Die NS-Gaue – regionale Mittelinstanzen im zentralistischen 'Führerstaat'?

Die NS-Gaue – regionale Mittelinstanzen im zentralistischen 'Führerstaat'?

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte München/Berlin, Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2005 - 22.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabine Mecking, Westfälisches Institut für Regionalgeschichte (WIR), Münster; Alexander Pinwinkler, Universität Salzburg, Fachbereich für Geschichts- und Politikwissenschaft

Unter dem Titel „Die NS-Gaue – regionale Mittelinstanzen im zentralistischen 'Führerstaat'?" veranstalteten das Institut für Zeitgeschichte München/Berlin und das Historische Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 20. bis 22. September 2005 in Berlin eine Tagung. Es handelte sich um die Auftaktveranstaltung für ein geplantes Projekt zur Erforschung der Rolle und Bedeutung der NS-Gaue als regionale Mittelinstanzen. Neben einer Bestandsaufnahme zur bisherigen Gau-Forschung sollten Fragestellungen, Untersuchungsperspektiven und Zielsetzungen zukünftiger wissenschaftlicher Arbeiten diskutiert werden. Um es gleich vorweg zu nehmen: Diesem Anspruch ist die Konferenz mehr als gerecht geworden.

Trotz der anhaltenden Forschungswelle zum Nationalsozialismus und der dabei seit Mitte der 1990er Jahre festzustellenden verstärkten Hinwendung zur Region, lassen sich noch beachtliche Leerstellen hinsichtlich der Aufgaben und Funktion der Gaue im NS-Staat konstatieren. Bisher wurden die Gaue zumeist im Rahmen der NSDAP-Strukturen und damit ohne staatliche Hoheitsrechte in den Blick genommen, so dass ihre sich nach 1933 ausbildenden quasi-staatlichen Funktionen als regionale Mittelinstanzen weitgehend unbeachtet blieben. Genau hier will das geplante Forschungsprojekt ansetzen, das sich gleichermaßen den NS-Gauen des „Altreiches" und den „Reichsgauen" der „Anschlußgebiete" widmet. In systematischer, vergleichender und exemplarischer Weise sollen die gaupolitischen Handlungsfelder und Steuerungsbereiche untersucht werden. Hierfür ist sowohl nach einer gauspezifischen Ausprägung von „Regionalität" und „neuer Staatlichkeit" als auch nach Aktionsfeldern, Struktur-, Funktions- und Elitennetzwerken der „mittleren Ebene" zu fragen. Im Spannungsfeld von Zentralismus und Regionalismus sind Möglichkeiten und Grenzen einer gaubezogenen Regionalpolitik im „Dritten Reich" auszuloten.1

Die historische Untersuchung der NS-Gaue verweist, wie die Referenten der von Horst Möller (München) moderierten Eröffnungssitzung „Strukturelle Grundfragen" deutlich machten, auf zentrale Problemstellungen der Erforschung des „Dritten Reiches". Akteurszentrierte und vorwiegend funktionalistische Perspektiven auf das NS-Regime, Regionalität und Zentralismus im Spannungsfeld zwischen Gauen, Ländern und Reich, „Staatszerfall" und Entwicklung neuartiger Formen staatlicher Machtpraktiken – diese semantisch konträr zueinander stehenden, zugleich aber reziprok aufeinander zu beziehenden Stichwörter konturierten nicht allein die Vorträge dieser Sektion; sie kennzeichneten vor allem die erfreuliche Offenheit, die Referenten/-innen und Diskutanten/-innen neuartigen Zugangsweisen zur Thematik gleichermaßen entgegen brachten. Es wurde aber auch sichtbar, dass die funktionalistisch-komparatistische Perspektive, die die Referenten der ersten Sektion übereinstimmend als geeigneten methodischen Rahmen für weiterführende Forschungen betrachteten, in den Vorträgen zu einzelnen Fallbeispielen nur zu einem Teil bereits eingenommen wurde. Einige Vorträge untersuchten daneben auch konkrete Praktiken der Herrschaftsausübung in den NS-Gauen. Damit gelangten indirekt Herangehensweisen ins Spiel, die kultur- und diskursgeschichtlich orientierte Sichtweisen beinhalteten. Diese wurden zwar vereinzelt angedeutet (z.B. wenn zu Recht auf den spezifischen Charakter der „Gaue" als raumideologische Konstrukte hingewiesen wurde), forschungsstrategisch wurden sie aber nicht ausdrücklich operationalisiert.

