HT 2021: Maritime Gewalt, Märkte und Staatlichkeit. Deutungskämpfe an der Wende zur Neuzeit. Podiumsdiskussion

HT 2021: Maritime Gewalt, Märkte und Staatlichkeit. Deutungskämpfe an der Wende zur Neuzeit. Podiumsdiskussion

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
digital (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Thomas Ertl, Freie Universität Berlin

Gemeinsam mit Thomas Heebøll-Holm und Gregor Rohmann veröffentlichte Philipp Höhn 2019 einen Sammelband zum Thema „Merchants, Pirates, and Smugglers. Criminalization, Economics, and the Transformation of the Maritime World (1200–1600)”. Die Auseinandersetzung mit Kaufleuten, Piraten und Schmugglern und ihrer Wahrnehmung durch die Zeitgenossen dient den Autoren und Autorinnen dazu, über politische und ökonomische Transformationsprozesse im späten Mittelalter nachzudenken. Die politische Transformation wird als Staatsbildung verstanden, in deren Zuge immer stärker zwischen legaler und illegaler Gewaltausübung unterschieden wurde, um das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Damit hängen die Bemühungen zusammen, die Angehörigen der eigenen politischen Gemeinschaft wirtschaftlich zu fördern und die wirtschaftlichen Aktivitäten von ausländischen Konkurrenten als illegal zu brandmarken. Anhand von Beispielen aus Ost- und Nordsee sowie Atlantik und Mittelmeer wird in den Beiträgen deutlich, wie interessengeleitet die Unterscheidung zwischen als legal und illegal markierten Aktionen und wie fließend die Grenzen zwischen beiden Bereichen waren. Einzelne Personen und Gruppen wurden von der einen Seite als Piraten diffamiert, von der anderen Seite als ehrenhafte Kriegsunternehmer gefeiert, wobei sich die Einschätzung nach Veränderung der politischen Lage ins Gegenteil verkehren konnte. Selbst im Wettstreit zwischen Stadtstaaten und Königreichen wurde mit ähnlichen diskursiven Strategien gearbeitet. „Der Band demonstriert überzeugend, dass sich die politische und wirtschaftliche Transformation besser verstehen lassen, wenn man die Geschichte des Umgangs mit Gewalt auf See in den Blick nimmt, und wie umgekehrt dieser Blick zu einem besseren Verständnis von Staatsbildung und ökonomischer Hegemonie beiträgt. Die Beurteilung von Gewalt auf See als legal oder illegal bietet ein hervorragendes Beispiel für die diskursive Ebene von Staatsbildungsprozessen.“ So urteilte Ulla Kypta in ihrer Rezension 1, in der sie zudem dazu auffordert, diese „großen Narrative“ weiter zu untersuchen.

Diese Aufforderung hat das Herausgeberteam aufgegriffen, um das Thema in einer Podiumsdiskussion zu vertiefen und zu erweitern. Als Moderatorin ging die mit der Thematik bestens vertraute Rezensentin ULLA KYPTA (Hamburg) mit an Bord. Erweitert wurde der zeitliche Rahmen, der sich nun bis ins 18. Jahrhundert erstreckt; eine Vertiefung erfuhr das Thema durch die Konzentration auf den von politischen bzw. staatlichen Institutionen geregelten Zugang zum Markt. Das Design der Podiumsdiskussion eignete sich meiner Meinung nach sehr gut für das digitale Format. PHILIPP HÖHN (Halle an der Saale) führte ins Thema ein und eine Vierer-Mannschaft präsentierte ihre Kurzreferate, die jeweils eigene thematische Schwerpunkte setzten. Anschließend wurde die Diskussion für die zahlreichen Zuhörer geöffnet. Die auch in anderen Sektionen feststellbare Schwierigkeit, eine intensive und kurzweilige Debatte herzustellen, bildete in diesem Fall kein Problem, denn die Teilnehmer auf dem digitalen Podium blieben rege in ihre Diskussion vertieft.

Phillip Höhn beschrieb, wie Isländer, Hamburger und Engländer sich im 15. und 16. Jahrhundert wechselseitig umbrachten, um den Zugang zum Island-Handel zu sichern. In diesen Konflikten deuteten die Akteure die eigenen gewaltsamen Konfliktpraktiken als legitime Maßnahmen, um gegen ihre Gegner vorzugehen, die das bonum commune schädigten und das Recht verletzten. Rechtsbrecher waren in diesen Deutungen maritimer Gewalt durch die Zeitgenossen immer die anderen. Dieser diskursiven Dichotomie zwischen gewalttätigen Piraten und ehrsamen Kaufleuten folgte nach Höhn auch die ältere Forschung. In Wirklichkeit habe es jedoch eine klare Trennung zwischen beiden Welten nie gegeben, denn maritime Gewalt und ihre Kriminalisierung seien als Phänomene der gewaltsamen Aushandlung des Zugangs oder Ausschlusses von Märkten zu verstehen. In der Podiumsdiskussion solle entsprechend das Verhältnis von maritimer Gewalt, Märkten und Staatlichkeit aus interdisziplinärer und interepochaler Perspektive behandelt werden. Gesucht würden allerdings – so Höhn – keine endgültigen Antworten, sondern Anstöße zum weiteren Nachdenken über die maritime Gewalt als einen Faktor der Verflechtung von Markt und Staat.

