HT 2021: Deuten und streiten, suchen und finden: Neue Möglichkeiten der Kooperation zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft beim Aufbau digitaler Infrastrukturen

HT 2021: Deuten und streiten, suchen und finden: Neue Möglichkeiten der Kooperation zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft beim Aufbau digitaler Infrastrukturen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Elisabeth Klindworth / Jennifer Meyer, Landesarchiv Baden-Württemberg

In seiner Begrüßung verortete der Präsident des Landesarchivs Schleswig-Holstein, RAINER HERING (Schleswig), die Sektion zum Thema “Deuten und streiten, suchen und finden” in der langjährigen Tradition einer gemeinsamen Sektion der Archive und der Geschichtsforschung auf dem Deutschen Historikertag, welche eine wertvolle Gelegenheit des Austauschs und der näheren Beleuchtung der Chancen und Herausforderungen bei der Zusammenarbeit bietet. Auch GERALD MAIER (Stuttgart), Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg, betonte in seiner Einführung, dass beide Disziplinen eng zusammengehören. Es stehe außer Frage, dass sich die Archive als unverzichtbare Akteure der Forschungsinfrastruktur der Bundesrepublik beim Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) engagieren. Insbesondere werden sich die Archive im Konsortium NFDI4Memory der Herausforderung widmen, wie Forschungsdaten über die verschiedenen Disziplinen der Kulturinstitutionen (Archive, Museen, Bibliotheken u.a.) hinweg vernetzt und übergreifend auswertbar gemacht werden können. Neue Lösungen für eine innovative Infrastruktur sollten von Archivar:innen, Historiker:innen und Bürgerforscher:innen gemeinsam und problembewusst gestaltet werden. Denn der Aufbau digitaler Infrastrukturen schafft neue Möglichkeiten sowohl für das Suchen und Finden als auch für das Deuten und Streiten. Konflikte bei Interpretationen sollten dabei nicht als Machtkämpfe ausgetragen werden, sondern die historischen Quellen (in den Archiven) als Nachweise in den Fokus nehmen. Archive und Geschichtswissenschaft können gemeinsam zu einer angemessenen Rationalität des Diskurses beitragen.

PETER HASLINGER (Marburg) ging in seinem Vortrag auf die Herausforderungen der digitalen Quellenkritik und die Chancen für eine vernetzte Forschungsdateninfrastruktur zwischen Geschichtswissenschaften und Archiven ein. Wichtig sei, so Haslinger, dass die digitalen Möglichkeiten der Technik nicht die Fragestellungen und Methoden der Forschung bestimmen, sondern umgekehrt. Im Rahmen der digitalen Quellenkritik stellen sich Fragen nach Nutzungsverläufen und der Abgrenzung von Einzelquellen, nach Provenienzen und digitalen Objektbiografien. Angesichts der digitalen Materialität von Quellen wird neu diskutiert, was unter Echtheit und Authentizität verstanden werden kann.

In der Erfahrungswelt des Internets und insbesondere der sozialen Medien seien historische Inhalte sehr präsent. Eine Sensibilisierung für die geschichtspolitische Voreingenommenheit der Marktmechanismen unterliegenden Online-Angebote finde jedoch kaum statt. Vor diesem Hintergrund forderte Haslinger, die Vermittlung von medialer Kompetenz und Recherchekompetenz stärker in der Ausbildung von Historiker:innen zu verankern. Es sei Aufgabe der digitalen Quellenkritik, Handlungsempfehlungen zu rechtlichen und forschungsethischen Fragen, insbesondere der Algorithmisierung, zu geben und Datenmodelle zu entwickeln, die auch das Nichtwissen oder Mehrdeutigkeiten darstellen können.

Haslinger plädierte dafür, Kompetenzen und Leistungen im Bereich der digitalen Geschichtswissenschaften in der historischen Forschung und Ausbildung stärker anzuerkennen, beispielsweise im Bereich der Promotionen. Bei der Förderung von Data Literacy und Forschungsdatenmanagement an den historischen Instituten seien die Archive wichtige strategische Partner.

