HT 2021: Das umstrittene Wir: Auf der Suche nach neuen Wegen zur historischen Erforschung von Kollektiven

HT 2021: Das umstrittene Wir: Auf der Suche nach neuen Wegen zur historischen Erforschung von Kollektiven

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Harry Enns, Geschichte, Universität Bielefeld

Die deutsche Historiographie des 19. Jahrhunderts, so die in der Geschichtswissenschaft heute weit verbreitete Auffassung, war eine dem Nationalstaat bzw. der Nation verpflichtete – und bei diesem Befund handelt es sich nicht um eine neutrale Feststellung, sondern um eine Problemanalyse. Was und wer ist eigentlich gemeint, wenn man von „den Deutschen“ spricht? Daran schließt sich die grundsätzliche Frage an, wie Kollektive überhaupt – sowohl in der Gegenwart als auch der Vergangenheit – konstruiert werden können und dürfen: Ist es legitim, von „den Römern“ und „den Germanen“ (oder welcher Gruppe auch immer) zu sprechen? Mit welchen Kategorien und Kriterien darf man Kollektive konstruieren? Für die kritische Geschichtsschreibung stellt sich die praktische Frage, wie sie kollektive Subjekte zu denken, konstruieren, historisieren und zu (be-)schreiben hat. Dieser Denkaufgabe hat sich die Sektion „Das umstrittene Wir“ gewidmet.

In ihrer Einführung wies LISA REGAZZONI (Bielefeld) auf eine zweifache Falle hin, der die Geschichtswissenschaft in ihrem Schreiben über Kollektive auszuweichen habe: Einerseits sei da der „sprachphilosophische Nominalismus“, der Kollektivnamen nur als zu dekonstruierende Sprachkonventionen begreife; anderseits dürfe man auch nicht einem „naiven Realismus“ verfallen, der Kollektividentitäten essentialistisch als real existierende Größen begreife. Ersterer mache die Geschichtsschreibung zu einem rein negativen Unterfangen, in dem es nur um die Analyse von Imaginierungsprozessen und Dekonstruktion gehe, während letzterer heutzutage vor allem von populistischen und rechtsextremen Bewegungen beansprucht werde, die auch das Potenzial zur Gewalt in sich trügen.

Strömungen wie der Postkolonialismus und auch die Kritik an Nationalnarrativen machten es notwendig, das Schreiben über Kollektive neu zu (über-)denken. Wenn historisches Denken aus der gesellschaftspolitischen Situation der Gegenwart Fragen an die Vergangenheit stelle, so Regazzoni, müsse die Geschichtswissenschaft sowohl identitären Geschichtsbildern als auch dem Anstieg neuer historische Kontinuität beanspruchende Kollektive kritisch gegenüberstehen – historisches Denken und Schreiben über Kollektive sei etwas, für das Historiker Verantwortung übernehmen müssten (wer kommt zur Sprache, wessen Geschichte wird erzählt?). Dass aus dem Moralempfinden der Gegenwart heraus an den Anfang von (National-)Geschichten oftmals ein undifferenziertes „Wir“ rücke, wodurch die Vergangenheit zu einer politisch motivierten Projektionsfläche eines abstrakten Universalismus werde, zeigte Regazzoni u.a. an Patrick Boucheron, der seine „Histoire mondiale de la France“ mit dem Cro-Magnon-Menschen beginne.

Der kategoriale Versuch, den exkludierenden Begriff der Kollektividentität zunächst durch dessen Pluralisierung, dann durch Konzepte wie „Hybridität“ oder „Zugehörigkeit“ bzw. „belonging“ zu überwinden, könne nur dann gelingen, wenn diese theoretisch-methodisch fundiert würden und nicht lediglich als Platzhalter für „Identität“ dienten. Lisa Regazzoni endete mit der Feststellung, dass Geschichtswissenschaft nicht neben den gesellschaftlichen (Identitäts-)Diskursen existiere, sondern gesellschaftspolitisch und auch ethisch an der Selbstvergewisserung der Gegenwart und auch der Zukunftsorientierung mitwirke. Gerade deshalb sei es für Historiker wichtig, die Frage noch Identifikationskriterien und Fremdheitsmarkern zu stellen, die ja die Darstellung eines Kollektivs als Subjekt einer Geschichte bedingten.

