HT 2021: Klio vor dem Kadi. Geschichtswissenschaft zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht

HT 2021: Klio vor dem Kadi. Geschichtswissenschaft zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Anja Tack

Klio vor dem Kadi – das musische Wortspiel versprach Leichtigkeit, verwies aber auf ernste Fragestellungen: Inwieweit steht das wachsende Bewusstsein für den Schutz des Individuums als zentralem Wert in modernen westlichen Gesellschaften in Spannung mit der grundgesetzlich verbürgten Wissenschaftsfreiheit? Und welche Rolle spielt dabei das Instrument des Rechtes als Modus historischer Deutungskämpfe?

Rund 200 Teilnehmer:innen hatten sich anlässlich des 53. Historikertages 2021 vor ihren Bildschirmen eingefunden und folgten der von MARTIN SABROW (Berlin/Potsdam) und WINFRIED SÜSS (Potsdam) organisierten Sektion, die sich einem nicht zuletzt durch das juristische Vorgehen des „Hauses“ Hohenzollern hochaktuellen Thema widmete: Es ginge, so Sabrow, um die besorgniserregende Frage, inwiefern die Geschichtswissenschaft und die Geschichtskultur gefährdet seien, wenn es zum modus operandi werde, „historische Wissens- und Urteilsverbreitung“ mit Hilfe des Rechtes einzuschränken. Die beiden Organisatoren konstatierten in der geschichtswissenschaftlichen Praxis eine wachsende Einschüchterung des Faches durch die zunehmenden juristischen Angriffe in unterschiedlichen Formen. Sabrow, der zugleich das Panel moderierte, mahnte in seiner Einführung die Verteidigung der wissenschaftlichen Freiheit der Geschichtsschreibung als immerwährende Aufgabe der Zunft an.

Der juristischen Dimension des Themas widmeten sich in einem ersten Teil der Sektion der Medienrechtler und Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung - Hans-Bredow-Institut (HBI) WOLFGANG SCHULZ (Hamburg) sowie der Rechtsanwalt MARCELLUS PUHLEMANN (Berlin). Schulz stellte sogenannte strategische Klagen (SLAPPS) in den Mittelpunkt seines Impulsvortrages. Die Abkürzung stehe für „Strategic Lawsuits Against Public Participation“; diese zielten darauf ab, durch ein kostenintensives und langandauerndes Verfahren die beklagte Seite finanziell unter Druck zu setzen und sie letztlich dazu zu bringen, auf potentiell missliebige Äußerungen zu verzichten. NGOs sind seit Längerem Ziel solcher rechtsmissbräuchlichen Verfahren vor allem im angelsächsischen Rechtsraum. Seit geraumer Zeit scheine die Wirkung solcher Klagen auch in Deutschland ausgetestet zu werden, wie Marcellus Puhlemann, der neben Stephan Malinowski (University of Edinburgh) mehrere Mandanten gegen Angriffe des „Hauses Hohenzollern“ vertritt, aus eigener Praxis berichtete.

Um die Intensität und das Ausmaß rechtlicher Schritte gegen missliebige Äußerungen von Historiker:innen und Journalist:innen zu dokumentieren, haben die Düsseldorfer Juristin Sophie Schönberger und der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ein Hohenzollern-Klage-Wiki ins Leben gerufen.1 Viele der dort gelisteten Versuche, angebliche Falschdarstellungen gerichtlich untersagen zu lassen, blieben erfolglos.

Die Dokumentation der juristischen Anstrengungen der Hohenzollern legt gleichwohl offen, dass für die Betroffenen der Ausgang der gerichtlichen Abwägung zwischen grundgesetzlich geschützter Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht oft nur schwer einzuschätzen ist und nicht alle Unterlassungsforderungen abgewehrt werden konnten. In dieser rechtlichen Grauzone, die sich auch aus einem noch ungeklärten Verhältnis zwischen Äußerungsrecht und Geschichtswissenschaft ergebe, sei das äußerungsrechtliche Instrumentarium, wie es der Historiker Stephan Malinowski (Edinburgh) beschrieb, ein erfolgreiches Mittel, um die öffentliche Wissenschaftskommunikation zu behindern.

