Das Eigene und das Fremde: Wahrnehmungen des anderen deutschen Staates in der DDR und in der Bundesrepublik

Das Eigene und das Fremde: Wahrnehmungen des anderen deutschen Staates in der DDR und in der Bundesrepublik

Organisatoren
Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2021 - 17.09.2021
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Von
Hannes Bock, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Geschichte der beiden deutschen Gesellschaften im geteilten Deutschland war eine Geschichte des aufeinander Blickens, des gegenseitigen Vergleichens und der gezielten Abgrenzung vom jeweils anderen. Im Kalten Krieg standen sich so über mehrere Jahrzehnte zwei Gesellschaften in Distanzierung und Konkurrenz gegenüber, die für sich beanspruchten, eine eigene und zukunftsfähige Lehre aus der nationalsozialistischen Herrschaft gezogen zu haben. Zugleich blieben sie durch eine gemeinsam geteilte Geschichte und Kultur verbunden, was eine vollständige Abgrenzung vom jeweiligen Gegenüber wiederum unmöglich machte. In diesem Spannungsfeld der Gemeinsamkeiten und Unterschiede manifestierten sich in den beiden deutschen Gesellschaften über die Zeit Fremd- und Selbstbilder, die ohne den gegenseitigen Bezug aufeinander zu keinem Zeitpunkt lebensfähig waren. Sie können deshalb nicht losgelöst voneinander beschrieben sowie verstanden werden.

Unter dieser verflechtungshistorischen Perspektive näherten sich die Teilnehmer:innen der von ARND BAUERKÄMPER (Berlin) organisierten Tagung den Fragen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung innerhalb der beiden deutschen Staaten sowie ihrer Wirkkraft über das Jahr 1990 hinaus. In seinen einleitenden Worten betonte Bauerkämper den multiperspektivischen Ansatz der Tagung, innerhalb der – basierend auf einer kognitiv-konstruktivistischen Deutung menschlicher Wahrnehmung bzw. Weltdeutung – Fragen zur Entwicklung der Selbst- und Fremdbeschreibungen, ihrer gegenseitigen Beeinflussung sowie den ihnen zugrunde liegenden kommunikativen Austauschprozessen behandelt und diskutiert werden sollten. Grundlage hierfür war das sozialwissenschaftliche Framing-Konzept David A. Snows und Robert D. Benfords.

JAN HOFFROGGE (Münster) befasste sich in der ersten Sektion mit der Beständigkeit von Blickhierarchien an der innerdeutschen Grenze auch über das Jahr 1990 hinaus. Ausgehend von der Arbeit der bundesdeutschen Grenzinformationsstellen, die bis zur Wiedervereinigung dezentral organisiert waren, zugleich jedoch zur Festigung des eigenen Selbstbildes beigetragen hatten, konnte Hoffrogge am Beispiel der heutigen Gedenkstättenarbeit des Deutsch-Deutschen Museums Mödlareuth sowie der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn herausarbeiten, dass trotz einer verstärkten Integration ostdeutscher Erlebnisse und Sichtweisen auch nach der Einheit zum Teil an veralteten Perspektiven festgehalten wird. Die professionalisierte Gedenkstättenarbeit, die die ehemaligen Bürger:innen der DDR als wichtige Zielgruppe ausgab, behielt trotz diversifizierter Ausstellungskonzepte in einigen Bereichen alte Rezeptionsmuster bei. Besonders offenkundig ist dies am Blick auf die Grenze nachzuweisen. Die ausgestellten Modelle der Grenzsperranlagen offerieren nach wie vor eine vorrangig westdeutsche Perspektive, die – teilweise entgegen der örtlichen Gegebenheiten – die Aufmerksamkeit auf den restriktiven Charakter des ostdeutschen Grenzregimes lenkt. Die Kontinuität und Langlebigkeit alter Fremdbilder, die maßgeblich Teil der eigenen Selbstkonstruktion waren, stechen hier heraus. Der Blick auf die deutsch-deutsche Grenze ist bis heute vor allem bundesdeutsch geprägt und fängt weniger die vielfältigen Perspektiven der Bewohner:innen der ehemaligen DDR ein, die in aller Regel erst ab Ende 1989 die Grenzorte erkunden konnten. Alte Blickhierarchien sind demzufolge auch im vereinigten Deutschland keineswegs der Vergessenheit anheimgefallen. Vielmehr stellen sie weiterhin einen konstitutiven Bestandteil des bundesrepublikanischen Selbstbildes dar.

