HT 2021: Dezentrierte Antike? Zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung von Städten und Regionen Ostroms in der Spätantike

HT 2021: Dezentrierte Antike? Zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung von Städten und Regionen Ostroms in der Spätantike

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Graumann-Kardan, Alte Geschichte, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Von einer dezentrierten (Spät-)Antike zu sprechen, erscheint zunächst widersinnig, lässt sich das Römische Reich durch eine strukturelle Ausrichtung zu einem, später mehreren kaiserlichen Zentren hin charakterisieren. Während Diokletian eine geradezu dezentralisierende Politik verfolgte, lässt sich in den folgenden Jahrhunderten augenscheinlich eine Rezentralisierung beobachten, die besonders Konstantinopel zum wichtigsten Zentrum werden ließ. Neben Konstantinopel gab es jedoch Orte, die Zentrumsfunktionen beanspruchen konnten und damit in Konkurrenz zu einem singulären Zentrumsort traten: Alexandria, Antiochia, Rom oder Karthago erfüllten solche Funktionen in Handel, Verwaltung, Bildung, Kultur und Religion.

Dass das Reich eine polyzentrische Struktur besaß, wurde auch von der Fachsektion „Dezentrierte Antike? Zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung von Städten und Regionen Ostroms in der Spätantike“ unter Leitung von Hartmut Leppin und Alexandra Hasse-Ungeheuer (beide Frankfurt) betont. Die Auswahl der in den vier Vorträgen vorgestellten Städte erwies sich als abwechslungsreich: Neben den beiden prominenten Vertretern Alexandria und Konstantinopel, waren mit Edessa und dem eher unbekannten Ashdod Yam zwei Städte vertreten, die man sicher nicht selbstverständlich als Zentrumsorte nennen würde. Im Fokus stand bei allen Vorträgen der Einfluss des Christentums.

Den Anfang machte HARTMUT LEPPIN (Frankfurt am Main) mit einer Darstellung von Edessa. Leppin machte deutlich, dass sich die Stadt aus der Perspektive des Kaisers und der Verwaltung wohl an der Peripherie des Reiches befand, sich die Stadt selbst und besonders die Elite von Edessa jedoch nicht unbedingt als peripher verstand. So sei die Stadt selbst reiches Handelszentrum gewesen und habe sich als treue christliche Stadt definiert. Auch im kulturellen Bereich habe Edessa eine Zentrumsfunktion besessen. Sprachlich dominiere Aramäisch, dessen in Edessa gesprochener Dialekt sich später als syrische Sprache durchgesetzt habe. Diese Entwicklung sei maßgeblich von der städtischen Elite getragen gewesen, die hierin ein mögliches Distinktionsmerkmal zu ihrer arabischen Umgebung gesehen habe. Der Stellenwert der Bildung in Edessa zeige sich in der Existenz verschiedener Schulen, deren jeweilige Namen in den Quellen (Schule der Perser u.a.) auf die überregionale Bedeutung Edessas hindeute. Diese Verbindung von Bildung und Aristokratie habe auch die Entwicklung des Christentums vor Ort geprägt. So habe der syrische Gelehrte Bardesanes in einem vornehmlich aristokratischen Umfeld in Edessa gewirkt, wie es so im Rest des Reiches einem Christen wohl nicht möglich gewesen wäre. Die christliche Bildung habe nach dem Fall von Nisibis einen Schub erhalten, als Ephräm der Syrer nach Edessa übersiedelte, bis Kaiser Zeno 487 die Schließung der Schule veranlasste. Der Bischof sei lange Zeit keine bestimmende Figur innerhalb der Gemeinde und stärker als andernorts von der städtischen Aristokratie abhängig gewesen. In Edessa habe sich ferner eine eigene, spezielle Form der Askese entwickelt und bis zur Amtszeit Rabbulas von Edessa sei die Einbindung in die kirchlichen Strukturen des Römischen Reiches eher schwach ausgeprägt gewesen. Eine Beziehungslinie in den Osten habe sich einerseits über die Apostel Thomas und Thaddäus ergeben, die in der Stadt hohe Verehrung fanden und über Thomas eine Beziehung zu Christen in Indien begründeten. Andererseits zeige sich die Bedeutung der syrischen Sprache unter anderem in Inschriften der Stele von Xi’an, auch wenn ein direkter Bezug zu Edessa hier unklar bleibe. Edessa besaß folglich als Zentrum eine eigene, grenz- und kulturüberschreitende Peripherie.

