HT 2021: Geschichte spielen, wie es eigentlich gewesen ist – Das Digitale Spiel im Spiegel seiner Authentizitätsdebatten

HT 2021: Geschichte spielen, wie es eigentlich gewesen ist – Das Digitale Spiel im Spiegel seiner Authentizitätsdebatten

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Färberböck, Fachbereich Geschichte, Universität Salzburg

Sobald es um Geschichtsrezeption geht, ist die Frage nach der Authentizität – oder oft auch polemisch nach der „historischen Korrektheit“ – nicht weit weg. Geht es um Geschichte in Digitalen Spielen, trifft das umso mehr zu. Dabei ist es nicht unbedingt nur die Geschichtswissenschaft, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Sie fragt eher, warum das so ist und so wahrgenommen wird. Es sind vielmehr auch die Spieler:innen, die genau solche Diskurse führen. Es wird hier also buchstäblich ein für den 53. Historikertag namensgebender Deutungskampf ausgetragen. Diese Sektion widmete sich deswegen genau dieser Debatte, denn Digitale Spiele können ein Spiegelbild der Gesellschaft sein und Einblicke in die Geschichtsbilder der Spieler:innen geben. Authentizität könnte fast als Unwort innerhalb der Rezeptionsforschung genannt werden. Trotzdem kommen die Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Spieler:innen und die Frage zu welchem Zweck Authentizitätsbedürfnisse von Seiten der Produzent:innen erfüllt werden, noch immer zu kurz. Deswegen gab die Sektion einen Einblick in die aktuelle Forschung.

Es startete EUGEN PFISTER (Bern) mit dem Geschichtsverständnis, das Digitale Spiele in sich tragen. Er argumentierte, dass sie progressiv aufgebaut seien: Sie haben ein teleologisches Geschichtsverständnis. Es gehe stets darum, ein Ziel wie die Weltherrschaft anzustreben. Dabei blieb nicht unerwähnt, dass Spiele bereits einen decision turn hinter sich gelassen hatten. Durch die Interaktivität wurden Digitale Spiele in den letzten Jahren von Entscheidungsbäumen geprägt. Sie vermitteln bis heute eine Entscheidungsfreiheit, die jedoch nicht ergebnisoffen ist. Zentrale Punkte und verschiedene Ausgänge der Spiele sind vordefiniert. Pfister merkte jedoch an, dass dieser teleologische Ansatz nicht für alle Spiele gelte. Im Genre der Globalstrategie finde man zwar millionenfach verkaufte und in der Geschichtswissenschaft vielfach bearbeitete Spieleserien wie Sid Meier’s Civilization, die auf die besagte Weltherrschaft durch Militär, Wissenschaft oder Kultur abzielen. Er sprach aber auch von alternativweltgeschichtlichen Digitale Spielen wie Crusader Kings 3, die eine deutlich positivere Auseinandersetzung mit Geschichte abgäben. Pfister zeigte hier, dass realhistorische Rahmenbedingungen verwendet werden, die die Spieler:innen befähigen, ihre eigene Historiografie zu entwickeln. So könnten komplexe Zusammenhänge plastisch dargestellt, beeinflusst und erst erzeugt werden. In diese Sparte der positiven Entwicklung der Geschichtsdarstellung fielen auch immer wieder Spiele mit multiperspektivischem Ansatz, in denen die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird.