Wolfgang Schulz schlug daher einige argumentative Schneisen, um das juristische Dickicht besser zu durchdringen und öffentliche Äußerungen von Geisteswissenschaftler:innen zukünftig widerstandsfähiger gegen potentielle Klagen zu machen. Zunächst wies er auf verfassungsrechtliche Unterschiede hin zwischen einer Äußerung „nur“ als Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes und einer Äußerung, die unter die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG fällt und damit verfassungsrechtlich besonders geschützt sei. Dieser besondere Schutz der Wissenschaftsfreiheit beruhe auf der „Schlüsselfunktion, die einer freien Wissenschaft sowohl für die Selbstverwirklichung des Einzelnen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung“ zukomme, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat. [BVerfGE 35, 79 - Hochschul-Urteil] In den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit falle nach Auffassung von Schulz auch die Wissenschaftskommunikation nach außen – etwa in Presseinterviews.2

Wie weit in dieser Interpretation die Rechtspraxis und die rechtswissenschaftlichen Ansichten auseinanderfallen können, zeigte sich in der anschließenden Diskussion, in der Puhlemann darauf hinwies, dass die abmahnende Seite Äußerungen von Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit als nichtwissenschaftliche Äußerungen deklariere. Hintergrund dieses Vorgehens sei es, den besonderen Schutz der Wissenschaftsfreiheit zu umgehen. Schulz betonte in diesem Zusammenhang, dass es sich seiner Meinung nach um eine rechtsfehlerhafte Praxis handele, wenn die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse nicht als ein Akt der Wissenschaftsfreiheit gedeutet werde.

Die Wissenschaftskommunikation scheint in einem Dilemma zu stecken, folgt man den Ausführungen des Rechtswissenschaftlers, der mehrfach unterstrich, dass der rechtliche Schutz von Wissenschaftsfreiheit Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes benötige, die beispielsweise im Falle der Kunstfreiheit bereits vorlägen. Denn während es für die Kunstfreiheit klare Kriterien gäbe, würde es diese für die Wissenschaftskommunikation noch nicht in gleichem Maße geben. Um die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Abwägung mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Interessen auszuloten, müssten „wissenschaftsspezifische Maßstäbe“ angelegt werden. Allerdings sei die Rechtsprechung derzeit noch nicht in einem wünschenswerten Maße dazu in der Lage, die Eigenlogiken des Faches zu berücksichtigen und beispielsweise die gängigen diskursiven Mechanismen der Wahrheitsfindung in Anschlag zu bringen. Derzeit würden, so hielt es Winfried Süß fest, „konfligierende Evidenzpraktiken“ das Geschehen bestimmen.

Klar formulierte Schulz, dass hier das Fach selbst Abhilfe schaffen müsse. Die permanente Konfrontation mit dem Vorwurf der falschen Tatsachenbehauptung beruhe auf einem Tatsachenbegriff, der der Geschichtswissenschaft fremd sei. Daher sei es Aufgabe des Faches, seine verschiedenen Arten und Abstufungen von Gewissheiten zu formulieren und das eigene operative Geschäft der Beweisführung offenzulegen, damit dieses in der Rechtsprechung berücksichtigt werden könne. Nur so ließen sich die Kriterien des Äußerungsrechtes, mit denen bislang auch Wissenschaftskommunikation bemessen wird, im Sinne der Wissenschaftsfreiheit modifizieren. Aufgabe sei es daher, wissenschaftliche Kriterien der Beweisführung transparenter zu kommunizieren, um sie für die Rechtspraxis anschlussfähig zu machen. Hieraus ergäben sich Möglichkeitsräume des Verfassungsrechtes, die im Sinne der Wissenschaftsfreiheit stärker zu nutzen wären.

Schulz verwies auf eine weitere verfassungsrechtliche Norm, die der Wissenschaft zu Gute käme. Das „Leitbild unbefangener Kommunikation“ solle verhindern, dass sich Menschen aus Sorge vor einem langwierigen Rechtsstreit nicht öffentlich äußerten. Gerichtliche Urteile, die dazu führen könnten, Menschen abzuschrecken, sich an der öffentlichen Kommunikation zu beteiligen, gelte es daher zu vermeiden. Erinnert sei hier an die lange Liste der vom Historikerverband dokumentierten rechtlichen Auseinandersetzungen der Hohenzollern und an die von Puhlemann bestätigten erfolgreichen Einschüchterungen, die daran zweifeln lassen, dass dieses Leitbild auch die derzeitige Rechtspraxis bestimmt.

