürsorge. Straßburg im 15. und 16. Jahrhundert

Melanie Panse-Buchwalter (Kassel): Antizipierte Abwesenheit. Der Kreuzfahrer Theobald III. von Champagne

Verena Krebs (Bochum): Europa, fern und wunderlich: Diplomatie und königliche Herrschaft im christlichen Äthiopien im 15. Jahrhundert