Dass solche vermittelten Geschichtsbilder tatsächlich von Spieler:innen wahrgenommen werden, verdeutlichte KATHRIN TRATTNER (Bochum), die von der identitätsstiftenden Funktion der Geschichtsrezeption in Digitalen Spielen und von Authentizität als Kampfbegriff einiger Spieler:innen sprach. Dazu wertete sie Beiträge auf Twitter zwischen Mai und Dezember 2018 zum Hashtag #NotMyBattlefield aus. Es stellte sich dabei heraus, dass die oben erwähnte „historische Korrektheit“ oft gar nicht das Hauptargument war, denn akkurate Uniformen waren und sind bis heute gar nicht das wirkliche Thema. Vielmehr seien es Atmosphären und Gefühle, die die Spieler:innen beschreiben. Trotzdem stellte Trattner fest, dass die Begriffe Korrektheit und Authentizität nahezu synonym verwendet wurden. Die subjektive Authentizitätsdebatte werde durch das ebenso subjektive Geschichtsbild geformt. Dass Uniformen und Waffen nicht die große Diskussion ausgelöst haben, lag nach ihrer Sicht daran, dass laut den ausgewerteten Diskussionen vielmehr ein anderes Element von Battlefield V die Gemüter erhitzte: Frauen im Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus argumentierte sie, dass Gender, Disability und auch PoC Aspekte seien, die die Autor:innen der Beiträge zu einem beträchtlichen Teil nicht in „ihrem Spiel“ wollen. Laut Trattners Daten, empfanden sie diese Darstellungen als fehlenden Respekt gegenüber Soldaten – cisgender und weiß. Das decke sich auch mit Diskussionen außerhalb Twitter und journalistischen Arbeiten diesbezüglich.1 Sie sah die #NotMyBattlefield-Bewegung deswegen als direkte Kontinuität vorheriger misogyner Bewegungen unter „Gamern“. Sie dienten identitätsstiftenden Zielen und der Exklusion der „Anderen“. Viele „Gamer“ sähen sich als Stellvertreter der weißen Soldaten-Vorfahren, die sie „vor Angriffen schützen“ wollten.

Im nächsten Beitrag sprach TOBIAS WINNERLING (Düsseldorf) von vermeintlicher Idylle in der Aufbaustrategie-Serie Anno, die stets im Titel eine nachfolgende Jahreszahl mit der Quersumme 9 trägt (Beispiele: Anno 1602, Anno 1701 oder Anno 1800). Bis auf die wenigen Titel, die in der Zukunft spielen und die Winnerling ausklammerte, dreht sich bei Anno stets alles um eine romantisierte Kolonialwelt aus eurozentrischer Perspektive. Weniger beschönigend war jedoch sein Vortrag zu den Debatten über dieses Weltbild, die nie stattgefunden haben, aber hätten sollen. Im Gegensatz zur Sklaverei, die sehr wohl diskutiert2, aber dann für Bewertungen und Preisverleihungen trotzdem großteils ignoriert wurde3, goutierte man klassisch imperialistische Spielziele kommentarlos. Winnerling merkte an, dass der fehlende Diskurs jedoch nicht erst 2020 auffiel, sondern schon vorher im Jahr 1998 beim ersten Teil Anno 1602 eben nicht stattfand. Rohstoffe zu gewinnen, Länder und Bevölkerung auszubeuten und andere Fraktionen zu dominieren seien nicht nur Elemente der kolonialen Expansion, sondern auch dieser Digitalen Spiele. Tobias Winnerling merkte auch an, dass sich schon 1999 die Geschichtswissenschaft – bzw. der einzelne Historiker Stefan Baur4 – damit beschäftigte, dass die Ausblendung der Sklaverei nicht das Hauptaugenmerk sein sollte. Es wurde und werde immer noch ein ahistorisches ökonomisches Verhalten im Spiel dargestellt, das eher spätkapitalistisch und nicht früh-neuzeitlich angelegt sei. Baur blieb aber lange der einzige Teilnehmer dieses Diskurses. Winnerling eröffnete damit einen wichtigen Aufruf an alle Historiker:innen. Es fehle nämlich an der Basis: Was genau soll diskutiert werden? Genau diese Punkte müssten auch an die Öffentlichkeit herangetragen werden. Durch das Mäandern zwischen mehreren Diskussionen – ob etwas authentisch ist, warum es in dieser jeweiligen Form dargestellt wird oder was für Möglichkeiten sich dadurch ergeben – komme es nicht zu einer öffentlich-wirksamen Diskussion, die tatsächlich die dargestellten Geschichtsbilder ändern könnte. Er stellte deswegen die Frage in den Vordergrund, wie man über Authentizität diskutieren soll. Das weitere „Zelebrieren“ der europäischen Expansion merkte er zurecht als bedenklich an.