Im zweiten Teil des Panels berichteten Historiker von Erfahrungen mit gerichtlichen Auseinandersetzungen. Leider waren die Referenten ausschließlich männliche Kollegen, wodurch eine weibliche Perspektive in der Diskussion fehlte.

Den Auftakt des zweiten Teils machte RÜDIGER HOHLS (Berlin), Gründer und Geschäftsführer des Vereins „Clio-online – Historisches Fachinformationssystem e.V.“, in dessen Trägerschaft u.a. das Portal H-Soz-Kult herausgegeben wird. Die auf dem Online-Portal veröffentlichten Rezensionen, Berichte und Essays bilden einen Nukleus des fachinternen Austausches und Verständigungsdiskurses. Rezensionskritiken von Autoren und Autorinnen würden zum Alltagsgeschäft gehören, mitunter werde dem Verein mit Rechtsmitteln gedroht. Mit den Regularien, die H-Soz-Kult nutzt, um auf Kritiken und Drohungen zu reagieren, konnten bislang jedoch die meisten Rechtsstreitigkeiten verhindert werden, wie Hohls darlegte. Autoren und Autorinnen, die sich mit einer Rezension ihres Buches oder in einer anderen Form falsch dargestellt sehen, würden dazu eingeladen, eine Replik zu veröffentlichen. H-Soz-Kult verstehe sich als eine Plattform des Wissenschaftsdialoges, das heißt auch, dass neben dem Angebot des konstruktiven Dialoges ebenso das Prinzip gilt, einmal veröffentlichte Texte nicht zu löschen. Auch auf diesem Feld kommunikativer Verständigung hat H-Soz-Kult, wie es scheint, erfolgreich die Strategie der Moderation etablieren können, die der Kommunikation innerhalb und auch außerhalb des Faches dienlich sein könnte und sollte.

Einen gänzlich anders gelagerten Fall schilderte VOLKHARD KNIGGE (Jena), der von einem Verfahren berichtete, in das er als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora involviert war. Im März 2011 verhandelte das Landgericht Berlin eine Klage des Buchenwald-Überlebenden Stefan Jerzy Zweig gegen Knigge. Zweig warf dem Historiker Persönlichkeitsrechtsverletzungen vor, weil dieser in der Öffentlichkeit davon gesprochen hatte, dass es im Zuge der Rettung des jungen Jerzy Zweig vor dem Transport nach Auschwitz zu einem „Opfertausch“ gekommen sei. Zweig fühlte sich durch diesen Begriff diffamiert, auch wenn er den schicksalshaften Umstand, dass an seiner Stelle ein anderes Kind auf die Deportationsliste gesetzt und in Auschwitz ermordet wurde, selbst autobiografisch bereits offengelegt hatte.3

Müssen sich Historiker gegen das Vetorecht der Zeitzeugen sprachlich immunisieren und führt die empathische Rücksichtnahme tatsächlich zu einer Reduktion des Sagbaren, wie es Knigge befürchtet? Die Geste des verständnisvollen Entgegenkommens ist kein Garant des konstruktiven Austausches, kann aber wohl als ein Gesprächsangebot verstanden werden. Deutlich macht dieser Fall, dass es nicht allein um eine diskursive Wahrheitsfindung geht, sondern immer auch um einen respektvollen und konstruktiven Umgang innerhalb des Faches und in der Außenkommunikation.

STEPHAN MALINOWSKI und WINFRIED SÜSS diskutierten in ihren Beiträgen verschiedene Aspekte des Streites um das Hohenzollernerbe. Während Malinowski unterschiedliche Formate in der zeithistorischen Fachkommunikation und ihre spezifischen rechtlichen Probleme in den Mittelpunkt stellte (etwa Gutachten, Interviews, Zeitungsbeiträge, juristische Lektorate vor Veröffentlichungen), analysierte Süß die Rückwirkungen rechtlicher Angriffe auf die Möglichkeiten von Zeithistoriker:innen, sich öffentlich zu äußern.

Die Relevanz der Außenkommunikation ist dem Fach immanent, denn es gehört gleichfalls zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft, historische Kenntnisse in die breite fachexterne Öffentlichkeit zu kommunizieren. Der Rechtsexperte Schulz erinnerte daran, dass es einen eklatanten Unterschied mache, ob innerhalb einer Expertenschaft kommuniziert oder in eine alltagskulturelle Öffentlichkeit hinein Wissen transferiert werde: Die jeweiligen Adressaten seien zu berücksichtigen, da davon auszugehen sei, dass bei den Rezipient:innen ein jeweils anderes fachliches Verständnis und Vorwissen vorhanden sei.

