Weibliche MigrationsErfahrungen

Weibliche MigrationsErfahrungen

Organisatoren
Francesca Weil, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Technische Univeristät Dresden; Jeannette van Laak, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
hybrid (Halle an der Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.09.2021 - 28.09.2021
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Von
Lisa Weck, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Unsere Vorstellung von Migration ist immer noch stark männlich akzentuiert. Dies hat unter anderem mit den Bildern zu tun, die wir medial vermittelt bekommen. Zugleich ist auch der Referenzrahmen, mit dem auf Migration und seine Subjekte geschaut wird, androzentrisch, sei es durch diejenigen, die betrachtet werden, oder jene, die betrachten. Dabei sind und waren gut die Hälfte aller Migrant:innen Frauen. Die (historische) Migrationsforschung operiert dabei zunächst mit bekannten Begriffen wie Flucht und Vertreibung, Emanzipation und Erfahrung, Wissen und Emotion, Akkulturation und Integration. Doch wie produktiv sind sie, wenn man sie explizit auf Frauen als migrantische Akteur:innen im 20. Jahrhundert anwendet? Kann man mit diesen Konzepten Frauen als Migrantinnen verstehen und ihr Handeln erkl ären?Unter Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht diskutierten die Teilnehmerinnen des Workshops verschiedene Facetten weiblicher Migration im 20. Jahrhundert und hinterfragten etablierte Begriffe, um diese im Ergebnis mitunter neu zu verorten.

Ausgehend von ihren gegenwärtigen Forschungsprojekten regten FRANCESCA WEIL (Dresden) und JEANNETTE VAN LAAK (Halle) im Auftakt an, Gender und Migration stärker zusammen zu denken, denn Frauen machten in Migrationsprozessen aufgrund virulenter Geschlechterrollen und -erwartungen spezifische Erfahrungen, aus denen sich wiederum spezifische Handlungs- und Gestaltungsspielräume ergeben würden. Francesca Weil zeichnete die großen Linien der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Frauen in der Migrationsforschung des 20. und 21. Jahrhunderts nach. Während die Anfänge im Zusammenhang mit den Fluchtbewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre, beispielsweise aus dem Iran, stünden, sei vor allem mit der Etablierung der Gender Studies in Deutschland seit den 1990er-Jahren eine Zunahme an Studien zu Frauen als Subjekte in Migrationszusammenhängen zu verzeichnen. Dennoch, und angesichts der Vielzahl von Studien zu migrierten Männern, scheint ihr die weibliche Migrationserfahrung in der Geschichtswissenschaft immer noch zu unterforscht. Jeannette van Laak verdeutlichte die Beschäftigung mit intellektuellen Rückkehrer-Ehepaaren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum einen, dass die Abwanderung aus dem Herkunftsland stark an die finanziellen und personellen Ressourcen der Migrationswilligen geknüpft ist, und zum anderen, dass der häufig erfahrene Statusverlust im Ankunftsland spezifische Kompensationsleistungen von Migrant:innen insgesamt erfordere. Diese aber seien bisher nur selten in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen thematisiert worden.

BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Gießen) behandelte in ihrem Beitrag über Varianten weiblicher Mobilität seit dem 19. Jahrhundert nicht nur zahlreiche Wanderungsbewegungen, sondern eröffnete auch die Diskussion über neue Forschungsperspektiven und -potenziale. Ausgehend vom Ansatz „Migration als Bewegung“ forderte sie die Korrektur des nach wie vor wirksamen dichotomen Verständnisses, nach welchem Männer mobil und Frauen sesshaft seien. Daran schließe sich die Neuschreibung von Migrationsgeschichte unter Berücksichtigung von Beziehungsdynamiken an. In einem folgerichtig nächsten Schritt müssten dann migrierende Minderjährige, deren Agency sowie die Auswirkungen von Bildung- und Erziehungsmaßnahmen auf Migrationsprozesse stärker in den Fokus rücken. Auch die Interdependenzen zwischen den Aufgebrochenen und den Dagebliebenen, zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit seien lohnenswerte Forschungsgegenstände. Bettina Severin-Barboutie plädierte zugleich dafür, auch die eigenen Bildbestände in Forschung und Lehre kritisch zu hinterfragen, würden damit altbekannte und überkommene Vorstellungen von Migrations- und Bewegungsprozessen reproduziert und ventiliert. In der anschließenden Diskussion wurde die Öffnung des Geschlechterbegriffs angeregt, um so auch Akteur:innen jenseits der binären Geschlechternorm in die Betrachtung einbeziehen zu können.

