Digital Humanities und baltische Geschichtsforschung

Digital Humanities und baltische Geschichtsforschung

Organisatoren
Madlena Mahling, sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, Dresden; Katja Wezel, Georg-August-Universität, Göttingen
Ort
digital (Berlin)
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.05.2021 - 29.05.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Madlena Mahling, sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, Dresden; Katja Wezel, Georg-August-Universität, Göttingen

Das diesjährige 73. Jahrestreffen der Baltischen Historischen Kommission (BHK) fand am 28. und 29. Mai 2021 online statt. Die Tagung beschäftigte sich mit dem Thema „Digital Humanities und baltische Geschichtsforschung“. Organisiert wurde die Tagung von den beiden Mitgliedern der BHK MADLENA MAHLING (Dresden) und KATJA WEZEL (Göttingen).

In seinem Eröffnungsvortag fragte GEORG VOGELER (Graz) grundsätzlich nach den Möglichkeiten der digitalen Geschichtsforschung. Diese seien einerseits geprägt durch die menschliche Modellierung historischer Realitäten, das heißt die Erstellung und Anwendung schematischer, reduzierter Datensätze als Interpretationen der Quellen durch Menschen in „Factoiden“ (Bradley / McCarthy), andererseits durch die ständige Verbesserung der Technologien der automatischen Erzeugung von Daten. Automatisches Einlesen von historischen Quellen, die automatische Extraktion von Information aus den Texten und Verknüpfung dieser Daten lassen die Vision einer maschinengestützten umfassender Rekonstruktionen der Vergangenheit realisierbar erscheinen („Time Machine“, Di Leonardo / Kaplan). Für die Konzeptualisierung der digitalen Geschichtsforschung erläuterte Vogeler, dass die Bandbreite digitaler Methoden und Werkzeuge die Rolle von „digitalen Intermediären“ einnehmen, die zwischen den Quellen und den Forscherinnen und Forschern stehen: Datenmodelle, Annotationen, Algorithmen, Visualisierungen etc. ermöglichen den Zugang, die Analyse und die Interpretation großer Datenmengen bis hin zur Schaffung immersiver, multimedialer Darstellungen der Vergangenheit. Fraglich bleibt aber, ob sie „Zeitreisen“, also die komplette Erfassung und Abbildung historischer Realitäten ermöglichen, oder aufgrund der Selektivität und Unterkomplexität der genutzten Daten und ihrer Verarbeitung nur den Anschein dieser Möglichkeit erwecken und deshalb eine menschliche Interpretation brauchen.

Im ersten Panel lag der Schwerpunkt auf der Vorstellung von Datenbanken und Bibliotheken, also jenen Institutionen, die der Öffentlichkeit Digitalisate zur Verfügung stellen. ANDA BAKLĀNE (Riga) stellte in ihrem Vortrag verschiedene lettische Portale vor, die die Universitätsbibliothek Lettlands der Öffentlichkeit in den letzten Jahren nach umfangreichen Digitalisierungen von Primärquellen, Zeitungen, Zeitschriften und Fotografien zur Verfügung gestellt hat. Für die deutschsprachige Forschung ist hierbei vor allem das Portal „Periodika“ von großer Bedeutung, mit dem auch der gesamte, umfangreiche deutschsprachige Bestand an Zeitungen und Zeitschriften aus dem ehemaligen Livland und Kurland kostenfrei zugänglich ist. Baklāne stellte unter anderem auch das für Historiker:innen besonders relevante Portal „Raduraksti“ vor, in dem alte Kirchenbücher, Absolventenlisten des Rigaer Polytechnikums sowie der Universität Lettlands und auch Deportationslisten digitalisiert wurden.

RIMVYDAS LAUŽIKAS (Vilnius) gab einen Überblick zur Entwicklung der Digital Humanties in Litauen und zur Nutzung digitaler Forschungsmethoden durch litauische Wissenschaftler:innen seit 1991. Einen besonderen Schwerpunkt legte er auf Computer-basierte Forschungsmethoden litauischer Archäolog:innen. Er stellte die Datenbank „VORUTA“ vor, die Objekte des kulturellen Erbes Litauens seit 1997 digital sammelt und seit 1999 für die Öffentlichkeit online zugänglich ist. Als Beispiel für die Arbeit von digitalen Humanist:innen in Litauen stellte Laužikas ein Projekt der Fakultät für Kommunikation an der Universität Vilnius vor. Dort wird zurzeit eine Software entwickelt, deren Ziel es ist, verschiedene architektonische und städtebauliche Elemente durch die Sammlung und Gegenüberstellung von 2D- und 3D-Daten von Objekten und Orten des kulturellen Erbes aus verschiedenen Epochen zu erkennen und zu vergleichen.

