HT 2021: Das Alte Reich und die Schweiz in globaler Perspektive

HT 2021: Das Alte Reich und die Schweiz in globaler Perspektive

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
digital (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Annika Bärwald, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität Bremen

Gab es einen colonialism without colonies und welche Formen nahm dieser an? Diese Frage wird seit einigen Jahren aus interdisziplinärer Perspektive nicht nur für die Schweiz gestellt. Dabei ging es bislang vor allem darum, wie ein solcher Kolonialismus analytisch greifbar ist und welche Bedeutung er für das Verständnis gegenwärtiger Gesellschaften hat.1 Wie die Beiträge der Sektion zeigten, lässt sich dieses Konzept auch für die Frühneuzeitforschung fruchtbar machen und regt zugleich zur Frage nach Möglichkeiten und Limitationen eines weit gefassten Globalitäts- und Kolonialismusbegriffs an. Die vier Vorträge zeichneten vielschichtige globale Verflechtungen des deutschsprachigen Raums, insbesondere mit Kolonialismus und kolonisierten Regionen nach. Ihnen gemeinsam war die Betonung der Rückwirkungen solcher Verflechtungen auf Mitteleuropa, die sich etwa in ökonomischen Verbindungen, Vorstellungen von anderen Weltteilen, Sammel- und Zirkulationspraktiken, aber auch in juristischen Diskursen zeigten.

REBEKKA VON MALLINCKRODT (Bremen) unterstrich in ihrer Einleitung, dass wirtschaftshistorische Forschungen dazu beigetragen hätten, die vermeintliche Provinzialität deutschsprachiger Gebiete in der Frühen Neuzeit infrage zu stellen. Sie hob dabei zum einen die globale Einbettung des Leinenhandels hervor, der durch Erhöhung der Kaufkraft dazu geführt habe, dass breiteren Bevölkerungsschichten koloniale Güter erschwinglich wurden. Zum anderen verwies sie auf aktuelle Studien, die den transnationalen Charakter europäischer Kolonialkompanien herausarbeiteten und damit die Vorstellung von Kolonialismus als einem genuin nationalen Unterfangen grundsätzlich in Zweifel zögen. Entgegen der Thesen Hans Ulrich Wehlers und Jürgen Osterhammels erscheine der frühneuzeitliche deutschsprachige Raum keineswegs mehr in einer von globalhistorischer Abstinenz geprägten Sonderrolle. Der grenzüberschreitende Austausch von Waren, Personen und Ideen relativiere die strikte Unterscheidung zwischen Kolonialmächten und Staaten ohne eigene Kolonien.

ULINKA RUBLACK (Cambridge) skizzierte in ihrem Vortrag die Netzwerke des Augsburger Händlers, Kunst- und Raritätensammlers Philipp Hainhofer. Diese erstreckten sich von Danzig, wo ein Bruder als Händler tätig war, über München als Residenz des bayerischen Königs und Frankfurt am Main als Messeort bis nach Amsterdam, einer aufsteigenden Handels- und Publikationsmetropole des frühen 17. Jahrhunderts. Hainhofer, so betonte Rublack, war – zusammen mit dem Übersetzer und Herausgeber Levinus Hulsius – eine entscheidende broker-Figur und verstand es durch sein Sammeln, Berichten über und Zirkulieren von Reiseberichten und Artefakten bei Kunstkennern Begeisterung für neue Raritäten zu wecken. Die miteinander verknüpfte Bedeutung und der wachsende ökonomische Wert von Raritäten und Reiseberichten seien dabei nach dem Konzept des Anthropologen Alfred Gell als „agentiver Nexus“ zu verstehen: In komplexe soziale Prozesse eingebunden, hätten Reiseberichte nicht nur repräsentative oder symbolische Funktion, sondern auch emotionale Reaktionen und kommerzielles Agieren ausgelöst.

Rublack verdeutlichte diese These am Beispiel der von Levinus Hulsius angefertigten und reich bebilderten Übersetzung eines niederländischen Reiseberichts von Gerrit de Veer. De Veer beschrieb darin ausführlich, wie die Mitglieder einer von 1594 bis 1596 stattfindenden Expedition auf der Suche nach einer Nord-Ost-Passage nach China auf der Insel Nova Zembla strandeten und wiederholten Angriffen von Eisbären ausgesetzt waren. In Hulsius' Übersetzung trat die gewaltsame Bezwingung der als äußerst gefährlich dargestellten Eisbären in den Vordergrund. Die zwischen Nützlichkeit und Unterhaltung angesiedelte Beschreibung wurde Hainhofer in der Folge zum Anlass, Eisbärenfelle aufzukaufen und bei seinen Korrespondenten aktiv ein sammlerisches Interesse an arktischen Artefakten zu befördern. Dies verweise, so Rublack, auf die Herausbildung neuer commodity frontiers und das Entstehen einer neuen Weltordnung, mit deren Folgen noch heute in Deutungskämpfen um Museumsobjekte gerungen würde.