GALDI ALGAZI (Tel Aviv) führte im ersten Impulsreferat die Gedanken von Höhn weiter, indem er die Dichotomie von Gewalt und friedlichem Markt grundsätzlich infrage stellte. Der Markt sei kein Ort friedlicher Tauschbeziehungen und lasse sich praktisch kaum vom Nicht-Markt trennen. Um das Phänomen besser fassen zu können, schlug Algazi die Verwendung des Rentenbegriffs vor. Mit seiner Hilfe könnte man deutlich machen, wie durch die Ausnutzung von Machtpositionen politische und ökonomische Profite erzielt worden seien. Private und öffentliche Akteure hätten ein Interesse daran gehabt, den Zugang zu Ressourcen, Wissen und Transportwegen zu manipulieren und so die Transaktionskosten zum eigenen Vorteil zu verändern. Ziel der hegemonialen Marktteilnehmer sei es nicht gewesen, die übrigen Akteure auszuschließen, sondern durch die Manipulierung der Transaktionskosten eine „Rente“ zu erzielen. Es sei daher eine wichtige Aufgabe der Geschichtswissenschaft, das Idealbild des „friedlichen Marktes“ als solches zu erkennen, zu hinterfragen und zu überwinden.

EVA BRUGGER (Zürich) begann ihren Beitrag mit dem Blick auf ein Objekt. Einheimische Fellhändler trugen im 18. und 19. Jahrhundert in Nordamerika häufig Biberamulette. Die Biberfiguren wurden von europäischen Goldschmieden nach den Vorstellungen indigener Konsumenten und Konsumentinnen gefertigt und mit den Buchstaben HB, für die britische Hudson’s Bay-Kompanie, versehen. Damit markierten die Amulette einen legitimen Marktzugang zum nordamerikanischen Fellhandel. Wer dagegen kein Amulett besaß, musste auf illegitime Praktiken wie Schmuggel oder auf Schattenmärkte ausweichen. Neben solchen Artefakten wurden in den nordamerikanischen Kolonien noch andere Maßnahmen ergriffen, um den Zugang zu einem Markt zu regulieren, der immer stärker von Ressourcenknappheit und längeren Lieferdistanzen gekennzeichnet war. Allerdings waren die kolonialen Kontexte so unterschiedlich, dass Markt-, Jagd- und Regierungspraktiken jeweils lokal ausgehandelt wurden – teilweise auch in Konkurrenz der europäischen Kolonien untereinander. Besonders interessant für das Thema der Podiumsdiskussion ist die Beobachtung von Eva Brugger, dass eine Unterscheidung von Staatbildung und Marktwerdung in den nordamerikanischen Kolonien kaum möglich sei, da die maßgeblichen Akteure in Staats- wie Marktwerdungsprozessen gleichermaßen aktiv waren.

Zum Mittelmeer führten die Ausführungen von SEBASTIAN KOLDITZ (Heidelberg), der von der Grundannahme ausging, dass das Mittelmeer selbst im frühen Mittelalter von einem intensiven regionalen und überregionalen Warenaustausch geprägt gewesen sei, der zunehmend von den italienischen Seehandelsstädten dominiert wurde. Als Märkte in diesem Wirtschaftsraum betrachtet Kolditz die konkreten lokale Zentren des ökonomischen Austauschs. Über den Zugang entschieden die jeweiligen „Herren der Märkte“, etwa die byzantinischen Kaiser oder die Almohaden- und Hafsiden-Kalifen in Tunis. Das Mittel der Wahl bildete die Vergabe von Privilegien an Händlergruppen, die häufig mit Aufenthaltsrechten und Zollvergünstigungen verbunden waren. Der Zugang zu Märkten wurde daher vertraglich geregelt, wobei die Konkurrenz der christlichen Handelsnationen nicht selten gewalttätig ausgetragen wurde. Die damit verbundene maritime Gewalt schloss auch Piraterie ein, vollzog sich bis ins 12. Jahrhundert hinein, jedoch hauptsächlich entlang religiöser Trennlinien.