Zum Abschluss lieferte FELIX ZIMMERMANN (Köln) eine theoretische Grundlage, um über Atmosphären und Wirkungen von Spielen zu diskutieren. Der von ihm definierte Begriff der Vergangenheitsatmosphäre5 war Zentrum des Vortrags. Er erklärte den Grundbegriff Atmosphäre als „ursprünglichste Art und Weise, wie wir mit unserer Umwelt in Kontakt treten“. Er unterschied dabei, wie Atmosphären auf Spieler:innen wirkten. Einerseits könnten sie bewusst – analytisch – und andererseits unbewusst – präreflexiv, ganzheitlich – aufgenommen werden. Dabei hob er seine These hervor, dass Spieleentwickler:innen sich der Wirkung von Atmosphären bewusst seien. Sie sollten Authentizitätsbedürfnisse befriedigen und Gefühle hervorrufen. Er argumentierte, dass bei der unbewussten Atmosphärenwahrnehmung ein ebenso unbewusster Abgleich mit den eigenen Erwartungen oder dem Vorwissen passiere, wodurch sich dann Digitale Spiele subjektiv authentisch anfühlten. Der Frage, wie er das beweisen könnte, begegnete er mit dem Atmosphärendiskurs, der genau das bewerkstelligen solle. Rückgreifend auf Winnerling merkte Felix Zimmermann an, dass auch der Diskurs des romantischen Kolonialismus in der Anno-Serie – das sogenannte „Anno-Gefühl“ – als Authentizitäts- und Atmosphärendiskurs betrachtet werden könnte. Er zeigte das mittels Einträgen aus dem Blog der Entwickler:innen, in dem vom „Wuselfaktor“ (Avatare, die herumlaufen und eine fast chaotische Geschäftigkeit an den Tag legen) bzw. dem „visuellen Feedback“ geschrieben wurde. Ebenso sei das Sound-Design, das je nach Nähe der Kamera andere Geräusche für Spieler:innen hörbar macht, ausschlaggebend für die „wohlige“ Atmosphäre. Durch das Hämmern oder Rauschen eines Wasserfalls entstand laut Zimmermanns Vortrag erst der Authentizitätseindruck. Das Problem am Begriff der Atmosphäre sah er darin, dass er derzeit noch überall ist – nicht nur per Definition, sondern auch im Stadion, in Spielen oder einer besonders einladenden Bar. Er plädierte deswegen für die Ausbildung „atmosphärischer Kompetenzen“6, um fundiert über Atmosphären wissenschaftlich diskutieren zu können. Er unterstrich nämlich das Potenzial der Atmosphären, die er als machtvolles Wahrnehmungsphänomen beschrieb. Damit ließen sich laut Zimmermann „subtile Techniken“ aufdecken, die von Erzeuger:innen-Seite Authentizitätsgefühle herstellen sollten. Zum Schluss merkte er noch an, dass die Rezeptions- und Produktionskontexte in die Forschung einbezogen werden müssten. Man sollte also sowohl das ansehen, was bei den Spieler:innen ankomme, als auch die Gründe, warum Entwickler:innen Digitale Spiele so gestalten, wie sie nun einmal sind.

Bei der anschließenden, von CHARLOTTE JAHNZ (Bonn) moderierten Diskussion wurden viele Themen angerissen und die Zeit reichte bei weitem nicht aus. Auch das diente als Indiz, dass das Thema der Authentizität im Medium bei Spieler:innen und Historiker:innen hoch im (Dis-)kurs steht. Öfter wurde nach der Datenlage gefragt: Welches Genre / Setting ist besonders beliebt und was wollen Spieler:innen? Es gibt hier noch zu wenig Forschung und kaum verlässliche Daten. Eugen Pfister erwähnt hier, dass auch die Spieleentwicklung vor ähnlichen Probleme steht und einigen Settings wie dem Zweiten Weltkrieg kaum eine Chance einräumten, obwohl sie dann später ein Millionenpublikum fanden. Die Zahlen, die der Forschung vorliegen, seien außerdem von der Spieleindustrie selbst aufbereitet und müssten entsprechend quellenkritisch betrachtet werden.