Aus einer anderen Richtung näherte sich ULRICH PFEIL (Metz) der Frage der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Er beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Bedeutung des Walther-Ulbricht-Stadions in Ost-Berlin für das Selbstbild der noch jungen DDR. Anhand der Auswertung unterschiedlichster Zeitungsartikel – insbesondere aus der Bauphase – wies er nach, dass der Errichtung der Sportstätte ein spezifisches Sendungsbewusstsein zugrunde lag. Das zukünftige Stadion sollte nach Auffassung der SED-Führung die Schaffenskraft der staatssozialistischen Gesellschaft repräsentieren. Dabei war es als Gegenentwurf zum „bürgerlichen“ Wiederaufbau konzipiert, der vermeintlich nur Altes zu konservieren versprach, auch wenn der ans Bauhaus erinnernde Stil diesem Sendungsbewusstsein eigentlich entgegenstand. Für die „sozialistische Zukunft“, die sich unter anderem in sogenannten zivilen „Aufbausonntagen“ zu offenbaren schien, warb die SED zudem in den westlichen Stadtbezirken. Dies geschah auch mit dem Ziel, Ernst Reuters West-Berlin propagandistisch zu delegitimieren. Die fertiggestellte Sportanlage wurde dabei im „Neuen Deutschland“ als Symbol des Friedens gepriesen, das die vorgebliche Leistungsfähigkeit der „neuen“ Gesellschaft in Abgrenzung zum bürgerlich-kapitalistischen Westen dokumentieren sollte. Das offizielle staatliche Framing durch die DDR-Gazetten darf dabei nicht als völlig deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung verstanden werden. Insbesondere der in Anspielung auf Walther Ulbrichts Bart geläufige Spitzname des Stadions „Zickenwiese“ deutet darauf hin, dass innerhalb der DDR-Bevölkerung durchaus divergierende Bilder verbreitet waren. Die Annahme der Existenz parallel bestehender Framings muss vor diesem Hintergrund betont werden. Folglich schloss der anschließende Diskussionsteil mit der Forderung, gerade diesen Aspekt in der zukünftigen Forschung stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

ANDREAS MORGENSTERN (Schiltach) richtete seinen Blick auf die Wahrnehmung des Kinzigtals (Baden-Württemberg) aus ostdeutscher Perspektive. Am Beispiel der Außendarstellung dieser Schwarzwaldregion konnte Morgenstern nachweisen, dass die existierenden Selbst- und Fremdbilder keinesfalls epistemische Konstrukte waren, die sich allein aus einer dichotomen Gegenüberstellung zweier „Leitbilder“ zusammensetzten. Für die Fremdwahrnehmung des in der französischen Besatzungszone liegenden Kinzigtals waren diesbezüglich antifranzösische Stereotype ähnlich wichtig wie antibundesdeutsche sowie antiwestliche Vorurteile. In der DDR-Presse der frühen 1950er-Jahre galt die Region daher zum einen als Rückzugsort für „Altnazis“, das heißt als Gebiet, in dem unter französischem Schutz der Nationalsozialismus weiterhin lebendig war. Zugleich verbreiteten die Presseorgane das Bild einer durch die Franzosen ausgeplünderten und „kolonisierten“ Region, die darüber hinaus als mögliches Aufmarschgebiet für die französischen Truppen dargestellt wurde. Partiell waren diese Vorstellungen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen anschlussfähig. So galt in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft die französische Zone noch in den 1980er-Jahren als „kolonisiertes“ Gebiet. Dabei wurde mancherorts von den Franzosen als „Russen des Westens“ gesprochen. Zudem ging mit dieser Fremddarstellung indirekt eine Relativierung der sowjetischen Besatzungspolitik einher, die sich unter anderem in der Demontage der ostdeutschen Industrie und Infrastruktur niedergeschlagen hatte. Das sich daraus ergebende Fremdbild basierte somit auf einer Verbindung verschiedener Vorstellungen. Daraus ergab sich eine Parallelität nationaler und transnationaler Fremd- und Feindbilder, die erst in ihrem Zusammenspiel verstanden werden können. Neben altbewährten antifranzösischen Stereotypen etablierte sich die Vorstellung von der vermeintlich besetzten westdeutschen Gesellschaft und in Abgrenzung dazu diejenige der „freiheitlich-sozialistischen“ Wir-Gruppe der DDR. Es kann in diesem Sinne von einem Spannungsfeld gesprochen werden, das für die Gesamtsicht auf die westdeutsche, aber auch die ostdeutsche Gesellschaft konstitutiv war.