ALEXANDER ENGEL (Göttingen / Basel), dessen Forschungsschwerpunkte in der Geschichte der Moderne liegen, brachte eine Langzeitperspektive in die Diskussion ein, mit der er die wirtschaftsliberale Meistererzählung von der Zurückdrängung von vormoderner Gewalt und Willkür durch Staatlichkeit und friedlichen Markttausch relativierte. Sein Beispiel waren die Bukaniere in der Karibik. Er präsentierte diese maritimen Gewaltunternehmer als flexible Akteure, die ihre Beschäftigung häufig wechselten; mal waren sie als Kaufleute tätig, dann als Piraten, als Holzfäller, in staatlichen Diensten, als Forschungsreisende, etc. Insbesondere der Handel mit karibischen Farbhölzer bildete ein wichtiges Geschäft für diese Piraten-Holzfäller-Unternehmer. Als die Piraterie in der Karibik ab den 1720er-Jahren zurückgedrängt wurde, führte dies aber nicht zu einer friedlichen Marktwirtschaft. Die Holzfäller traten vielmehr in eine Phase der Professionalisierung ein, in der sie zunehmend Sklaven einsetzten und immer größere Reichtümer anhäuften: nun nicht mehr durch maritime Gewalt, sondern durch strukturelle Gewalt eines gewaltsamen kolonialkapitalistischen Settings.

Die Kurzreferate wurden durch eine interne Fragerunde abgerundet. Dabei wurde eine Vielzahl von Themen angesprochen. Mehrfach wurde auf das Potential des synchronen und diachronen Vergleichs hingewiesen, auch über Europa hinaus: Wie verhielt es sich mit dem angeblich friedlichen Handel im Indischen Ozean vor der Ankunft der Europäer; wo liegen eigentlich die Unterschiede zu Gewaltpraktiken und Marktzugangsmechanismen an Land? Vergleichend diskutiert wurde unter anderem der Gebrauch von Artefakten und die damit verbundenen Wertvorstellungen sowie andere Möglichkeiten der Authentifizierung von Netzwerkmitgliedern über große Distanzen hinweg. Wenig verwunderlich kam in der Diskussion erneut der Markt und seine Definition zur Sprache. Überlegt wurde insbesondere, ob ein präzises Modell oder ein offenes Konzept einen größeren Mehrwert für die Fragestellung bieten könnten. Ganz grundsätzlich ging es schließlich um die Frage, wer denn eigentlich wen ausschloss? Wie lassen sich die Akteure zwischen Politik und Markt charakterisieren und welchen Beitrag kann eine neue Wirtschaftsgeschichte, die ökonomische Prozesse in ihre kulturellen und sozialen Bedingungen einbettet, zu dieser Diskussion leisten?

Mit weitem Blick präsentierte GREGOR ROHMANN (Frankfurt am Main), Mitinitiator der Diskussionsrunde, die wichtigsten Thesen und Ergebnisse der einzelnen Beiträge und hob nochmals die Kernfrage hervor: Wie wirkten Markt-, Gewalt- und Legitimationspraktiken zusammen und welche Transformationen resultierten aus dem jeweils regional spezifischen Zusammenspiel der einzelnen Faktoren? Als Referenzpunkt für die Fortsetzung der Diskussion verwies er auf die Studie „Violence and Social Order“ (2009) von Douglass North, John Wallis und Barry Weingast, in der die Vertreter der Neuen Institutionenökonomik einen pragmatischen und inklusiven Staatsbegriff mit Gedanken zu vormodernen Formen der Zugangsbeschränkung zum Markt verknüpften. Mit diesem spezifischen Vorschlag und den zahlreichen Anregungen in einem wichtigen Forschungsfeld, das Politik und Ökonomie, Staat und Markt, diskursive Praktiken und nackte Gewalt miteinander verbindet, wurden die Zuhörer der Podiumsdiskussion entlassen; größtenteils inspiriert und zufrieden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Philipp Höhn (Halle an der Saale)

Moderation: Ulla Kypta (Hamburg)

Philipp Höhn (Halle an der Saale): Einführung

Gadi Algazi (Tel Aviv), Eva Brugger (Zürich), Sebastian Kolditz (Heidelberg), Alexander Engel (Göttingen / Basel): Beiträge und Diskussion

Gregor Rohmann (Frankfurt am Main): Zusammenfassung

Anmerkung:
1 Ulla Kypta: Rezension zu: Heebøll-Holm, Thomas; Höhn, Philipp; Rohmann, Gregor (Hrsg.): Merchants, Pirates, and Smugglers. Criminalization, Economics, and the Transformation of the Maritime World (1200–1600). Frankfurt am Main 2019, In: H-Soz-Kult, 29.05.2019, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28150>.


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