ELKE BAUER (Marburg) thematisierte die Frage des Umgangs mit digitalen Forschungsdaten, der derzeit am Herder-Institut in Marburg durch den NFDI-Prozess, das heißt den Aufbau einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur im Rahmen von fachspezifischen Konsortien, begegnet wird. Das Herder-Institut ist an zwei Konsortien (NFDI4Culture und NFDI4Memory) beteiligt, die sich der Bereitstellung von digitalen Infrastrukturen für die Forschung widmen. Bauer warf dabei die Frage auf, wie die unterschiedlichsten Daten bereitgestellt werden und sich dabei dem wandelnden Rechercheverhalten der Nutzenden anpassen können. Darüber hinaus mahnte sie die gewünschte Vernetzung von Daten (Interoperabilität), die erforderliche Nachhaltigkeit der Angebote (Datenqualität hinsichtlich Langzeitarchivierung und -verfügbarkeit) sowie die Notwendigkeit von quellenkritischen Überprüfungen an.

FELIX KÖTHER (Marburg) stellte das neue Onlineportal des Herder-Instituts „Copernico. Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen Europa“ vor, ein Themen-, Transfer-, Recherche- und Verbundportal, das im Herbst 2021 starten soll und als Onlinemagazin und Recherchedatenbank konzipiert ist. Das Portal verknüpft, was zumeist voneinander getrennt wird: Externe Wissenschaftskommunikation und den Wissenstransfer in die breitere Öffentlichkeit, fachinterne Information sowie einen an das Portal gekoppelten, auf Nachhaltigkeit und Interoperabilität ausgerichteten Infrastrukturaufbau, der sich an aktuellen technischen Standards und im Kulturbereich etablierten Datenmodellen und -formaten orientiert. Ziel ist es, die Präsenz wissenschaftlicher Forschung, von Infrastrukturleistungen, Kulturerbesicherung und -vermittlung in der öffentlichen Wahrnehmung zu erhöhen und neben dem bestehenden Publikum des Herder-Instituts auch neue Zielgruppen anzusprechen.
Im zweiten und dritten Panel kamen Wissenschaftler:innen aus dem Baltikum zu Wort, die für ihre Forschungsprojekte digitale Programme und Anwendungen nutzen. MAREK TAMM (Tallinn) stellte das neue, in diesem Jahr an der Universität Tallinn gestartete Projekt „Digital Livonia“ vor. Es verfolgt das Ziel, aufbauend auf bereits existierenden digitalen Datenstukturen und digitalisierten Primärquellen, digitale Editionen vorzubereiten, eine digitale Plattform zu erstellen sowie die Daten wissenschaftlich auszuwerten. Das Projekt richtet sich einerseits an Historiker:innen, andererseits aber auch an eine breite Öffentlichkeit. Die Datenbank soll nach unterschiedlichen Aspekten (z.B. Bücher im mittelalterlichen Livland, Namenslisten von Angehörigen des Klerus, Preise und Gewichte etc.) aufgegliedert werden, um die Nutzung zu erleichtern. Geplant ist außerdem auch die Einbeziehung digitalisierter Bildquellen sowie die Erstellung digitaler historischer Karten.

MINDAUGAS ŠINKŪNAS (Vilnius) wertete in seinem Vortrag ein digitalisiertes Korpus altlitauischer Texte aus, die mit Hilfe optischer Zeichenerkennung (optical character recognition) von litauischen Linguisten untersucht werden. Er wies auf die Schwierigkeiten bei der Texterkennung von handgeschriebenen Texten hin und zeigte Lösungsansätze auf, wie diese behoben werden können. Im Besonderen wies er auf die Möglichkeiten hin, die Software durch ihre Anwendung bei verschiedenen Texten aus unterschiedlichen Zeitepochen und im direkten Vergleich zu korrigieren und stetig zu verbessern. Als Beispiele stellte Šinkūnas verschiedene Schreibweisen zentraler Worte in unterschiedlichen Bibelübersetzungen und Evangelien vor. Sein Vortrag wies darauf hin, dass optische Zeichenerkennung allein bei historischen Texten meist nicht ausreicht, sondern das geübte Auge von Digitalhumanist:innen und Linguist:innen hier weiterhin gefragt ist.