Ergänzt wurde der von Lisa Regazzoni betonte ethisch-politische Aspekt durch das von ARNDT BRENDECKE (München) formulierte „zeichentheoretische Problem“, dem sich das Schreiben, Reden und Erzählen von Kollektividentitäten nicht entziehen könne. Der Grund dafür liege in dem Gebrauch von Sprache: Personalpronomen bezeichneten Individuen und Gruppen, die durch Adjektive qualifiziert und unterschieden werden könnten; durch die Erzählung kämen Zeitsequenzen dazu, die eine Transformation alles Bedeutsamen mit sich brächten, wodurch eine Spannung zwischen stabilen Bezeichnern und sich verändernden Bezeichneten entstehe. Festgelegte Bezeichner und Identitäten würden einem Fixierungsbedürfnis entsprechen, das dem Wandel etwas Festes entgegensetze.

Im Falle von Individuen diene der Name als ein solcher Fixpunkt. Natürlich würde die entsprechende Person aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und wahrgenommen werden – der Bezeichner für das, was für alle Beteiligten unterschiedlich sei, bleibe jedoch gleich. Für Brendecke ist ein Name – die Setzung eines fixen Bezeichners – der Preis, der für die Aufrechterhaltung von Sinn im Vergänglichen zu zahlen sei. Das gelte auch für kollektive Identitäten: Geschichte als sich sprachlich ausdrückende Vergangenheitswissenschaft könne sich diesem Geschäft nicht entziehen; als Nutzerin von Bezeichnern könnte die Geschichtswissenschaft gar nicht anders, als (Kollektiv-)Identitäten zu konstruieren. Brendeckes Anliegen war es, zu diskutieren, wie dieses Tun schärfer beobachtbar und damit stärker kontrollierbar werden könne. Abschließend räumte Brendecke ein, dass er sich auch als Frühneuzeithistoriker diesen Fragen nicht entziehen könne; denn auch wenn sein Forschungsgegenstand bereits politisch abgeklungen sei, so bleibe die Vormoderne doch der Ankergrund vieler (problematischer, weil wenig ambiguitätstoleranter und eurozentristischer) Anfangserzählungen, die immer noch wirkmächtig seien.

Anders als seine beiden Vorredner näherte sich VALENTIN GROEBNER (Luzern) dem Problem nicht politisch-ethisch oder (zeichen-)theoretisch, sondern historisch-genealogisch. Aufgrund der Beschaffenheit des Gegenstandes der Geistesgeschichte arbeite diese nicht mit der Kategorie der Identität, referierte Groebner den romanischen Philologen Erich Auerbach. Identität entstamme nämlich der Disziplin der Logik aus dem 12. Jahrhundert und bedeute die vollständige Übereinstimmung zweier Größen. Seine moderne Bedeutung habe dem Begriff der Sozialpsychologe Erik Erikson verliehen, der Identität als subjektive Selbstdefinition und individuelle Weiterentwicklung definierte, womit diese zu einer Formel für die eigene Herkunft, zu einer Kampfressource und einem Versprechen auf Teilhabe geworden sei. In den 1970er-Jahren wurde der Begriff von links, in den 1990er-Jahren dann von rechts besetzt.

So sei Identität eines dieser Wörter, die sich von einem praktischen Alleswerkzeug in ein Problem verwandelt hätten; auf der einen Seite könne es die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben, auf der anderen Seite zerfalle es bei der (heutigen) Anwendung in sich widersprechende Einzelteile. Identität sei unscharfes Wir-Sagen sowie ein Einteilungssytem: Große Dinge forderten nicht ein „Ich“, sondern ein „Wir“, womit zugleich Zugehörigkeit und Besonderheit versprochen werde; die Macht dieses Wir beruhe darauf, dass die meisten (mit-)gemeinten vorher nicht gefragt würden.