Eine Grenzüberschreitung der Fächer bot der zweite Vortrag von BALBINA BÄBLER (Göttingen), die über die Grabungsergebnisse in der antiken Stadt Ashdod Yam (gr. Azotos Paralios) berichtete. Die für Historiker bisher kaum bekannte Stadt lag an der Mittelmeerküste im heutigen Israel. Bäbler stellte die Funde aus der Basilika der Stadt vor, welche im 6. Jahrhundert durch einen Brand zerstört wurde. Einen besonderen Fokus legte Bäbler dabei auf die gefundenen Mosaike. Diese enthielten griechische Inschriften für verstorbene Diakone und Diakonninen, deren Gräber sich offenbar unter diesen Mosaiken befanden. Bemerkenswert sei die Art der inschriftlichen Datierung. So seien zwar die verwendeten Monatsnamen auch aus der Nachbarstadt Ashdod bekannt. Die Jahreszählung erfolge jedoch durch Ärenzählung, die auf römischer Millenniumszählung basieren müsse. Diese Art der Zählung sei in dieser Zeit nach bisheriger Erkenntnis in der Region einzigartig. Eben diese Ärenzählung sei später jedoch in Georgien und Armenien übernommen worden. Georgier hätten laut Bäbler zu den frühesten Pilgern und Klostergründern im Heiligen Land gezählt, auch frühe Schriftzeugnisse in georgischer Sprache ließen sich in Palästina finden. Bäbler betonte aber, dass diese frühen Klöster kosmopolitisch gewesen seien und daher Anziehungspunkte für Christen verschiedenster Herkunft waren. Spekulativ blieb, ob die Verwendung der Ärenzählung in Ashdod Yam eine Abgrenzung von der Umwelt, speziell zu Byzanz und damit eine Anbindung an Rom suggerieren könnte. Unter einigen Mosaiken befanden sich die Gräber von Hingerichteten, wobei Bäbler hinter den Toten Märtyrer vermutet. Neben diesen fänden sich jedoch auch Widmungen für Diakone, Diakonninen, sowie für asketische Frauen. Auch für Bischöfe seien einige Inschriften gefunden worden, insgesamt überwiege aber der Eindruck, dass Diakone und Diakonninen eine sehr viel bedeutendere Stellung innerhalb der Gemeinde eingenommen hätten, als andernorts. Besonders die relative Gleichstellung von Diakonninen mit ihren männlichen Gegenstücken sei auffällig. Die Bestattung von Heiligen innerhalb der Kirche deutet Bäbler als eine Art Anker für die Gemeinde, die die besondere Nähe zu den Verstorbenen gerade in Krisenzeiten gesucht habe. So ließen sich auch einige im 6. Jahrhundert ausgehobene Gräber in diesem Kontext deuten, handle es sich bei den Toten aufgrund des Einsatzes von Kalkpulver doch vermutlich um Seuchenopfer. Bäbler charakterisierte Ashdod Yam als Handelsstadt mit kultureller und religiöser Strahlkraft, die trotz der Existenz einer aktiven und sehr eigenständigen christlichen Gemeinde kaum Erwähnung in schriftlichen Quellen gefunden habe.