FRUSZINA MÜLLER (Leipzig) stellte am Beispiel unterschiedlicher Formen von Arbeitsmigration in der Geschichte der Pflege des 20. Jahrhunderts ihr neues Forschungsvorhaben zur Diskussion und machte damit zuvorderst deutlich, dass Pflegeberufe sowie körpernahe Dienstleistungen bislang dezidiert weiblich gelesen werden. Besonders die südkoreanischen Krankenschwestern, die im Rahmen von Anwerbeabkommen ab der Mitte der 1960er-Jahre in die alte Bundesrepublik kamen, um das bereits vorhandene Defizit an Fachkräften abzumildern, seien ein weitgehend unbekannter Aspekt in der bundesdeutschen Migrationsgeschichte nach 1945. Fruszina Müller zeigte, dass die Frauen mit hohen Erwartungen ankamen, die jedoch mit der Arbeitsrealität im Aufnahmeland kollidierten und in der Regel enttäuscht wurden, da man sie oft für Hilfs- und Reinigungsarbeiten einsetzte. Dieser Statusverlust war umso größer, als dass die Krankenpflege in Südkorea damals bereits akademisiert war, was weitreichende berufliche Kompetenzen im Herkunftsland einschloss, während ihre bundesdeutschen Kolleginnen eher als Helferinnen der Ärzteschaft agierten. Auch fehlende Sprachmächtigkeit und die Existenz von Ressentiments und Rassismen führten zur Unterschichtung der Migrantinnen. Trotz der unter Gastarbeiter:innen häufig anzutreffenden „downwards mobility“ sei es hier dennoch besonders lohnenswert, den Blick auf die Emanzipationspotenziale zu richten.

Im Beitrag STEPHANIE ZLOCHs (Dresden) standen die Erfahrungen der Angehörigen der sogenannten zweiten Generation im Mittelpunkt, wobei zunächst auf die Unschärfe des gängigen Begriffspaares hingewiesen wurde. So sind damit manchmal die im Aufnahmeland geborenen Kinder von Migrant:innen gemeint, mitunter aber auch noch jene, die als Kinder ankamen und einen Großteil ihrer Sozialisation im neuen Land erfuhren. Wichtig in diesem Zusammenhang sei, welche Akteur:innen den Begriff in welchem Kontext wie verwendeten, da damit bestimmte Interessen verbunden sein können. Die „zweite Generation“ sehe sich mit multiplen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. Diese seien das Produkt von mitunter spannungsreichen unterschiedlichen Zugehörigkeiten, die durch Integrations- und Assimilationsbestrebungen auf der einen und Selbstbehauptung und Bewahrung kultureller Identität auf der anderen Seite entstehen würden. Mitglieder dieser Gruppe seien so gewissermaßen „hybride“ Persönlichkeiten. Für Mädchen und junge Frauen ergeben sich laut Stephanie Zloch zudem noch einmal spezifische Chancen und Herausforderungen hinsichtlich Bildungsaussichten und Berufswahl, Familienleben und Partnerwahl sowie Religiosität. Schwierig jedoch stelle sich die Quellenlage dar. Möchte man den Erfahrungen, Emotionen und deren Deutungen von Minderjährigen der „zweiten Generation“ nachgehen, sei man in der Regel auf Zufallsfunde angewiesen.

Um die Bedeutung von Emotionen als Erinnerungsstabilisatoren in Erzählungen über die Flucht in Folge des Zweiten Weltkrieges ging es im Beitrag von SOPHIE SEELIGER (Leipzig). Den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung folgend, spielten Emotionen eine fundamentale Rolle bei der Vergegenwärtigung von Erlebtem. Am Beispiel von Erinnerungsberichten geflüchteter Frauen über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus konnte nicht nur gezeigt werden, dass diese Vertreibungen zum Großteil eine dezidiert weibliche Migrationserfahrung sind, sondern auch, dass sich Traumata einer erinnerungsstabilisierenden Wirkung entziehen. Als Exzesse verstanden, aus denen die Betroffenen nicht flüchten können, verweigern sie sich einer Integration in den bisherigen Erinnerungsschatz. Um traumatischen Erfahrungen auf die Spur zu kommen, habe sich die sprachliche Feinanalyse als besonders ergiebig erwiesen. In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem besprochen, in wieweit Historiker:innen mit diesen psychologischen Herausforderungen umgehen können und welches Erkenntnispotenzial in ihnen für die historische Migrationsforschung stecke.