Thomas Schaarschmidt (Leipzig/Potsdam), der das erste programmatische Referat hielt, hob die Relevanz von „Regionalität im Nationalsozialismus" als politisch-gesellschaftliche Handlungsebene hervor. Funktionen und Strukturen nationalsozialistischer Verwaltung und Herrschaft sollten mehr als bisher auf der Ebene der Gaue untersucht werden. Jürgen John (Jena) forderte, direkt daran anknüpfend, einen „Perspektivwechsel" der Forschung – weg von einer „personalistischen Verengung" hin zu einer funktionsgeschichtlichen Verortung der Gaue als regionale Herrschaftsträger des NS-Regimes. John betonte, die herrschaftspolitischen Funktionen der Gaue hätten sich zunehmend dynamisiert. Im „dezentralen Einheitsstaat" des „Dritten Reiches" seien diese besonders seit 1936 und verstärkt während des Krieges sichtbar geworden. Wie sein Vorredner plädierte auch Detlef Schmiechen-Ackermann (Lüneburg/Hannover) für eine systematisch angelegte „Gautypologie" als anzustrebendes Resultat arbeitsteilig angelegter Einzelforschungen. Berücksichtige man neben administrativ-räumlichen auch sozialstrukturelle und kulturelle Vergleichsindikatoren, so gelange man zu einer Typologie, die den Stellenwert der Gaue in der nationalsozialistischen „Zustimmungsdiktatur" besser einzuschätzen erlaube, als dies bislang möglich gewesen sei.

Rüdiger Hachtmann (Berlin) verknüpfte die Frage nach der prekären „Staatlichkeit" des „Dritten Reiches" mit einer Erkundung potentiell neuartiger Formen regionaler Herrschaftskommunikation. Informelle Struktur, Instabilität und Unberechenbarkeit, große Elastizität des Handelns bildeten jene Charakteristika, die Hachtmann von „charismatischen Verwaltungsstäben" sprechen ließ und die er heranzog, um die Funktion der wiederholten Gauleitertagungen als Instanzen überregionaler Koordination zur Diskussion zu stellen. Michael Ruck (Flensburg) warnte in seinem Kommentar davor, die Idealtypen Max Weberscher Prägung in zu ausgeprägt strukturfunktionalistischer Weise auf gesellschaftliche Realitäten im NS-Staat zu übertragen. Er fragte in diesem Zusammenhang danach, wo denn das Referenzmodell von „Staatlichkeit" im „NS-Gefüge" läge. Ruck verwies gleichzeitig darauf, dass die Quellenlage in einigen Regionen als prekär zu betrachten sei. Dadurch entstehe eine Asymmetrie der Überlieferung, die die Möglichkeiten einer Typologisierung heuristisch als begrenzt erscheinen lasse. Kritisch näherte er sich dem komparatistischen Ansatz an. Dieser dürfe nicht den Blick darauf verstellen, dass nationalsozialistische Praktiken jeweils von Akteuren ausgingen, die sich flexibel-dynamisch inszenierten, die insofern traditionale, bürokratische Herrschaftsmuster einer mobilisierenden Transformierung unterzogen hätten.