Moderiert von DIERK HOFFMANN (Potsdam), näherte sich CHRISTOPH LORKE (Münster) anhand der Wahrnehmung sozialer Randlagen und Außenseiterrollen dem Tagungsthema. Er wies dabei vor allem auf die Ausdifferenzierung der Selbstbilder der Gesellschaften hin, die sich in Form einer Binnendifferenzierung, das heißt der Benennung von der Gesellschaft inhärenten Fremdgruppen niederschlug. Dabei herrschte in Bezug auf die sozial Ausgegrenzten durchaus eine gewisse Gleichförmigkeit in der Darstellung vor. Dies zeigte sich besonders augenscheinlich in den Diskursen zur Kinderarmut. Hier argumentierte man in Ost und West gleichermaßen mit der individuellen Schuld der Betroffenen. Die Kinder galten hierbei jeweils als „Opfer“ ihrer Eltern. Die Verantwortung wurde somit keinesfalls im politischen System selbst gesucht. Das soziale Fremde galt vielmehr als Folge individueller Fehlleistungen und gescheiterter Existenzen. Dadurch konnte die Vorstellung vom eigenen, politisch-ökonomischen überlegenen System relativ stabil gehalten werden. Lorke konnte damit aufzeigen, dass die Konstruktion des sozialen Fremden in beiden Gesellschaften ähnlich verlief und es durchaus zu Überschneidungen kam, die auch weit über die Wiedervereinigung hinaus wirkmächtig blieben. Überdies darf die transnationale Dimension nicht aus dem Blick geraten. Denn im Kontext des Systemkonflikts war für das jeweilige Selbstbild die soziale Situation im kapitalistischen bzw. sozialistischen Ausland eine äußerst relevante Kategorie. Noch Ende der 1980er-Jahre pries der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Harry Tisch, die Überlegenheit des Sozialismus und zog dafür als Vergleich die Lage der Frauen in den USA heran. In der Bundesrepublik wiederum bezog man sich vorzugsweise auf die „Dritte Welt“. So sei die soziale Lage im westdeutschen Staat allen Unkenrufen zum Trotz eine äußerst privilegierte. Hier argumentierte man gemäß dem Motto: Wer in Äthiopien als reich gelte, der würde in Sindelfingen als arm angesehen werden. Dabei fungierte nunmehr das „außerdeutsche“ Fremde als Spiegel, vor dem der eigene sozialpolitische Erfolg weithin sichtbar gemacht werden konnte. Auf das Sozialsystem des jeweiligen deutschen Komplementärstaates nahm wiederum vor allem die DDR fortwährend Bezug, die damit stärker auf die Bundesrepublik als Reflexionsfläche angewiesen war als andersherum.

In einem letzten Beitrag befasste sich YVONNE HILGES (Heidelberg) mit der Einordnung des sogenannten „Radikalenerlasses“ im Zusammenhang des deutsch-deutschen Systemkonflikts. Dieser von Willy Brandt im Frühjahr 1972 verkündete Erlass kann als weiteres Beispiel für die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Gesellschaften angeführt werden. An ihm lässt sich – ähnlich wie im Beitrag Lorkes – plastisch zeigen, dass in den Jahrzehnten des Kalten Krieges keinesfalls monolithische Selbstbilder im geteilten Deutschland vorherrschten, die allein eine inklusive Wirkung hatten. Auch innerhalb der westdeutschen Gesellschaft bildeten sich vielmehr oppositionelle Subgruppen heraus, die als fremd wahrgenommen und teilweise als Feinde diffamiert wurden. Hierbei handelte es sich nunmehr allerdings nicht um eine soziale, sondern um eine politische Fremdgruppe. Die linken und kommunistischen Protestbewegungen in der Bundesrepublik dienten dabei vor dem Hintergrund des propagierten Antikommunismus insbesondere innerhalb der bürgerlichen Parteien Westdeutschlands als Feindbilder. Vornweg galt die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) nach ihrer Gründung 1968 als zentraler Antagonist für die „Bürgerlichen“. Die DKP wurde als wichtigste Kraft subversiver Agitation angesehen. Dieses Feindbild wies darauf hin, dass Identitätsvorstellungen nicht nur diskursiv von Bedeutung waren, sondern zu einer aktiven und restriktiven Politikgestaltung führen konnten. Dabei wurden die Überprüfung und Entlassung vermeintlich demokratiefeindlicher Personen aus dem Staatsdienst immer mit Blick gen Osten legitimiert. Für die DDR-Medien war diese Praxis wiederum ein vielversprechender Ansatzpunkt, um das eigene Selbstbild positiv hervorzuheben. So sprachen sie von einer angeblichen „Hexenjagd“, die westdeutsche Kritiker:innen verstummen lassen wolle. Die Bundesrepublik wurde dabei als Unrechtsstaat diffamiert, der auch international Kritik ausgesetzt sei. Für die SED-Führung war dies eine Möglichkeit, um indirekt das eigene Sicherheits- und Überwachungsregime zu relativieren. In Folge der Wiedervereinigung verlor das Thema mit der Zeit jedoch an Bedeutung. Gleichzeitig kam es zu einer Verschiebung der Feindbilder. Waren es bis 1990 vor allem die Kommunist:innen, die in Westdeutschland als zentrale Bedrohung wahrgenommen wurden, so richtete die Gesellschaft den Blick seit der Wiedervereinigung verstärkt auf rechte Parteien, die nunmehr als größere Gefahr für das politische System erschienen. Dabei wandelte sich insbesondere in den letzten Jahren das demokratische Selbstverständnis gerade in Abgrenzung zu diesen (neu)rechten Bewegungen.