HEIKO BRENDEL (Passau) stellte in seinem Vortrag ein Konzept vor, mit Methoden der historischen Geoinformation (GIS) und der quantitativen Geschichtswissenschaft verschiedene Seemächte und deren Stärke im Ostseeraum von der der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart zu vergleichen und zu visualisieren. Er verwendete dazu ein Seemachtskonzept, das einerseits die Stärke der Kriegsflotten quantifiziert, andererseits die Kontrolle über ausgewählte Hafenstädte berücksichtigt. Die Bedeutung der Städte wird dabei anhand zugewiesener Attribute gewichtet. Im Mittelpunkt von Brendels Betrachtung standen Dänemark, Schweden, Russland bzw. die Sowjetunion sowie Deutschland.

KATJA WEZEL (Göttingen) nutzt für ihr Forschungsprojekt zu Riga als globalen Hafen und internationale Handelsmetropole (1861-1939) ebenfalls die historische GIS-Forschung. Mit Hilfe von digitalisierten historischen Karten, die sie mit den Programmen QGIS bzw. ArcGIS erstellt bzw. bearbeitet hat, stellte sie in ihrem Vortrag Rigas globales Handelsnetzwerk dar und untersuchte seine Reichweite. Durch den diachronen Vergleich und die Gegenüberstellung verschiedener Zeitabschnitte konnte sie weitreichende Veränderungen hinsichtlich der Ausweitung des Handelsnetzwerkes und der Veränderung von Warenströmen (insbesondere neue Absatzprodukte und Absatzmärkte) innerhalb ihres Untersuchungszeitraums aufzeigen. Sie betonte darüber hinaus die umfangreichen Möglichkeiten bei der Anwendung von Computerprogrammen in der digitalen Kartographie und ihrer Nutzung durch Historiker:innen, beispielsweise durch Sammeln, Gegenüberstellung und digitale Auswertung unterschiedlicher Attribute, die für eine historische Bewertung relevant sind.

Die Tagung zeigte die vielfältigen Möglichkeiten Digital Humanities in und zu den baltischen Staaten auf. Für die Mitglieder der Baltischen Historischen Kommission bot sie verschiedene Ansatzpunkte: Erstens, wo und wie sie digitalisierte Daten für die eigene Forschung besser nutzen können und zweitens, welche breiten Möglichkeiten es gibt, die historische Forschung zum Baltikum durch digitale Methoden zu bereichern. Darüber hinaus setzten sich mehrere Beiträge, insbesondere der Eröffnungsvortrag von Georg Vogeler, auch wissenschaftstheoretisch mit dem Phänomen der digitalen Geschichtsforschung auseinander und stellten die Frage nach den gesellschaftlichen Folgen der vermehrten Digitalisierung, womit eine anschließende online-Diskussion in Kleingruppen angestoßen wurde.

Konferenzübersicht

Panel I: Einführung in die digitale Geschichtsforschung

Madlena Mahling (Dresden) / Katja Wezel (Göttingen): Einführung

Georg Vogeler (Graz): Digitale Geschichtsforschung zwischen „Factoiden“ und „Time Machine“

Panel II: Digitale historische Forschung und Datenmanagement / Digital Historical Research and Data Management

Anda Baklāne (Riga): Digital History in Estonia and Latvia: Resources, Community Involvement, Scholarship

Rimvydas Laužikas (Vilnius): Digital Humanities and Historical Research in Lithuania

Elka Bauer (Marburg) / Felix Köther (Marburg): Datenmodelle als Grundlage für einen nachhaltigen Wissenstransfer: Forschungsdaten – Infrastruktren – Vernetzung

Panel III: Digitale Methoden zur Erforschung baltischer Quellen

Marek Tamm(Tallinn): Digital Livonia: For a Digitally Enabled Study of Medieval Livonia

Mindaugas Šinkūnas (Vilnius): Detection of Text Similarity for Old Lithuanian

Panel IV: Erforschung des Ostseeraums mit historischer GIS-Forschung

Heiko Brendel (Passau): Seemacht im Ostseeraum von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart – Überlegungen aus dem Bereich der historischen Geoinformation und quantitativen Geschichtswissenschaft

Katja Wezel (Göttingen): Riga als Wirtschafts- und Handelsmetropole um 1900 – eine Untersuchung unter Anwednung von Methoden der historischen GIS-Forschung


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