Passend dazu referierte SOŇA MIKULOVÁ (Berlin) anschließend über die Rolle des Geschlechtes beim Erzählen über Gefühle. Von dem Anspruch geleitet, Migrations- und Emotionsgeschichte miteinander zu verbinden, stieß sie im Laufe ihrer Forschung unweigerlich auch auf Geschlecht als Analysekategorie. Sie zeigte anhand lebensgeschichtlicher Interviews zweier Frauen und eines Mannes zu den vielfältigen Verwerfungen durch den Zweiten Weltkrieg, dass es nicht nur Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie sie über ähnliche Erlebnisse und Erfahrungen berichten. Auch Emotionen wurden anders mitgeteilt. Bei der Untersuchung von Zugehörigkeitsgefühlen und wie sich diese in der Lebensgeschichte artikulieren, stellte Soňa Mikulová fest, dass die Frauen oft ein nachhaltiges Gefühl der Heimatlosigkeit beschrieben, wohingegen die interviewten Männer sich selbst sowohl in ihrem Geburts- als auch im Ankunftsland verorten konnten.1 Nachdem Albrecht Lehmann 1983 die Bedeutung von Geschlecht für das Erzählen der eigenen Biografie herausgearbeitet hat,2 ist es nur plausibel, dass das Erleben und Verarbeiten von Emotionen und vor allem auch das Reden darüber divergiert. Die Diskutantinnen verwiesen im Anschluss noch auf die besondere Rolle von Oral-History- Interviews, die, zumal wenn der Interviewende von einem emotionsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse geleitet sei, auch therapeutische „emotion work“ sein können.

Den Auftakt zum dritten Panel machte FRANCESCA WEIL (Dresden). Sie stellte ihr Forschungsprojekt zu Formen von Emanzipation in Migrationszusammenhängen vor. Dies unternahm sie am Beispiel bekannter geflüchteter Jüdinnen im Nationalsozialismus. Ausgehend von einem fluiden Emanzipationsbegriff, nach dem jedes Individuum etwas anderes mit Selbstbestimmung und Unabhängigkeit verbinde, entwarf sie verschiedene Gruppen des Umganges mit Fluchterfahrungen. Dabei wurde deutlich, dass Emanzipation nicht nur politische und wirtschaftliche Aspekte, sondern ebenso gesellschaftliche, kulturelle und emotionswissenschaftliche Bereiche berühren kann. Die Skizzierung der verschiedenen Lebenswege von Akteurinnen wie der Schauspielerin Helene Weigel, der Kinderärztin Hertha Nathorff oder der Historikerin Gerda Lerner, die in unterschiedlichen Lebensphasen emigrieren mussten, zeigte, wie nachhaltig solche Brüche wirkten und wie sich die betroffenen Frauen damit zu arrangieren versuchten. Francesca Weil trat mit den von ihr vorgestellten Beispielen dafür ein, den Begriff der Emanzipation aus seiner allgemeinen Zuschreibung als Prozess der Befreiung von Abhängigkeit und Unmündigkeit sowie der Verwirklichung der Selbstbestimmung herauszuführen und ihn neu und breiter zu denken. Angeschlossen daran waren auch Überlegungen zu seiner Darstellbarkeit.

„Erfahrung hat Konjunktur“ – so leitete Jeannette van Laak den letzten Workshopbeitrag ein, in dem sie den Erfahrungsbegriff auf seine Bedeutung für die Migrationsforschung befragte. Ausgehend von den Überlegungen Reinhart Kosellecks 3, Albrecht Lehmanns und der Geschlechterhistorikerin Ute Daniel 4 unterbreitete sie das Angebot, Erfahrungen als unendliche Wissensressourcen zu begreifen, die nicht etwa, wie Soziolog:innen um Alfred Schütz 5 annehmen, im Aufnahmeland obsolet werden. Ganz im Gegenteil. Jeannette Van Laak führte aus, dass Immigrant:innen mitunter sogar über ein größeres kulturelles Kapital als die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft verfügten, bildeten sie doch im Migrationsprozess besondere „Antennen“ für die Erfordernisse, Chancen und Herausforderungen des neuen Landes aus. Diese sind zunächst eine Ressource für die Migrant:innen selbst, um sich im Aufnahmeland ein neues Leben aufzubauen. Dass sie darüber hinaus aber auch eine Ressource, ein Zugewinn für das Aufnahmeland darstellen, wird so bislang in den Öffentlichkeiten der Aufnahmegesellschaften kaum wahrgenommen. Zudem würden auch die migrationswissenschaftlichen Arbeiten immer noch allzu häufig von der Sesshaftigkeit als Selbstverständlichkeit, als historische Norm ausgehen, wenngleich Formen der Immobilität, so wie wir sie kennen, ein zeitgeschichtlich eher junges Phänomen seien.