RENATE DÜRR (Tübingen) ging in ihrem Vortrag auf das Verhältnis von globaler Wissenszirkulation und Aufklärung am Beispiel des zwischen 1726 und 1761 herausgegebenen Neuen Welt=Botts nach. Bei dem Welt=Bott, einer in fünf Bänden erschienenen Sammlung von Briefen, Auszügen und ganzen Schriften, handele es sich – nach der Interpretation von Dürr und Ulrike Strasser – um eine habsburgische, wenn nicht gar deutsche Form der Weltaneignung vor dem Hintergrund des Habsburger Reichs als globalem Akteur. Mit seinem Fokus auf andere Kontinente dezentriere das Werk das Bild Europas in der Welt. Intention des Herausgebers sei daher nicht nur gewesen, die Leserschaft zu einer stärkeren Teilnahme an globalen Transfers zu ermächtigen, sondern auch bestehende Aktivitäten deutschsprachiger Akteure im kolonialen Raum hervorzuheben. Es handele sich daher, so stellte Dürr zur Diskussion, bei dem Werk um den Ausdruck eines colonialism without colonies.

Sie illustrierte diese These am Beispiel jesuitischer Berichte von den Marianen, die Joseph Stöcklein, der Herausgeber der ersten drei Bände, an den Anfang des Welt=Botts stellte. Anhand von Berichten deutschsprachiger Missionare wurde hier die seinerzeit relativ unbekannte Geschichte der Kolonisierung und Mission auf den Marianen chronologisch erzählt. Die Wahl fiel wohl auch deshalb auf die Marianen, so Dürr, weil die Namensgeberin, die spanische Königin Maria Anna, eine Habsburgerin gewesen sei, die sich aktiv für die jesuitische Mission eingesetzt hätte. Der Anspruch auf Weltgeltung deutschsprachiger Akteure schlüge sich nicht zuletzt auch in dem Versuch einer Vereinheitlichung deutscher Begriffe und Übersetzung fremdsprachiger Wörter ins Deutsche nieder. Mehr als nur Projekt eines protonationalen Diskurses sei der Welt=Bott somit als Quelle für und Ausdruck von kolonialen Phantasien im Sinne Susanne Zantops zu verstehen.

SUSANNA BURGHARTZ (Basel) warf in ihrem Vortrag die Frage nach einem Schweizer Profitieren an der auf (militärischer) Gewalt basierenden transatlantischen und globalen Kolonialwirtschaft auf, die sie mit Sven Beckert als „Kriegskapitalismus“ charakterisierte. Burghartz zeichnete dabei zunächst knapp den Aufstieg Basels zu einem Textilhandelszentrum nach dem Dreißigjährigen Krieg nach, der von der protoindustriellen Seidenbandfabrikation zur erfolgreichen Indienne-Produktion führte. Letzterer war ein Baumwollstoff, der vielfach als Tauschprodukt im Sklaven- und Kolonialhandel eingesetzt wurde.

Im Weiteren fragte Burghartz danach, wie Basler Eliten an der Kolonialwirtschaft teilhatten und griff dabei drei Fallbeispiele heraus, die jeweils unterschiedliche Strategien verdeutlichten: Kolonialdienst für andere Nationen, kaufmännische Aktivität im Ausland sowie Kolonialdienst mit anschließender Investition des Verdienstes in die Basler Protoindustrie. Kolonialdienst und kaufmännische Tätigkeit, so strich die Vortragende heraus, mischten sich häufig, so auch im Fall Isaac Faeschs, der in niederländischen Diensten zum Gouverneur von St. Eustache und später Curaçao wurde, daneben aber auch mit Kolonialgütern und versklavten Menschen handelte. Ebenso wurde deutlich, dass von Basler kolonialen Netzwerken auszugehen ist, da sich etwa nachweisen lässt, dass der ehemalige Direktor der dänischen Afrikakompanie, Reinhard Iselin, in Basel als Bankmitinhaber Kredite für Plantagengründungen vergab. Überdies sei mit solchen Verbindungen nicht selten auch die Präsenz von versklavten Menschen im europäischen Hinterland einhergegangen. Dies sei etwa für den ehemaligen East India Company Angestellten und späteren Manufakturbesitzer Georg Friedrich Gaupp der Fall ist, der einen jungen versklavten Südasiaten nach Lörrach verschleppte.

Rebekka von Mallinckrodt schloss an die Versklavungsthematik an, indem sie danach fragte, wie Sklaverei im Alten Reich in juristischen Texten behandelt wurde. Sie räumte dabei ein, dass die legale Dimension nur ein Aspekt von Sklaverei sei, argumentierte jedoch, dass die rechtliche Komponente wichtig sei, um Versklavungspraktiken eindeutig nachzuweisen und ihren systemischen (und nicht nur zufälligen) Charakter zu belegen. So würden durch juristische Kommentare und ihre nachgewiesene Verwendung in der Rechtspraxis nicht nur die weit verbreitete Annahme einer automatischen Freilassung in deutschsprachigen Gebieten, sondern auch die ebenso häufig formulierte Vorstellung einer rechtlichen Grauzone widerlegt.