Unter der Moderation von Ulrich von Hehl (Leipzig) begann der zweite Tag mit fünf Vorträgen zum Themenfeld „Bevölkerungspolitik, 'Rassische' Verfolgung, Gegnerbekämpfung". Ingo Haar (Berlin) untersuchte bevölkerungspolitische Ordnungsinstrumente in den „Ostgauen": Die „biopolitische Absicherung des Grenzraums" bedingte dort eine vielfach abgestufte rassistische Hierarchisierung der Menschen. Die Kategorisierung der Bevölkerung in „Eindeutschungsfähige", „Arbeitsfähige" und „Asoziale" bildete letztlich die entscheidende sozialtechnische Handlungsanleitung für die polizeiliche Erfassung, aber auch für die Deportation der polnischen Bevölkerung. Der expandierende Gau „Rheinpfalz-Saarpfalz-Westmark" war, wie Wolfgang Freund (Metz) deutlich machte, ein exemplarisches Experimentierfeld nationalsozialistischer Rassen- und Bevölkerungspolitik. Diese war weder einheitlich organisiert, noch entsprang sie kohärenter Planung: Das von Gauleiter Bürckel favorisierte Konstrukt des „Arbeiterbauern" trat vielmehr in Konflikt mit der propagierten Reichserbhofideologie; desgleichen konnten sich Gauleitung und SS nicht darüber einigen, wie groß der Anteil der „einzudeutschenden" Lothringer sein sollte. Anschließend zeichnete Winfried Süß (München) anhand von Hessen-Nassau und Sachsen die Rolle der Gaue in der regionalisierten „Euthanasie" (1942/45) nach. Während die erste Phase der Euthanasie, die „T4-Aktion", von der Zentrale in Berlin gesteuert wurde, setzte in der zweiten Phase ab Sommer 1942 eine Dezentralisierung und Regionalisierung der Verantwortung für die Krankenmorde ein. Aufgrund der regional abgestimmten Verlegungs- und Tötungsmaßnahmen verwarf Süß den Begriff der „Wilden Euthanasie"; vielmehr handele es sich um die „Aktion Brandt", die von der Peripherie ausgegangen sei.

Über die Rolle der Gaue bei der „Arisierung" in Oberbayern, Mittelfranken und Mainfranken referierte Axel Drecoll (München). Bis 1937 blieb der Griff nach „jüdischem" Privat- oder gewerblichem Vermögen weitgehend durch lokale und regionale Interessen geprägt. Im Jahr des Novemberpogroms setzte allerdings, bedingt durch zentrale staatliche Anweisungen, eine zunehmende Professionalisierung und Systematisierung der Verdrängung und Ausraubung von Juden ein. Mittels zentraler Dienststellen übernahm nun der Staat die administrative Steuerung und damit auch die Kontrolle des Ausplünderungs- und Verdrängungsprozesses. Regionale Interessen und die Dominanz der Gaue wurden zurückgedrängt. Nach Möglichkeiten und Grenzen einer regionalen politischen „Gegnerbekämpfung" fragte Andreas Schneider (Erfurt) in seinem Referat. Obgleich keine größeren Elitenzusammenhänge bestanden, arbeiteten Gestapo- und Gauleitung im Rahmen der formellen und informellen Gegnerbekämpfung eng zusammen. Während sich die formelle Mitwirkung der Gaue entsprechend der bei der Zentrale und damit bei der Gestapo angesiedelten rechtlichen Befugnisse gewissermaßen auf ein Zuarbeiten auf unterster Stufe beschränkte, durchzog die informelle Mitwirkung (Überwachung, Denunziation, Berichtswesen etc.) alle Partei- und Verwaltungsbereiche. Die Gestapo war bereits aufgrund ihres vergleichsweise kleinen Personalstabs trotz aller formalen Zuständigkeit von der Mitarbeit der Regionen (Gaue) abhängig.