In der Abschlussrunde wurde noch einmal auf die zu Tage getretenen Forschungsdesiderate verwiesen und aufgezeigt, dass zahlreiche Begriffe wie Emanzipation, Generation und Wissen im Zusammenspiel mit den Ergebnissen der historischen Migrationsforschung weiter zu entwickeln sind. Die gängigen Termini und Konzepte öffnen Interpretationsräume, die es lohnt, immer wieder am jeweiligen Gegenstand zu diskutieren. Darüber hinaus sollten unbedingt vermehrt Kinder und Jugendliche als migrantische Akteur:innen in den Fokus rücken. Um deren spezifischen Erlebnissen, Erfahrungen und Deutungen in Migrationsprozessen nachzuspüren, bedürfe es geeigneter Methoden und Quellen. Zugleich wurde angeregt, den Blick auch auf die Dagebliebenen zu richten, die zwar selbst nicht in Bewegung sind, deren Lebenswelt sich aber durch die Abwanderung und Zuwanderung ihrer Mitmenschen verändert. Vielleicht ist das aber auch schon längst Teil der Forschungspraxis, denn in der Regel erfolgt die Beschäftigung mit Migration aus der Perspektive des Herkunfts- oder der des Aufnahmelandes.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Jeannette van Laak (Halle), Francesca Weil (Dresden)

Bettina Severin-Barboutie (Gießen): Varianten weiblicher Mobilität seit dem 19. Jahrhundert – Potentiale eines Perspektivwechsels

Migration – Erfahrung – Emotion
Moderation: Maren Möhring (Leipzig)

Fruzsina Müller (Leipzig): Arbeitsmigration von Frauen in der deutschen Geschichte der Pflege

Stephanie Zloch (Dresden), Migrationserfahrungen der zweiten Generation/Erfahrungen der zweiten Migrantengeneration

Migration – Erinnerung – Emotion Teil 2
Moderation: Susanne Schötz (Dresden)

Sophie Seeliger (Leipzig): Emotion als Erinnerungsstabilisator bei der Untersuchung von Fluchterfahrungen am Beispiel geflüchteter deutscher Frauen 1944/ 45

Soňa Mikulová (Berlin): Erfahrung der Flucht, Vertreibung und Integration in oralhistorischen Narrativen der weiblichen Geflüchteten/Vertriebenen

Migration – Emanzipation – Wissen
Moderation: Sylvia Hahn (Salzburg)

Francesca Weil (Dresden): Weibliche Emanzipation und Migration. Das Beispiel geflüchteter jüdischer Akademikerinnen und Künstlerinnen (1933-1945)

Jeannette van Laak (Halle): Migration – Zwischen Wissen, Anwendung und Verarbeitung. Zum Phänomen des Erfahrungsbegriffs in der Geschichtswissenschaft

Anmerkungen:
1 In seiner kürzlich erschienen Menschheitsgeschichte konnte Andreas Kossert eindrücklich zeigen, dass Entwurzelung, der Verlust der Heimat, die zentrale Erfahrung von Flucht und Vertreibung ist. Siehe: Andreas Kossert, Flucht: Eine Menschheitsgeschichte, München 2020.
2 Siehe: Albrecht Lehmann, Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen, Frankfurt am Main / New York 1983.
3 Reinhart Koselleck, «Erfahrungsraum» und «Erwartungshorizont». Zwei historische Kategorien, in: Ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 2010, S. 349-375.
4 Ute Daniel, Erfahren und verfahren: Überlegungen zu einer künftigen Erfahrungsgeschichte, in: Jens Flemming u.a. (Hg.): Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geb., Kassel 2004, S. 9-30.
5 Alfred Schütz, Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch, in: Ders: Gesammelte Aufsätze. Studien zur soziologischen Theorie, DenHaag 1972, S. 53-69.


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