Im dritten Vortrag führte PHILIP FORNESS (Frankfurt am Main) nach Alexandria und von dort aus nach Nubien und Äthiopien. Forness verwies zunächst auf die verschiedenen Aspekte, die eine Zentrumsfunktion Alexandrias schon innerhalb des Reiches erkennen ließen und erläuterte dann ihren Einfluss auf die seit etwa 340 greifbaren Christianisierungsprozesse in Nubien und Äthiopien. Forness stellte die Entwicklung zunächst aus römischer Perspektive anhand von Athanasios’ apologia ad Constantium, in welcher dieser einen Brief Constantius’ II. an den Bischof von Aksum zitierte, dar. In diesem habe Constantius gefordert, Gregor von Kappadokien als Bischof von Alexandria zu unterstützen. Aus der historia ecclesiastica Rufinus’ von Aquileia erläuterte Forness die Episode rund um Frumentius, der nach Äthiopien verschleppt worden war, wo er später bedeutende Posten am Königshof erhalten hatte. Seinen Einfluss habe er genutzt, um die Errichtung christlicher Kirchen zu erreichen. Nach dem Tod des Königs habe sich Frumentius an Athanasios in Alexandria und nicht an die ihm vertraute Gemeinde seiner Heimatstadt Tyros gewandt. Als Letztes wurde die historia ecclesiastica Johannes’ von Ephesus herangezogen, der von drei Missionsreisen in den nubischen Raum berichtet. Die erste und zweite Missionsreise sei maßgeblich vom alexandrinischen Bischof Theophilos initiiert worden. Die dritte Missionsreise habe dann aber bereits innernubisch stattgefunden. So berichte Johannes von Ephesus von einem Briefwechsel zwischen den Königreichen Alwa und Nobatia, welcher eine Christianisierung mit Duldung des Patriarchen in Alexandria von Nobatia aus zur Folge gehabt habe. Diese römische Perspektive wurde durch den Versuch einer Binnenperspektive ergänzt, wobei der Mangel an überlieferten Schriftquellen Schwierigkeiten bereitet. Die Christianisierung habe die Literatur nicht erst in Äthiopien etabliert, jedoch als Katalysator gewirkt. Besonders wichtig seien in der Anfangsphase Übersetzungen aus dem Griechischen und Koptischen gewesen. Der Einfluss Alexandrias werde in den erhaltenen Schriftsammlungen aus dieser Zeit deutlich, etwa bei der äthiopisierten Schreibweise Kyrills von Alexandria der Qerǝllos. Die sogenannte Aksumitische Sammlung bestehe hingegen aus einer übersetzten Geschichte sowie liturgischen Texten der Kirche Alexandrias. Auch im nubischen Bereich ließen sich diese tendenziellen Bezüge nach Ägypten bei gleichzeitiger eigener literarischer Ausgestaltung fassen. Griechisch sei dort die Sakralsprache geblieben, Lesungen und Predigten allerdings in koptischer oder altnubischer Sprache durchgeführt worden. Bekannte nubische Übersetzungen aus dem Griechischen seien etwa ein größtenteils liturgisches Lektionar und die ursprünglich griechische Homilie in venerabilem crucem sermo. Abschließend hielt Forness fest, dass sich der Einfluss der alexandrinischen Kirche auf die Gebiete südlich des ersten Nilkatarakts zwar deutlich zeige, jedoch sei es beginnend in der Spätantike zu einer lokalen Ausgestaltung des christlichen Glaubens gekommen. In der Folge hätten sich sowohl Nubien als auch Äthiopien als lokale Zentren des Christentums etabliert.