Susanne Heim (Berlin), die die ersten drei Vorträge aus dem Bereich „Bevölkerungspolitik und „Rassische' Verfolgung" kommentierte, unterstrich noch einmal die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung, um der Rolle der Gaue und speziell auch der Gauleiter im NS-System gerecht zu werden. So müsse beispielsweise bei der Untersuchung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik (z.B. „Generalplan Ost") genau hingeschaut werden, inwieweit Gauleiter als regionale Akteure oder als Stellvertreter Hitlers agierten. Clemens Vollnhals (Dresden) wies in seinem Kommentar zum Bereich „Arisierung" und „Gegnerbekämpfung" darauf hin, dass an diesen Tätigkeitsfeldern nationalsozialistischer Agitation das Spannungsverhältnis zwischen Zentralismus und Region sehr plastisch werde. Galt auch jeweils der Primat der Zentrale, so zeigte sich gleichzeitig, dass bei der Umsetzung des „von oben" Gewollten auf der Mittelinstanz große Handlungsspielräume bestanden, wenngleich auf dem Feld der „Arisierung" mehr als auf dem der politischen „Gegnerbekämpfung". Die Beispiele lassen überdies die hohe Zielorientierung bei der Umsetzung von NS-Politik erkennen. Der gewählte Weg zur Zielerreichung schien beinahe nebensächlich, seine Legitimation war allerdings in hohem Maße vom Erfolg abhängig.

In der von Joachim Scholtyseck (Bonn) moderierten Sektion „Hochschule/Wissenschaft, Bildung, Kultur" gab zunächst Martina Steber (Augsburg) einen an der bisherigen Forschungsliteratur ausgerichteten Überblick über die Kulturarbeit in verschiedenen NS-Gauen. Die nationalsozialistische Kulturarbeit diente neben der Integration der konservativen Eliten und der Arbeiterschaft in das NS-System der Herrschaftssicherung und bot den Gauleitern eine Möglichkeit zur Profilierung bei Hitler selbst. Da es kein einheitliches, zentral gesteuertes Konzept für eine nationalsozialistische Kulturpolitik gab, entwickelten sich die Gaue zu organisatorischen und räumlichen Zentren der Kulturarbeit. Dagegen führte die auf dem Feld der Schulpolitik mit den Reformen zwischen 1935 und 1939 einhergehende „Verreichlichung", so Jürgen Finger (Augsburg), zur Nivellierung der regionalen Besonderheiten im Schulwesen. Der Schwerpunkt der Gauarbeit in den süddeutschen Ländern blieb in diesem Bereich auf die Personalpolitik (Gutachten, politisches Beurteilungswesen) beschränkt und zielte auf die nationalsozialistische Durchdringung der Lehrerschaft. Eine administrativ-steuernde Funktion der Gaue lag nicht vor. Starke Zentralisierungsbestrebungen des Reichserziehungsministeriums konnte auch Michael Grüttner (Berlin) für die Hochschulpolitik nachzeichnen. Auch hier beschränkte sich die Intervention der Gauleitung im Wesentlichen auf personalpolitische Fragen (wie die Negation von Personalvorschlägen). Ihr indirekter Einfluss war allerdings durch die Androhung von Sanktionen wie Boykottmaßnahmen, NS-Pressekampf, Aufhetzen der NS-Studenten- und Dozentenschaft oder Entziehung städtischer Mittel für die Universität erheblich größer als es der Verfahrensweg z.B. bei der Ernennung von Hochschulrektoren auswies. Die jeweils unterschiedliche Intensität der Einflussnahme der Gauleitungen mache deutlich, wie Willi Oberkrome (Freiburg) in seinem Kommentar ausführte, dass NS-Gaue eben nicht als monolistische Einheit betrachtet werden dürften. Vielmehr präsentiere sich die Gauarbeit im Zeitablauf und im Hinblick auf die verschiedenen Tätigkeitsfelder sehr unterschiedlich.

