Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision

Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision

Organisatoren
Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT), Dresden
Ort
digital (Dresden)
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.08.2021 - 27.08.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Martin Behrisch, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Rund 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden sich zu einer Online-Tagung zusammen, die sich mit den unterschiedlichen geschichts- und politikwissenschaftlichen Facetten der „Diktatur des Proletariats“ auseinandersetzte. Nach einer Begrüßung durch den Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, Thomas Lindenberger, führte Mike Schmeitzner in das Thema ein. Seinen Worten zufolge handelt es sich bei „Diktatur des Proletariats“ um einen ebenso umstrittenen wie schillernden Begriff, der selbstverständlich nicht statisch und ein für alle Mal festgelegt sei. Die Tagung – so Schmeitzner – solle in erster Linie den Deutungen und Wirkmächtigkeiten des Begriffs im 20. Jahrhundert nachspüren. Die Veranstaltung verfolgte dieses Anliegen in vier Panels, wobei zuerst die Denker und Vordenker, sodann die frühe Staatlichkeit, darauf Ideologie und Herrschaft und in einem letzten Panel auch Revision und Wandel im Fokus standen.

Im ersten Panel referierte zunächst WILFRIED NIPPEL (Berlin) zu den Urhebern des Begriffs. Entgegen der allgemeinen Annahme, dass es sich um eine reine Schöpfung des Marxismus handele, relativierte Nippel diesen Umstand und zeigte, dass dessen Ursprünge weitaus eher zu suchen sind. Er verwies auf den geistigen Einfluss des Gedankens der Römischen Diktatur, vor allem aber auf die jakobinische und generell die französische Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings habe der Diktatur-Begriff durch das von Marx und Engels geprägte Verständnis von Klassenkämpfen eine neue Note erhalten. Nachfolgende Theoretiker nutzten die keinesfalls kontingenten Aussagen von Marx und Engels, um den Begriff in ihrem Sinne zu interpretieren.

An dieser Stelle knüpfte der Vortrag von MIKE SCHMEITZNER (Dresden) an, der sich mit dem ersten großen Deutungskampf und den dabei entscheidenden Persönlichkeiten Kautsky, Lenin und Trotzki befasste. Trotz unterschiedlicher innerparteilicher Herkunft nutzten Lenin und Trotzki den Begriff „Diktatur des Proletariats“ nach der Oktoberrevolution, um die Herrschaft der Bolschewiki in Russland zu legitimieren. In Kautsky, dem Cheftheoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie, erwuchs ihnen der schärfste sozialistische Kritiker. Kautsky wandte sich gegen die Diktatur als Regierungsform und schrieb dem Begriff eher eine gesellschaftliche Bedeutung zu, womit er sich wenigstens teilweise auf die Klassiker beziehen konnte. Neben dem unterschiedlichen Verständnis von Diktatur stand in diesem Deutungskampf die Gewaltfrage im Mittelpunkt. Während Lenin und Trotzki Gewalt als legitimes Mittel des Klassenkampfes betrachteten, lehnte Kautsky sie ab. Er liberalisierte und demokratisierte (auch später) den Begriff und hielt bis in die 1930er-Jahre noch an ihm fest, was dazu führte, dass die Bolschewiki den Deutungskampf nicht so eindeutig gewannen, wie es möglicherweise anzunehmen wäre.

In der Diskussion verwies Mario Keßler auf spätere Wandlungen Trotzkis. Zudem wurde erörtert, weshalb Kautsky so entschieden und lange an diesem Begriff festgehalten habe. Schmeitzner zufolge habe sich Kautsky als „geistiger Nachlassverwalter“ von Marx und Engels begriffen und den von ihnen geprägten Begriff nicht so einfach aufgeben wollen. Martin Schulze Wessels wiederum hinterfragte die Raum-Zeit-Problematik bei Marx/Engels, vor allem die – in der Tat – recht unterschiedlichen Aussagen der Klassiker in Bezug auf das eher friedliche „Hinüberwachsen“ in den avancierten demokratischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas.