Wie Mallinckrodt ausführte, bezogen sich einflussreiche Texte von Juristen wie Samuel Stryk und Johann Gottlieb Heineccius aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert zumeist auf das römische Recht als subsidiäres Recht und bekräftigten die Legitimität der Versklavung von vermeintlich Ungläubigen und Kriegsgefangen. Heineccius definierte zudem unterschiedliche Grade der Unfreiheit, wobei er den schlechtesten Stand nur religiös oder ethnisch Fremden zuordnete. In den 1780er- und 1790er-Jahren vertraten die Juristen Ludwig Julius Friedrich Höpfner und Gustav Hugo unterschiedliche rechtliche Positionen – Höpfner argumentierte für die Gültigkeit des römischen Rechts, Hugo für die Anwendung des Rechts der Kolonien – doch hielten beide Sklaverei für einen anerkannten Rechtsstand im Alten Reich. Diese Sichtweise hätte, so Mallinckrodt, über die Gutachtertätigkeit von Rechtsgelehrten und die direkte Rezeption ihrer Texte nachweislich Eingang in die Rechtsprechung gefunden. Beachtenswert sei darüber hinaus, dass etwa bei Höpfner mit dem Begriff „Negersklaven“ eine, wenn auch unkommentierte, rassistische Kategorie eingeführt wurde. Sklaverei im Sinne des römischen Rechts, so werde aus den Texten deutlich, sei nicht nur Metapher oder Vergleichsmaßstab gewesen, sondern auch im frühneuzeitlichen Deutschland ein akzeptiertes Rechtskonzept und ein angewandtes Modell.

In der anschließenden Diskussion wurden einerseits vortragsspezifische Fragen nach möglichen Gründen der überproportionalen Teilhabe von Schweizern an kolonialen Unternehmungen oder der Wirkmacht von Rechtstraditionen diskutiert. Andererseits wurden auch übergreifende Fragen nach europäischen und nicht-europäischen Perspektiven, dem epistemischen Wert des colonialism without colonies Konzepts und nach dem Verhältnis von europäischer und Globalgeschichtsschreibung aufgeworfen. Die Beiträgerinnen merkten an, dass ihr Augenmerk auf Rückwirkungen läge, die Wahrnehmung deutschsprachiger Personen durch nichteuropäische Menschen in der Frühen Neuzeit aber noch kaum untersucht worden sei. Colonialism without colonies, so wurde formuliert, sei nicht als rein diskursiv stattfindender Kolonialismus zu verstehen, sondern zeige auch konkrete Teilhabe einzelner Akteure und darüber hinaus europäische, transnationale Akteursnetzwerke auf. Im Umkehrschluss könnten damit neue Perspektiven auf Kolonialgeschichte eröffnet werden. Ob lokal-globale Forschungsansätze als Schritt zur Provinzialisierung Europas oder vielmehr als Forschungsrichtung innerhalb der europäischen Geschichte zu verstehen sei, blieb in der Diskussion offen.

Insgesamt eröffnete die Sektion vielschichtige Blickwinkel auf globale und vor allem koloniale Verflechtungen des Alten Reichs und der Schweiz in der Frühen Neuzeit und deren Rückwirkungen auf Mitteleuropa. Die lange vermeinte Provinzialität deutschsprachiger Gebiete in Frage stellend, war die Sektion Ausdruck eines neuen, transnationale Vernetzung betonenden Verständnisses dieser Regionen. Dass dabei insbesondere kulturell-gesellschaftliche Ebenen, und nicht länger ausschließlich wirtschaftliche Verflechtungen, in den Fokus rückten, kann zum Teil als Nachholbewegung zu Forschungen zum Hochkolonialismus betrachtet werden, wo vergleichbare Studien bereits länger etabliert sind. Darüber hinaus bot die Sektion einen wichtigen Anknüpfungspunkt für Debatten über konkurrierende Kolonialismusverständnisse und machte deutlich, dass ein Analysefokus auf Staaten oder Kompanien als alleinige Akteure der Heterogenität und Verflochtenheit frühneuzeitlicher kolonialer Praxis kaum gerecht werden kann.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Rebekka von Mallinckrodt (Bremen)

Ulinka Rublack (Cambridge): “Philipp Hainhofers globale Welten”

Renate Dürr (Tübingen): „Nürnberg als Nullmeridian – Böhmen auf den Marianen: globale Wissenszirkulation und (proto-)koloniale Identitätsdiskurse in Joseph Stöckleins Neuem Welt=Bott

Susanna Burghartz (Basel): „Partizipieren am ,Kriegskapitalismus‘? Formen globaler Verflechtung der Basler Eliten im 18. Jahrhundert“

Rebekka von Mallinckrodt (Bremen): „Aktualisierung und/oder Transformation des Rechts? Ansichten deutscher Juristen zur Frage der Sklaverei im Alten Reich“

Anmerkung:
1 Vgl. Barbara Lüthi / Francesca Falk / Patricia Purtschert, Colonialism without Colonies: Examining Blank Spaces in Colonial Studies, in: National Identities 18, Nr. 1 (2015), S. 1–9.


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