Der zweite Tag klang mit der von Wolf Gruner (Berlin) moderierten Sektion „Gauverwaltung und Gaue in der Endphase des Zweiten Weltkrieges" aus. Armin Nolzen (Bochum) ging den Entwicklungen und Tendenzen der Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP nach. Die ehrenamtliche Führung zahlreicher Gauämter, die hohe Personalfluktuation, die Dezentralisierung der Gauarbeit auf Kreisebene sowie die Ausdifferenzierung und Zersplitterung der Parteiorganisationen standen der Herausbildung einer einheitlichen Gauverwaltung entgegen. Die Vorträge von Sven Keller (München) „Gaue und Gauleiter in der Endphase des Zweiten Weltkriegs" und Gerhard Kratzsch (Münster) über „Möglichkeiten und Grenzen der Gauwirtschaftspolitik" fielen aufgrund der Erkrankung der Referenten aus. Im Kommentar wies Dieter Pohl (München) darauf hin, dass während des Krieges der Parteiapparat zunehmend staatliche Funktionen wahrnahm. Er plädierte dafür, bei zukünftigen Untersuchungen auch die Funktion der Parteizentrale und die Zukunftserwartungen der Mittelinstanzen im Blick zu behalten.

Am dritten Konferenztag standen in den von Thomas Schaarschmidt (Leipzig/Potsdam) und Jürgen John (Jena) geleiteten Sektionen Porträts einzelner Gaue auf dem Programm, die exemplarisch und paradigmatisch die Ausprägung bestimmter Gautypen, jeweils dominierende Handlungsfelder und entsprechende Gauprofile zur Diskussion stellten. Es wurde deutlich, dass einzelne Gauleitungen gegenüber den Berliner Zentralstellen über eine relative Autonomie verfügten, die aufgrund eines kriegsbedingten Kompetenzzuwachses (z.B. im Bereich des Luftschutzes) zum Teil sogar noch eine Ausdehnung erfuhr. Ihre Handlungsspielräume nutzten einzelne Gauleiter dazu, um in fortwährender Konkurrenz zu den von Berlin aus gesteuerten Herrschafts- und Repressionsapparaten (vor allem SS und Gestapo) ihren Machtbereich möglichst zu behaupten. Michael Buddrus (Berlin) konnte mittels eines akteursbezogenen und netzwerkanalytischen Zugangs, der auf einer rund 5.000 Personen umfassenden kollektivbiographischen Datenbank beruhte, dieses Spannungsfeld am Beispiel des Gaues Mecklenburg eindringlich veranschaulichen. In Richtung ihrer polnischen bzw. belgischen Nachbarn suchten Gaue wie Pommern (vorgestellt von Kyra Inachin, Greifswald) und Köln-Aachen (vorgestellt von Thomas Müller, Aachen) gegebene politische Handlungsoptionen konsequent zu erweitern. Eine aggressive Grenzlandideologie bot hierfür ein als geeignet erachtetes politisch-ideologisches Instrument. Wolfgang Stelbrink (Soest) machte anhand der beiden westfälischen Gaue Ansätze einer Politik aus, die einzelne Gaue zugunsten regionaler Kooperation überlagern sollte. Partikulare Interessenlagen, wie sie dort vor allem regionale Wirtschaftsgruppen vertraten, vereitelten jedoch eine tatsächlich fassbare Etablierung von „Gauidentitäten", die als solche überregional wirksam geworden wären. Der Gau Oberschlesien, von Ryszard Kaczmarek (Katowice) vorgestellt, bildete schließlich ein Beispiel für einen „Grenzlandgau", den die dortigen regionalen Parteieliten als Experimentierfeld sowohl für eine hastig in Szene gesetzte Industrialisierung, als auch für rigorose „volkstumspolitische" Aktivitäten ansahen.