In der von CHRISTOPH KLESSMANN (Potsdam) angestoßenen Abschlussdiskussion eruierten die Teilnehmer:innen der Tagung die Erkenntnisse und mögliche Forschungsdesiderate. Dabei betonten sie die Notwendigkeit der Akzentverschiebung innerhalb der Forschungsarbeit. Wichtig sei es, die Vorstellung eines dichotomen Wahrnehmungsmusters abzulegen und verstärkt die multilateralen Elemente der Selbst- und Fremdbilder in die Analysen einzubeziehen, da diese für die Genese und Wirkung von großer Bedeutung seien. Hier könne weitestgehend von einer „Matrix“ der Selbst- und Fremdbeschreibungen gesprochen werden, die durch ihre vielgestaltige Vernetzung, ihren (hierarchischen) Schichtcharakter von über- und untergeordneten Identitätsvorstellungen sowie einer transkulturellen Ausprägung charakterisiert sei. Im Hinblick auf den deutsch-deutschen Fall betonten die DiskutantInnen die Notwendigkeit, Forschungen voranzutreiben, die sich verstärkt den regionalen Unterschieden in Ost und West widmen sollten, um so deren Vielgestaltigkeit in den Blick zu bekommen. Ferner sei die Langlebigkeit alter Fremd- und Selbstbilder verstärkt zu erforschen. Bezüglich der Frage der Genese der „inneren Einheit“, also der Ausbildung einer gemeinsamen deutschen Identität nach 1990, ist zudem nach weiteren Komponenten zu fragen, die für diesen Prozess ausschlaggebend bzw. hinderlich waren. Hierbei könnten Erwartungen und Hoffnungen, die sich teilweise beiderseitig nicht erfüllten, Ansatzpunkte sein, die es einzubeziehen gelte. Dafür sollten insbesondere die 1990er-Jahre betrachtet werden, da gerade in diesem Jahrzehnt die Weichen dafür gestellt wurden, dass bis in die Gegenwart die Vorstellungen von einer Andersartigkeit von „Ost“ und „West“ lebendig ist; denn auch 2021 gehört dieses Denken keinesfalls der Geschichte an.

Konferenzübersicht:

Arnd Bauerkämper (Freie Universität Berlin): Begrüßung und Konzeption der Tagung

Sektion 1: Orte und Räume

Jan Hoffrogge (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Persistenz von Blickhierarchien an der innerdeutschen Grenze

Ulrich Pfeil (Université de Lorraine, Metz): Das Walther-Ulbricht-Stadions in Ost-Berlin. Stadionbau und deutscher Sonderkonflikt

Andreas Morgenstern (Museum und Archiv Schiltach): Das Kinzigtal von Osten betrachtet – die SBZ/DDR-Presse im Kampf gegen die „Kolonialisierung“ eines Schwarzwaldidylls

Sektion 2: Wahrnehmungsfelder

Christoph Lorke (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Arme und Ausgegrenzte beobachten, diagnostizieren, instrumentalisieren: Sozialpolitik und Konstruktion sozialer „Fremdheit“ im geteilten Deutschland

Sektion 3: Medien und Diskurse

Yvonne Hilges (Universität Heidelberg): Der „Radikalenerlass“ im Kontext des deutsch-deutschen Systemkonflikts – Diskurse um „Berufsverbote“ in Ost und West

Abschließender Kommentar

Christoph Kleßmann (Potsdam)-


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