Im zweiten Panel stand der frühe Staat der „Diktatur des Proletariats“ im Mittelpunkt, konkret in Sowjetrussland, in Räte-Ungarn und Räte-Bayern, die an diesen Begriff anknüpften. Im ersten Referat befasste sich HELMUT ALTRICHTER (Erlangen-Nürnberg) mit Sowjetrussland zwischen 1917 und 1921. Er arbeitete die konkreten Schritte der Bolschewiki heraus, die die „Diktatur des Proletariats“ proklamierten. Altrichter veranschaulichte den Weg zu einer Diktatur neuen Typs, in der unter anderem die Kontrolle der Medien und Verlage, die Kontrolle der Wirtschaft und die Machtbeschränkung der Räte durch die Bolschewiki wesentlich waren. Die entscheidende Macht fiel dabei der neuen Revolutionsregierung (dem Rat der Volkskommissare) und nicht der Partei der Bolschewiki zu, die als Organisationsfaktor noch viel zu schwach war. Als zentrale Entscheider fungierten viel eher die Volkskommissare, die wie Lenin oder Trotzki fast sämtlich zu den führenden Bolschewiki zählten.

Am Beispiel Räte-Ungarns machte BÉLA BODÓ (Bonn) den sowjetischen Einfluss sichtbar, der hier wie dort auf Enteignungen und Verstaatlichungen und auch auf Gewalt setzte. Bodó ging umfassend auf die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Räterepublik und die Gegenbewegungen ein, besonders mit Blick auf die antisemitische Propaganda der Konservativen, die sich auf führende Protagonisten der Kommunisten (vor allem Béla Kun) fokussierte. Noch heute existieren Spuren des Antisemitismus aus dieser Zeit.

Dass das sowjetrussische Modell nicht automatisch als Vorbild taugte, zeigte BERNWARD ANTON (München) hinsichtlich der Münchener Räterepublik vom Frühjahr 1919. Ausgehend von der Situation vor dem Kriegsbeginn analysierte er zuerst die innere Lage der lokalen Sozialdemokratie, in der verschiedene Vorstellungen von „Diktatur des Proletariats“ verfochten wurden. Während der Begriff in der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD) durch Adolf Braun eher mit der Festigung der revolutionären Umgestaltung in der deutschen Revolution in Zusammenhang gebracht wurde, interpretierten die Kommunistische Partei (KPD) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), insbesondere deren linker Flügel, ihn anders: „Diktatur des Proletariats“ wurde von ihnen sowohl als Übergangsform und Instrument für die Einheit der Arbeiterklasse wie auch als Staatsform im Sinne der Bolschewiki verstanden. An der bisherigen Deutung der beiden Räterepubliken in Bayern brachte Anton Korrekturen an: Zwar sei die erste Republik maßgeblich von der USPD initiiert und getragen, die zweite aber nicht, wie bisher häufig dargestellt, von der KPD beherrscht worden. USPD und Teile der MSPD seien nach wie vor an der Führung beteiligt und der Einfluss der Kommunisten in den Rätegremien tatsächlich begrenzt gewesen.

In der Diskussion kam neben der Rolle der Frauen auch die der Anarchisten in der Münchner Bewegung zur Sprache. Mike Schmeitzner erinnerte an Erich Mühsam, der den Gedanken einer revolutionären „Diktatur des Proletariats“ zeitweilig und mit Vehemenz propagierte.

Im Panel zu Ideologie und Herrschaft widmete sich STEFAN WEISE (Jena) zuerst dem Begriff der Arbeiterregierung als möglicher Vorstufe für die proletarische Diktatur, der zu Anfang der 1920er-Jahre im Kontext von Kommunistischer Internationale (Komintern) und deutschen Linksparteien (vor allem der KPD) eine herausragende Rolle spielte. Weise machte zunächst deutlich, dass die Begriffe „Arbeiterregierung“ und „Diktatur des Proletariats“ bei Marx und Engels keinesfalls identisch überliefert sind und auch nur an zwei Stellen in einem gemeinsamen Kontext genannt werden. In praktischer politischer Hinsicht habe der Begriff der Arbeiterregierung erst im Gefolge des gescheiterten Kapp-Putsches von 1920 an Fahrt gewonnen, hier wiederum von den Gewerkschaften und der USPD motiviert. Für KPD und Komintern sei es 1922/23 dagegen darum gegangen, über die zeitweilige Einbindung der SPD zur Revolutionierung der Gesellschaft fortzuschreiten, wobei selbst noch im Angesicht des Deutschen Oktobers die Form einer Arbeiterregierung hoch umstritten blieb.