Michael Kißener (Mainz) hob als Kommentator hervor, dass die erkennbare relative Persistenz alter Gefolgschaftsnetzwerke bei einem parallelen Aufblähen des personellen Apparats in einzelnen Gauen forschungspraktisch dazu herausfordere, forciert Netzwerke und Biographien auf der Ebene der Gaue zu untersuchen. Das Verhältnis von selbst zugewiesenen und von der Zentrale verordneten Gaufunktionen, die damit verknüpften Muster von Eigen- und Fremdwahrnehmung, letztlich die Systematisierung der Profile „alter" und „neuer" Gaue, von „Binnen-" und „Grenzlandgauen" seien Desiderate komparatistischer Forschungsanstrengungen. Fallstudien könnten jeweils Anknüpfungspunkte für weiterführende Vergleichsperspektiven liefern.

An die Möglichkeiten einer typologischen Unterscheidung zwischen Gauen, die im Inneren des „Altreichs" lagen, und jenen östlichen und südöstlichen („Grenz-")Gauen, in denen das Spannungsverhältnis zwischen „Zentrum" und „Peripherie" besonders deutlich hervortrat, knüpfte Magnus Brechtken (Nottingham) als Kommentator der Schlusssitzung an. Er bezog sich dabei auf die vier abschließenden Vorträge: Martin Moll (Graz) beschrieb die Steiermark als einen „Reichsgau", den die Berliner Zentrale aufgrund der politischen „Linientreue" der Grazer Gauleitung als weitgehend „unproblematisch" einschätzte. Dieter Pohl (München) untersuchte Danzig-Westpreußen und das so genannte Wartheland. Pohl betonte den Zusammenhang zwischen wenig gefestigten Machtverhältnissen in der regionalen Parteihierarchie, der damit verknüpften administrativen Willkür und den zunehmend sich radikalisierenden Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitiken gegenüber so genannten „Fremdvölkischen". Ernst Hanisch (Salzburg) charakterisierte den „Reichsgau" Salzburg als ein „Bewährungsfeld" nicht nur für „fähige" Gauleiter, sondern auch für eine nationalsozialistisch geprägte „Generation des Unbedingten". Deren ausgeprägte Radikalität basierte auf einem, wie Hanisch zeigte, regional tatsächlich gegebenen politischen Handlungsspielraum. Michael Wedekind (Münster) referierte abschließend zur „Expansion und regionalen Herrschaftsbildung" am Beispiel von Tirol-Vorarlberg. Die Auswertung der Aktionsradien der regionalen Gauleitung, wie sie im Kriegsverlauf festgestellt werden kann, fiel dort mit der Desintegration verreichlichter Herrschaftsstrukturen zusammen. Das sukzessive Aufbrechen bisheriger Machtstrukturen führte jedoch gleichzeitig dazu, dass „Führerentscheiden" in internen Richtungskämpfen eine letztinstanzliche Entscheidungsbefugnis zugesprochen wurde.

Wie sich in der abschließenden Diskussion zeigte, scheint die Vernetzung von biographisch-akteursbezogenen Ansätzen mit funktionell-strukturalistischen Untersuchungsperspektiven geeignet zu sein, die Forschung zu den „NS-Gauen als regionale Mittelinstanzen" weiter voranzubringen. Bei der Tagung wurde jedenfalls sichtbar, wie diversifiziert im „Dritten Reich" regionale Herrschaftsstrukturen waren und wie sehr Politikfelder im regionalen Vergleich mitunter differierten. Die Berliner Konferenz hat zweifellos wichtige Anstöße für eine künftige Gesamtinterpretation des Phänomens „NS-Gau" geliefert, die den Spagat zwischen empirischer Forschung und notwendig modellhafter Abstraktion zu berücksichtigen sucht. In diesem Sinne kann man die einzelnen Forscher und Forscherinnen nur dazu ermuntern, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Eine schriftliche Dokumentation der gleichermaßen anregenden wie ergiebigen Tagung ist geplant.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jürgen John/Thomas Schaarschmidt: Konzeptpapier zur Tagung „Die NS-Gaue – regionale Mittelinstanzen im zentralistischen 'Führerstaat'? Leitlinien, Fragestellungen, Hypothesen".


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