Die Konstante eines Kollektivs, so folgerte Groebner mit dem Ethnologen Frederick Barth, bestehe in dessen Abgrenzungsarbeit. Der Aushandlungsprozess dieser Abgrenzung verändere sich ständig, sie selbst aber bleibe: „Wir“ formuliere immer auch einen gemeinsamen Feind, es sei Kränkungsgemeinschaft und Selbstverbesserungsprojekt. Identitätspolitik sei deshalb auch immer das, was ja die Anderen betrieben, während man selbst die Dinge einfach nur so benenne, wie sie sind. Historisch gesehen funktioniere Identität aber so.

Was aber, so schien PHILIPP THER (Wien) in seinem Beitrag zu fragen, wenn man das kollektive Wir nicht historisch, sondern soziologisch denkt? Ther schlug das Forschungsdesign des polnischen Soziologen Stanisław Ossowski als wegweisend vor, der eine Mischung aus beobachtender Feldforschung und sozialwissenschaftlichen Interviews betrieb, die sowohl die Biographien als auch die Sitten und Gebräuche der Interviewten berücksichtigten. Ossowski verstehe „Wir und die anderen“ gerade nicht binär, sondern unterschied verschiedene Zuwanderergruppen (in seinem Forschungsfeld Schlesien), sodass ein sich dynamisch veränderndes Kollektivkonglomerat entstehe – von oben anordnen könne man eine gemeinsame Identität nicht. Historiker täten gut daran, soziologische Arbeiten (wie z.B. die von Ossowski) nicht zu ignorieren. Soziologen wie Roger Brubaker würden Kollektive als das Ergebnis diskursiver Prozesse begreifen; mit Lutz Niethammer stellte sich Ther jedoch gegen den Begriff der Identität.

Für Ther ist die Verwendung des Identitätsbegriffs problematisch, suggeriere ja bereits der Wortsinn ein identisch sein. Stattdessen biete sich die aktive Variante der Identifikation an, die eine aktive Annäherung an ein Objekt beinhalte, jedoch nicht eine Einheit mit diesem voraussetze (hier liege schließlich auch der Unterschied zwischen Assimilation und Integration). Ein zentrales Problem der Integrationsforschung, so Ther, liege in deren Fixierung auf Diskursen, also auf dem Gesagten, denn Menschen äußerten sich oft widersprüchlich. Die Bekundungen vieler Deutscher, dass Integration sehr wichtig sei, gehe oftmals mit einem nicht entsprechenden Handeln einher (man bemühe sich nicht aktiv um eine gelingende Integration), während Menschen mit Migrationshintergrund sich teilweise skeptisch gegenüber der gesellschaftlichen Integration äußerten, diese jedoch mit ihrem Handeln (Häuserbau, eine bessere Zukunft für die Kinder) angingen.

Einen wichtigen Orientierungspunkt für die weitere Forschung biete die Soziologie Georg Simmels, vor allem deren scharfer Blick auf asymmetrische Machtverhältnisse. Auch wenn Menschen manchmal – oftmals unter Druck und Zwang – kollektiv handeln und somit scheinbar dasselbe tun würden, betonte Ther doch das individuelle Handeln sowie die damit einhergehende individuellen Erfahrungen des Einzelnen. Auch wenn es beispielsweise „die Flüchtlinge“ als rechtlich-politisches Konstrukt gäbe, würden doch alle Flüchtlinge – die sich selbst nur selten als Wir-Gruppe begreifen würden – ihre ganz eigenen Erfahrungen machen und handelten individuell. Makroprozesse wie massenhafte Flucht durch individuelle Erfahrungen aufzubrechen, sei die Forschungs- und Schreibstrategie, der sich Ther verschrieben habe.

Ganz im Sinne der Aufklärung, so referierte LEVKE HARDERS (Innsbruck) im Anschluss den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, seien Diskussionen über Rassismus und Kolonialismus keine identitätspolitischen Nebenschauplätze, sondern humanistisch-universalistische Fragen, die uns alle beträfen. Mit dem Verweis auf Martina Kessel machte Harders jedoch darauf aufmerksam, dass das Denken der Aufklärung Identitäten immer binär und als ungleich konzipiert und dadurch Ungleichheiten produziert habe, die immer noch Institutionen, Handlungsstrukturen und Denkmuster prägten. Harders warf die Frage auf, wie man nun Akteure und Kollektive untersuchen könne, ohne diese Ungleichheiten zu reproduzieren.