JAN C. BEHRENDS (Potsdam) widmete sich anschließend den begrifflichen Veränderungen in der Zeit des Stalinismus. Im Zentrum seines Vortrags stand die ideologische Entwicklung und dabei die Rolle der „Diktatur des Proletariats“ in Stalins Sowjetunion. Behrends teilte diese Ära in fünf unterschiedliche Perioden und beschrieb anhand dieser Einteilung, welche Bedeutung der Begriff in den Phasen hatte und welche ideologische Entwicklung auch Stalin selbst durchmachte. Bemerkenswert war, dass der Begriff nach einer ersten Phase der starken Propagierung der „Diktatur des Proletariats“ vor allem in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren nach außen hin deutlich zurücktrat und dafür demokratische und „vaterländische“ Bezüge in den Vordergrund rückten.

In der Phase der „Re-Ideologisierung“ nach 1945 war MARIO KESSLERs (Potsdam) Vortrag über die Anatomie des Realsozialismus und seine Kritik angesiedelt. Den Fokus auf die DDR richtend, verdeutlichte Keßler anhand der sozialistischen Regimekritiker Robert Havemann und Wolfgang Harich die spezifische Regimekritik, die im Falle Harichs eine „echte Diktatur des Proletariats“ im Sinne des Marxismus und keine Parteidiktatur beinhaltete. Beide kritisierten den Realsozialismus, jedoch mit unterschiedlichen Konklusionen. Harich trat später für einen Überstaat ein, Havemann für den Solidarstaat.

In der Diskussion nahm die von Helmut Altrichter aufgeworfene Frage nach der Konsistenz des von Behrends vorgetragenen Fünf-Phasen-Modells und der Duplexität mancher Phasen (Terror und Stalinsche „Demokratie“-Rhetorik in den 1930er-Jahren) einen breiteren Raum ein. Einverständnis herrschte darüber, dass der Begriff „Diktatur des Proletariats“ auch in solchen Phasen nicht einfach verschwand, aber nach außen hin in den Hintergrund trat.

Das vierte und letzte Panel thematisierte die Revision und den langen Abschied von der „Diktatur des Proletariats“ als Begriff und Zielvorstellung. Als Fallbeispiele wurden sowohl Länder Ostmitteleuropas (Jugoslawien, Tschechoslowakei) als auch Westeuropas (Italien, Frankreich) herangezogen. MARIE JANINE CALIC (München) befasste sich mit dem jugoslawischen Sonderweg. Zuerst mit dem sowjetischen Modell übereinstimmend, vollzog Tito nach seinem Bruch mit Stalin 1948 eine Abkehr von jenem Modell. Im Zentrum des jugoslawischen Weges stand von nun ab die „Arbeiterselbstverwaltung“, die die „Diktatur des Proletariats“ zumindest nicht allein mit der führenden Staatspartei in eins setzte. Mit der Trennung von Partei- und Staatsämtern und der Begrenzung des Zentralismus durch ein multipolares System föderaler checks and balances spielte der Begriff „Diktatur des Proletariats“ eine zunehmend marginale Rolle.

Am tschechoslowakischen Beispiel des Prager Frühling 1968 veranschaulichte MARTIN SCHULZE WESSEL (München) wiederum die Möglichkeit des Selbstrückbaus der Diktatur durch (Reform-)Kommunisten. Durch wirtschaftliche, kulturelle und politische Reformdebatten vorbereitet, relativierte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) 1968 ihre führende Rolle und ließ Pluralismus in eingeschränktem Maße zu. Fast zeitgleich wie in Prag nahmen auch die größten kommunistischen Parteien Westeuropas Abschied vom leninistisch geprägten Diktatur-Begriff.