Das Fach hat solche Transferleistungen in den vergangenen Jahren zunehmend an Akteure ausgelagert, die sich im Bereich des Wissenstransfers professionalisiert haben. Diese Auslagerung zeigt jenes Grunddilemma, das sich in der Rechtspraxis augenscheinlich spiegelt: das noch häufig zu beobachtende zurückhaltende Interesse von Historikern und Historikerinnen, sich auf Rezipienten außerhalb der Fachcommunity einzulassen, ihre Äußerungen sprachlich und begrifflich so zu kommunizieren, dass das externe Publikum in die Lage versetzt wird, sich ein eigenes Urteil bilden zu können.

In der Schlussrunde wurde die Frage nach den Effekten der zunehmenden Verrechtlichung zeithistorischer Debatten noch einmal aufgegriffen. In seinem Resümee betonte Süß die Ambivalenz und die Offenheit der aktuellen Situation. Der Zwang, jede öffentliche Äußerung auf ihre potentiellen Rechtsfolgen zu prüfen, wirke in der Hohenzollerndebatte verengend, weil er diejenigen Erzählungen privilegiere, die potentiell nicht juristisch angegriffen werden könnten. Der intensive Rechtsgebrauch mache eine für die Hohenzollern unbequeme Debatte auch für kritische Stimmen unbequem. Im Ergebnis verlören kritische Positionen an Sichtbarkeit, so dass die Kommunikation über wichtige geschichtskulturelle Fragen auf unangemessene Weise beschränkt zu werden drohe. Die erfolgreiche Abwehr von Klagen, das Hohenzollernwiki und die deutliche öffentliche Kritik am Vorgehen der Hohenzollern würden jedoch, so der Potsdamer Historiker, zivilgesellschaftliche und fachkulturelle „Resilienzpotentiale“ zu Tage treten lassen.

Die juristischen Angriffe, so lässt sich resümierend festhalten, stellen eine Gefahr für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit dar, gleichwohl bieten sie auch eine Chance, das eigene Tun stärker zu reflektieren und juristische Evidenzpraktiken stärker von Praktiken der historischen Urteilsfindung zu differenzieren. Deutlich ist auch geworden, dass der Umgang mit äußerungsrechtlichen Angriffen in die universitäre Lehre gehört. Die Musen vor dem Kadi brauchen Unterstützung. Es braucht Strategien der Verteidigung; die Rechtswissenschaft und die Gerichte allein werden dies nicht übernehmen können.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Winfried Süß (Potsdam) / Martin Sabrow (Berlin/Potsdam)

Martin Sabrow (Berlin/Potsdam): Einführung

Wolfgang Schulz (Hamburg): Impulsvortrag: Äußerungsrecht und Geschichtsschreibung in juristischer Perspektive

Marcellus Puhlemann (Berlin): Impulsvortrag: Äußerungsrecht und Geschichtsschreibung in juristischer Perspektive

Rüdiger Hohls (Berlin): Rezensionskritik auf dem Rechtsweg. Das Beispiel H-Soz-Kult

Volkhard Knigge (Jena): Ein Mythos vor Gericht: Stefan Jerzy Zweig, das „Kind von Buchenwald“

Stephan Malinowski (Edinburgh): Die Hohenzollern und der Nationalsozialismus. Erfahrungen eines Gutachters

Winfried Süß (Potsdam): Der Streit um das Preußenerbe

Anmerkungen:
1 Vgl. https://wiki.hhu.de/display/HV/Hohenzollern-Klage-Wiki (16.11.2021).
2 Wolfgang Schulz / Keno C. Potthast, Wissenschaftskommunikation und ihre Förderung aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Wissenschaftskommunikation und social media zwischen Rechtsschutz und Regulierungsbedarf, hg. von Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Wissenschaftspolitik im Dialog, 15/2021, Berlin 2021, S. 11–33, insb. S. 18–19.
3 Zacharias Zweig / Stefan Jerzy Zweig, Tränen allein genügen nicht. Eine Biographie und ein wenig mehr, Wien 2005.


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