Der zweite Vortrag von DANIEL FÄHLE (Stuttgart) und HARALD SACK (Karlsruhe) wechselte zur Perspektive der Archive. Fähle erläuterte, dass es die Hauptaufgabe der Archive ist, die digitale Datengrundlage für die Forschung zu erweitern und eine zeitgemäße Informationsinfrastruktur aufzubauen, welche die Analyse, Anreicherung und Auswertung großer archivischer Datenmengen ermöglicht. Voraussetzung für einen “digitalen Werkzeugkasten” zur Forschung mit Archivgut sei die Umsetzung der inzwischen kanonischen FAIR-Prinzipien für eine adäquate Datenqualität, Interoperabilität und Rechtssicherheit in Bezug auf Nachnutzungsrechte. Um den Einsatz innovativer Forschungsmethoden zu ermöglichen, werden nicht nur Digitalisate, sondern auch durchsuchbare Volltexte benötigt. Darüber hinaus müssen Archivdaten in einem semantischen Datenformat (RDF) angeboten werden. Das Archivportal-D solle zum zentralen NFDI4Memory Data Space werden, an den weitere Services für Historiker:innen über Schnittstellen angebunden werden können. Im Gegenzug müssen Historiker:innen die notwendigen Data Literacy-Fähigkeiten dafür entwickeln.

Sack zeigte im Anschluss anhand von Beispielen auf, wie aus historischen Forschungsdaten Wissen extrahiert und durch Wissensgraphen zugänglich gemacht werden kann. Auf Machine Learning bzw. Deep Learning basierende Verfahren der automatischen Texterkennung und der Bilderkennung werden bereits seit einigen Jahren eingesetzt, um die archivische Erschließung zu erweitern und zu verbessern. Auch, wenn noch nicht alle Herausforderungen der Erkennung historischer Handschriften und Gegenstände gelöst sind, bieten diese Verfahren ein sehr großes Potenzial für Archive. Die semantische Analyse und Repräsentation von Archivdaten mittels Ontologien und Wissensgraphen ermöglicht Visualisierungen und die Implementierung einer semantischen, entitätenzentrierten Suche, die auch das “Stöbern” in Datenbeständen und die Anzeige inhaltsbasierter Empfehlungen unterstützt.

CLEMENS REHM (Stuttgart) leitete seinen Vortrag mit einer Einordnung der vom Bundesfinanzministerium angestoßenen Transformation der Wiedergutmachung von NS-Unrecht in das weite Umfeld der transitional justice ein. Daran anschließend zeichnete er nach, wie die Idee einer Zusammenführung aller Wiedergutmachungsakten und -unterlagen von deutschen Bundes-, Landes- aber auch Kommunalverwaltungen dabei als eine wichtige geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Maßnahme entwickelt wurde. Um diesen sachthematischen Zugang zu realisieren, ohne dabei das archivische Provenienzprinzip zu verletzen, setzte sich bei den Besprechungen zwischen dem BMF, dem Bundesarchiv und den Landesarchivverwaltungen eine digitale Lösung mit dem Archivportal-D schnell durch. Nach dem Vorbild des Themenportals „Weimarer Republik“ sollen in den kommenden Jahrzehnten digitalisierte Archivalien und Erschließungsinformationen aber auch nicht-archivische Inhalte wie kontextualisierende Hintergrundinformationen in einem Themenportal „Wiedergutmachung“ bereitgestellt werden. In seiner Präsentation ging Rehm ebenfalls auf die Herausforderungen des Vorhabens am Beispiel von Entschädigungsverfahren ein. Nicht nur seien solche Akten aufgrund ihrer sehr hohen Anzahl und ihres seriellen Charakters in der Regel nur flach erschlossen, viele seien noch gar nicht von den Entschädigungsbehörden den zuständigen Archiven abgegeben worden. Um den Desideraten der Forschung sowie den Bedürfnissen der Nachfahren der Opfer und Verfolgten gleichermaßen gerecht zu werden, müsse daher die derzeitige Datenaufbereitung verbessert und ergänzt werden, so Rehm. Dazu diene beispielsweise der Einsatz von Techniken der Künstlichen Intelligenz, wie dies gerade in der Abteilung Staatsarchiv Ludwigsburg des Landesarchivs Baden-Württemberg erfolgt.

Daran anschließend gab TOBIAS HERRMANN (Koblenz) Auskunft über den politischen und rechtlichen Rahmen dieses auf Jahrzehnte angelegten Vorhabens sowie auf die diversen Herausforderungen, die aufgrund der Beteiligung zahlreicher Archive und mehrerer Ministerien entstanden. Zu den wichtigsten Aufgaben des Bundesarchivs gehöre vor allem die archivfachliche Begleitung beim Aufbau des Themenportals sowie die Konzeption der technischen Umsetzung. Herrmann unterstrich ferner, das Portal solle weder als historische Darstellung fungieren noch Meistererzählungen liefern, sondern dazu dienen, archivische Quellen zur eigenen Auswertung zugänglich zu machen, Recherchen zu erleichtern und Hintergrundinformationen zum historischen Kontext, zum Archivgut selbst aber auch zu dessen aufbewahrenden Institutionen zu bieten.