Denn zu oft passiere es, dass der Forschungsgegenstand (Strukturen, Diskurse, Subjekte, Gruppen) eben nicht als gemachte Konstruktion wahrgenommen werde. In ihrer eigenen Forschung nutzt die Migrationshistorikern Harders das Konzept der Zugehörigkeit („belonging“), das im Gegensatz zur Identität die Situiertheit, Pluralität und Veränderbarkeit von Zugehörigkeiten in den Fokus rücke. Für Harders ist „belonging“ immer auch „doing belonging“. Zugehörigkeit werde nämlich dynamisch-prozessual hergestellt und sei damit veränderbar. In der historischen Analyse könnten so unterschiedliche Zugehörigkeiten untersucht werden, wobei auch unterschiedliche soziale Positionierungen berücksichtigt würden, was den pluralen Charakter von Zugehörigkeit(en) deutlich mache.

Auch wenn Zugehörigkeit für die Geschichtswissenschaft noch methodisch-theoretisch fundiert werden müsse, handele es sich bei dieser um ein nützliches Instrument, um Zugehörigkeiten zu untersuchen, ohne dabei nationale oder ethnische Identitäten vorauszusetzen. Wichtig ist Harders, Zugehörigkeit nicht als Platzhalter für Identität (oder andere exkludierende Vereinnahmungen) einzusetzen. Auch dürften historisch gewachsene Differenzierungen nicht vernachlässigt werden, weshalb Harders „belonging“ mit einem intersektionalen Ansatz kombiniert. Auf diese Weise ließen sich historische Individuen und Kollektive untersuchen und beschreiben, ohne gemachte Identitäten zu reifizieren.

In der anschließenden ca. 50-minütigen Diskussion wurden die unterschiedlichen vorgetragenen Positionen weiter vertieft. So wurde beispielsweise die Frage diskutiert, ob eine Wir-Formation notwendigerweise ein Feindbild entwerfen müsse, oder ob es möglich sei, Kollektive auch ohne Abgrenzung zu formieren; würden Gruppen mit einem Anspruch auf politische Teilhabe auftreten (bei der es um Zugang zu Ressourcen gehe, die den Mitgliedern gewisser Gruppen zugesprochen würden, anderen hingegen versagt blieben), sei das jedoch, so schienen sich die Redner einig, utopisch. Dass Appelle an ein Wir oftmals selbst mit Utopien arbeiteten, wurde an anderer Stelle deutlich; gerade nach gesellschaftlich-traumatischen Ereignissen sei es wichtig, ein gemeinsames (utopisches) Projekt zu beschwören. Gemeinsame Erfahrungen als gemeinsamer Nenner für Kollektivbildungen wurden ebenfalls angesprochen; auf diese aufbauend könne man über Kollektive schreiben, ohne nur im negativ-dekonstruierenden Modus zu bleiben – nur: könne man das umsetzen, ohne in Stereotype zu verfallen?

Betitelt war die Sektion als „Suche nach neuen Wegen zur historischen Erforschung von Kollektiven“ und als genau das erwies sie sich auch. Am Ende standen keine endgültigen Antworten, sondern unterschiedliche Perspektiven, die das Potenzial haben, zukünftige Forschung zu bereichern.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Arndt Brendecke (München) / Lisa Regazzoni (Bielefeld)

Valentin Groebner (Luzern): Zehn Minuten Identität. Wie funktionieren historische „Wir“-Erzählungen?

Levke Harders (Innsbruck): Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse. Exklusionen und Inklusionen in der (Migrations-)Geschichte

Philipp Ther (Wien): Kollektive Zuschreibungen und individuelle Erfahrungen. Zum Verhältnis von Makro- und Mikrozugängen in der Geschichtswissenschaft


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