NIKOLAS DÖRR (Bremen) beschrieb in seinem Vortrag zum Eurokommunismus vor allem am Beispiel der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), dass diese Form der Diktatur für westeuropäische Kommunisten 100 Jahre nach Karl Marx eher als negativer Begriff denn als positive Perspektive taugte. Aufgrund der besonderen Prägung des PCI durch Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti erfolgte der programmatische Verzicht auf dieses leninistische Erbe in den 1970er-Jahren nachhaltiger und glaubwürdiger als in der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).

Der schleichende Weg der „Sozialdemokratisierung“, wie ihn der PCI beschritt, wurde nach der Zäsur von 1989 auch von ehemals kommunistischen Staatsparteien Ostmitteleuropas vollzogen, wie TOM THIEME (Rothenburg) vor allem an den Beispielen Ungarn und Polen analysierte. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus spiele dort keine Rolle mehr – höchstens als Reminiszenz für eine ältere Generation von Kommunisten. Eine Sonderrolle nehme die Kommunistische Partei der Tschechischen Republik (KSČ) ein, die ihre ideologische Prägung bewusst konserviert habe.

In einer abschließenden Diskussion wurden noch einmal Theorie und Wirklichkeit der jugoslawischen „Arbeiterselbstverwaltung“ und auch die Differenzen zwischen den „eurokommunistischen“ Parteien beleuchtet. Mike Schmeitzner resümierte, dass die Ergebnisse der Tagung jetzt schon zeigen, welch hoher Stellenwert dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zukommt. Sie zeigen aber auch die disparate Prägung des Begriffs und die Deutungsvielfalt im ersten Drittel jenes Jahrhunderts – trotz aller Homogenisierungsversuche durch die Parteikommunisten, die aus diesem Begriff eine „Lehre“ zu konstruieren versuchten, die wiederum ab den 1970er-Jahren deutlich an Zugkraft verlor.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Thomas Lindenberger (HAIT, Dresden)

Einführung: Mike Schmeitzner (HAIT, Dresden)

Panel 1: Denker und Vordenker der Diktatur des Proletariats

Chair: Uwe Backes (HAIT, Dresden)

Wilfried Nippel (Humboldt-Universität zu Berlin): Marx, Engels oder andere Urheber des Begriffs?

Mike Schmeitzner (HAIT, Dresden): Der erste große Deutungskampf: Kautsky-Lenin-Trotzki

Panel 2: Der frühe Staat der Diktatur des Proletariats

Chair: Steffen Kailitz (HAIT, Dresden)

Helmut Altrichter (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): Sowjetrussland: 1917-1921

Béla Bodó (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn): The Hungarian Soviet Republic of 1919: the Culmination of National History or a Weak Imitation of the Russian Model?

Bernward Anton (Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, München): Münchner (Bayerische) Räterepubliken 1919

Panel 3: Die Innenansicht der Parteidiktatur: Ideologie und Herrschaft

Chair: Mike Schmeitzner (HAIT, Dresden)

Stefan Weise (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Die „Arbeiterregierung“. Eine Vorstufe der proletarischen Diktatur?

Jan C. Behrends (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam): Begriffliche Wandlungen im Stalinismus

Mario Keßler (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam): Zur Anatomie des Realsozialismus und seiner Kritik

Panel 4: Revision und Wandel: Der lange Abschied von der Diktatur des Proletariats

Chair: Isabelle-Christine Panreck (HAIT, Dresden)

Marie Janine Calic (Ludwig-Maximilians-Universität München): Jugoslawiens „dritter Weg“: Wesen und Wandel des Systems der Arbeiterselbstverwaltung

Martin Schulze Wessel (Ludwig-Maximilians-Universität München): Selbstrückbau der Diktatur: der „Prager Frühling“ 1968 als Lehrstück

Nikolas Dörr (Universität Bremen): Koalition statt Parteidiktatur: Der „Eurokommunismus“ in Westeuropa

Tom Thieme (Hochschule der Sächsischen Polizei, Rothenburg): What´s left of the left? Kontinuität und Wandel des Marxismus-Leninismus in der extremen Linken Osteuropas


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