Die Spieleauswahl suggerierte zwar, dass sie hauptsächlich große Spieletitel mit hohem Budget und riesigen Publikum betrachteten, aber in der Diskussion wurde klargestellt, dass das nur ein unzulänglicher Einblick ist. Die Vortragenden erwähnten, dass kleinere, auch in ihren Beiträgen am Rande erwähnte Produktionen versuchten, durchaus aus üblichen Geschichtsbildern oder Perspektiven auszubrechen. Die identitätsstiftende Wirkung von Digitalen Spielen wurde noch einmal herausgestellt und auch die leidliche Frage, ob sie künstlerisch „wertvoll“ sein müssten und was Spiele dürfen. Tobias Winnerling räumte ein, dass diese Fragen dem Film heutzutage nicht mehr gestellt werden, aber sehr wohl auch in Historikertagen diskutiert wurden! Für den Film seien Fragen wie ob Krieg Spaß machen darf banal. Für Digitale Spiele seien sie noch stets Realität – in der Forschung, der Presse und teilweise auch unter Spieler:innen. Dies Entwicklung befinde sich aber im stetigen Fluss.

Ein größerer Frageblock widmete sich der Atmosphäre und der Gefühle. Atmosphäre schließe laut Zimmermann auch die Objektseite ein, die Gefühle stets ausschließe. Ebenso wurde die latente Wirkung von Vorbildern aus Literatur oder Film angesprochen, denn laut Winnerling ist die historische Forschung nicht die Basis für die Referenzkonstruktion. Die Popkultur und die Schulbildung seien hier einflussreicher für die Authentizitätsdebatten. Nichtsdestotrotz haben hier Historiker:innen noch kein großes, offenes Arbeitsfeld in Spieleproduktionen, auch wenn Winnerling mit seinen Ausführungen recht hatte, dass es vereinzelt zu Beratungstätigkeiten kommt. Auch das muss ein Desiderat der Geschichtswissenschaft sein. Wie Zimmermann ausführte, entstehen nun einmal Digitale Spiele nicht im Vakuum und holen sich Inspirationen für ihr eigenes Geschichtsbild oder ihre eigenen Darstellungen, die Historiker:innen durchaus mitformen könnten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Eugen Pfister (Bern) / Tobias Winnerling (Düsseldorf) / Felix Zimmermann (Köln)

Eugen Pfister: Keine Atempause! Geschichte wird gemacht. Es geht voran! – Zum teleologischen Geschichtsverständnis in digitalen Spielen. Geschichte als Konstrukt

Kathrin Trattner (Bochum): #NotMyBattlefield: Zur ‚historischen Authentizität‘ als Kampfbegriff in Gamerdiskussionen

Tobias Winnerling: Es war einmal im Jahre Quersumme Neun – oder nicht? Zwei Jahrzehnte wissenschaftlicher und populärkultureller Diskussionen um die Deutung der „Anno“-Serie

Felix Zimmermann: Das Digitale Spiel und seine Atmosphären: Wie Vergangenheitsatmosphären hergestellt werden wie sie Authentizitätsbedürfnisse befriedigen

Moderation: Charlotte Jahnz (Bonn)

Anmerkungen:
1 Vgl. Luke Plunkett, Oh No, There are Women in Battlefield V, New York 2018, in: Kotaku, https://kotaku.com/oh-no-there-are-women-in-battlefield-v-1826275455 (28.10.2021).
2 Vgl. Bundeskanzleramt. Sektion VI – Familie und Jugend, Anno 1800, Wien 2021, in: BuPP.at, Information zu Digitalen Spielen, https://bupp.at/node/2235 (28.10.2021).
3 Vgl. Awardbüro Deutscher Computerspielpreis – Stiftung Digitale Spielekultur, Anno 1800, Berlin 2020, in: Der DCP, https://deutscher-computerspielpreis.de/gewinner/anno-1800/ (28.10.2021).
4 Vgl. Stefan Baur, Historie in Computerspielen: „Anno 1602 – Erschaffung einer neuen Welt“, in: WerkstattGeschichte 23, 1999, S. 83-91, bes. S. 86.
5 Für eine längere Ausführung, siehe: Felix Zimmermann, Historical Digital Games as Experiences. How Atmospheres of the Past Satisfy Needs of Authenticity, in: Marc Bonner (Hrsg.), Game | World | Architectonics. Transdisciplinary Approaches on Structures and Mechanics, Levels and Spaces, Aesthetics and Perception, Heidelberg 2021, S. 19-34.
6 Vgl. Gernot Böhme, Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben. Ein neues Konzept ästhetischer Bildung, in: Rainer Goetz / Stefan Graupner (Hrsg.), Atmosphäre(n): Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, S. 31-43, bes. S. 40.


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