Der abschließende Vortrag von ALEXANDRA HASSE-UNGEHEUER (Frankfurt am Main) widmete sich Konstantinopel, wobei sie einen Fokus auf die Regierungszeit Justinians I. legte, dessen rezentrierende Politik eher zu Abspaltungsprozessen und Dezentrierung beigetragen habe. Zunächst sei es Justinians Wille gewesen, Konstantinopel zum Zentrum der christlichen Welt werden zu lassen. So hätten etwa die Konzile von 536 bzw. 553 zahlreiche Bischöfe und Asketen aus Ost und West nach Konstantinopel geführt. Besonders präsent seien auch syrische Asketen, die hier den Dialog mit dem Kaiser suchten. Justinians Versuche, eine kirchliche Einheit zu erreichen, seien jedoch gescheitert und hätten gerade zur Polyzentrik, besonders im syrischen Raum, beigetragen. Weiterhin habe Justinian versucht, Konstantinopel als Bildungszentrum zu etablieren. Nicht nur ließe sich ein Eingreifen in die Lehrtätigkeit feststellen (Verbot für Häretiker als öffentlich bestellte Lehrer tätig zu sein), sondern es sei auch zu einer Beschränkung in der Juristenausbildung auf die Städte Rom, Berytos und eben Konstantinopel gekommen. Unabhängig davon, ob die platonische Akademie in Athen geschlossen wurde oder ob es lediglich Repressionen gab, führte Hasse-Ungeheuer zufolge auch hier der Wille nach Zentrierung zu einer Abspaltung, etwa durch die (zeitweise) Abwanderung von Philosophen nach Persien. Ein letzter Fokus lag auf der bedrohten Balkanregion. Hier sei mit Justiniana Prima die Schaffung eines neuen Zentrums versucht worden, um eine unmittelbarere Anbindung an Kaisertum und Konstantinopel zu erreichen. Dieses neue Zentrum sei als Erzbischofssitz in Konkurrenz zu Thessalonica, welches zu dieser Zeit stärker an Rom ausgerichtet war, gestärkt worden. Die Zentrumsfunktion sei hier nicht in der Tradition begründet, sondern im biographischen Bezug zum Kaiser selbst. Der Versuch, mit Justiniana Prima ein neues, exklusives, jedoch künstliches Zentrum mit Anbindung an den Kaiser und seine Stadt zu etablieren, sei jedoch schließlich gescheitert, genauso wie die rezentrierende Politik Justinians insgesamt.

In der Diskussion wurde deutlich, dass die Zentrumsfunktionen der jeweiligen Städte nicht auf den christlichen Bereich beschränkt werden sollten, sondern insbesondere wirtschaftliche Aspekte eine bedeutende Rolle spielten. Auch eine Präzisierung der Rolle des Christentums, besonders im Unterschied zum Heidentum, bei der Ausbildung von Städten als regionale Zentren wurde diskutiert. Ein möglicher Vorteil des Christentums zeigte sich dabei in einer höheren Mobilität der christlichen Religion, welche nicht nur eine beständige räumliche Ausweitung und Ausprägung regionaler Zentren förderte, sondern auch die Integration von Fremden in die Religion erleichterte.

Insgesamt eröffnete die Fachsektion spannende Perspektiven, welche die Komplexität des Sachverhaltes deutlich machten. Politische, religiöse, kulturelle, wirtschaftliche, infrastrukturelle und nicht zuletzt sprachliche Aspekte müssen in ihrer Bedeutung untersucht und miteinander in Bezug gesetzt werden, um Städte als dezentrierte Zentren adäquat verstehen zu können. Die christiliche Perspektive als Leitfaden konnte insgesamt überzeugen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Hartmut Leppin (Frankfurt am Main) / Alexandra Hasse-Ungeheuer (Frankfurt am Main)

Hartmur Leppin (Frankfurt am Main): Edessa und seine Umgebung als kulturelles Zentrum der syrischen Welt in der Spätantike

Balbina Bäbler (Göttingen): Palästina und die Kaukasusregion in der Spätantike

Philip Forness (Frankfurt am Main): Alexandria und die kirchliche Geschichte Nubiens und Äthiopiens in der Spätantike

Alexandra Hasse-Ungeheuer (Frankfurt am Main): Konstantinopel und das Streben nach Zentralisierung kaiserlicher Macht