Im zweiten Teil des Vortrages stellte MIRJAM SPRAU (Koblenz) dar, inwieweit das Vorhaben an einem vorigen DFG-Projekt zum Aufbau von sachthematischen Infrastrukturen im Archivportal-D anschließt, im Rahmen dessen das Themenportal „Weimarer Republik“ entstand. Beispielhaft zeigte Sprau die geographische und sachthematische Suche des Portals, die durch die Verschlagwortung der Archivalien ermöglicht wurde. Die Vergabe von Schlagwörtern mit einem vom FIZ Karlsruhe entwickelten Tool sei eine eigenständige archivische Arbeitsweise, zusätzlich zur Erschließung, gewesen und orientierte sich am kontrollierten Vokabular der GND. Anschließend zeigte Sprau wichtige Unterschiede zwischen den beiden Portalen und arbeitete die Herausforderungen für die Projektpartner heraus. Diese bestehen vor allem in der deutlich größeren Menge des zu bearbeitenden und bereitzustellenden Archivguts, den noch laufenden Erschließungsarbeiten sowie dem Schwerpunkt auf personenbezogenen Unterlagen. Eine besondere konzeptionelle Schwierigkeit liege schließlich im doppelten Ansatz, mit dem Themenportal zugleich die Recherche und Bereitstellung von Archivgut zu vereinfachen aber auch die historische Diskussion über die Wiedergutmachung insgesamt zu ermöglichen.

Abschließend beleuchtete THEKLA KLUTTIG (Leipzig) das Potenzial der Bürgerforschung – auch Citizen Science genannt – für die Archive und die (Geschichts-)Wissenschaft, zu der sie neben den klassischen Geschichts- und genealogischen Vereinen zahlreiche, unter dem Begriff „individuelle Forschung“ gefasste Initiativen rechnet. Nach einer kurzen Vorstellung der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Plattform „Bürger schafft Wissen“ zeigte Kluttig die Chancen von Crowdsourcing-Projekten am Beispiel der Kooperation zwischen dem Sächsischen Staatsarchiv und dem Verein für Computergenealogie e. V. (CompGen) zur Digitalisierung und Online-Erfassung der sog. „Kartei Leipziger Familien“, die biographische Daten zu rund 220.000 Leipziger Einwohnerinnen und Einwohner vom 16. bis Mitte des 19. Jahrhunderts enthält, auf. Trotz schwieriger Planbarkeit solle die Bürgerforschung mehr miteinbezogen werden, so Kluttig, da sie zur Verbesserung der Zugänglichkeit und der Auswertbarkeit von Quellen beitrage.

Die Vorträge boten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die anschließende, durch Rainer Hering moderierte Diskussion. Eine zentrale Frage war, an welcher Stelle die notwendigen Data Literacy-Kompetenzen in der Ausbildung der Historiker:innen untergebracht werden sollten. Haslinger führte aus, dass hierfür ein eigenes didaktisches Konzept benötigt werde, welches die gemeinsame Auswertung von analogen und digitalen Quellen lehrt. Hilfreich sei es, wenn neben den Hochschulen auch die Archive entsprechende Seminare und Hospitanzmöglichkeiten anböten.

Die Frage nach den benötigten Kompetenzen ist eng verknüpft mit der Frage, wie digitale Archivalien zugänglich gemacht werden können und in welcher Form sie genutzt werden sollen. Technische Lösungen für den Access-Bereich zu entwickeln, sei eine Aufgabe der Archivar:innen, erklärte Gerald Maier. Diese forderte er aber dazu auf, die Gesellschaft dabei einzubeziehen. Ein Ergebnis der Diskussion war, dass eine enge Zusammenarbeit im Bereich der Standardisierung und ein Dialog über die Frage nach der Authentizität von historischen Quellen in hohem Maße wünschenswert sind.

Aufgrund der Kürze der Zeit konnten nicht alle Fragen abschließend diskutiert werden. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der fruchtbare Austausch zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft kontinuierlich gepflegt werden sollte.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Rainer Hering (Schleswig) / Gerald Maier (Stuttgart)

Peter Haslinger (Marburg): Die Herausforderung der digitalen Quellenkritik und Chancen für vernetzte Forschungsdateninfrastrukturen zwischen Geschichtswissenschaften und Archiven

Daniel Fähle (Stuttgart) / Harald Sack (Karlsruhe): Perspektive „digitaler Werkzeugkasten“ für historische Forschung mit Archivgut

Mirjam Sprau (Koblenz), Tobias Herrmann (Koblenz) und Clemens Rehm (Stuttgart): Themencluster „Wiedergutmachung“ und Archivportal-D

Thekla Kluttig (Leipzig): Aufbau digitaler Infrastrukturen durch die Bürgerforschung: Perspektiven für Geschichtswissenschaft und Archive


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