35. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

35. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Organisatoren
Sarah Thieme, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Martin Belz, Institut für Mainzer Kirchengeschichte; Markus Leniger, Katholische Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2021 - 21.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Sarah Thieme, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Martin Belz, Institut für Mainzer Kirchengeschichte

Rund 40 Wissenschaftler:innen aus Kirchengeschichte und Geschichtswissenschaft nahmen an der 35. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK) teil. Die Konferenz, die von den neuen Sprecher:innen, Sarah Thieme und Martin Belz, geleitet wurde, fand wie gewohnt in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn statt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Die diesjährige Generaldebatte widmete sich dem Thema „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35) – Katholizismus und Geflüchtete in historischer wie gegenwärtiger Perspektive.

Der kirchenhistorische Vortrag von DOMINIK HERINGER (Mainz) beschäftigte sich mit dem Rheinischen Reformkreis im 20. Jahrhundert. Den Hotspot des Kreises, dessen Hauptanliegen in einer größeren nationalen Selbstständigkeit der deutschen Kirche gegenüber Rom bestand, verortete Heringer im 1930 neugegründeten Bistum Aachen. Von dort ausgehend fanden die Positionen des Kreises und seine teils nationalsozialistischen Affinitäten in ganz Deutschland Resonanz. Infolgedessen kam es zu gesamtkirchlichen Gefechten um die Erneuerung der Kirche. Der Referent zeigte auf, dass Augustin Bea SJ eine bisher unbekannte Hauptrolle bei der kirchenamtlichen Überprüfung der Akteure spielte.

Eine Analyse von christlich-religiösen Erinnerungsorten fokussierte auf eine Geschichtsschreibung zweiten Grades, d. h. das Nachwirken von Kirchengeschichte in gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontexten. Am Beispiel der Dortmunder Kirche Heilige Dreifaltigkeit (1898) arbeitete LEA TORWESEN (Bochum) in ihrem kirchenhistorischen Vortrag zwei konkurrierende Erinnerungsschichten heraus: die Bedeutungszuschreibung als Arbeitergemeinde der Stahl- und Montanindustrie (Teil der Industriekultur) sowie die gegenwärtig wirkmächtigere Kodierung als sogenannte BVB-Gründungskirche, Stammkirche jener Mitglieder der Jünglingssodalität, die 1909 nach Auseinandersetzungen mit der Kirchengemeinde den Fußballverein Borussia Dortmund gründeten (Teil der Fußball-Fankultur). Erinnerungskulturelle Auswahlprozesse ließen sich auch am zweiten Fallbeispiel, dem Erinnerungsort „Essener Katholikentag 1968“ aufzeigen: Einen besonderen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis nehmen dabei die Zuschreibung als anders, besonders und turbulent sowie die medial tradierte Erinnerung an Protestplakate, Sprechchöre und Zwischenrufe ein. Diese Erinnerung stützt den Eindruck einer dauerhaften Protestprägung des Katholikentags, die sich jedoch in keinem der sechs Katholikentag-Foren auffinden lässt.

Im Anschluss stellte MAXIMILIAN KÜNSTER (Mainz) seine Studie zu Kriegserfahrungen und -deutungen katholischer Priesteranwärter im Zweiten Weltkrieg vor. Auf der Grundlage von 867 Feldpostbriefen Mainzer Seminaristen, die diese aus dem Kriegseinsatz an ihren Regens adressierten, sowie weiterer Quellenbestände zum Lehr- und Studienbetrieb in den Jahren 1933–1945 lassen sich die sozialen Prägungen und Deutungsrahmen der Seminaristen erheben. Wie Künster zeigte, war ihre Kriegsdeutung von den traditionellen Sozialisationen in Familie und Priesterseminar sowie von den bündischen Jugendverbänden und dem Gedankengut der NS-Bewegung beeinflusst. Erstere wurden im Besonderen in der Rezeption der hergebrachten Kriegstheologie deutlich, letztere durch eine „Vergemeinschaftung“ des eigenen Kriegsdienstes sowie die Interpretation des Deutsch-Sowjetischen Krieges als „antibolschewistischer Kreuzzug“.

SANDRA FRÜHAUF (Hamburg) stellte ihr geschichtswissenschaftliches Promotionsvorhaben über den Einfluss nachkonziliarer Priester- und Solidaritätsgruppen in der westdeutschen katholischen Kirche sowie im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Transformationen zwischen 1965 und 1989/90 vor. Die Priester- und Solidaritätsgruppen entstanden ab 1968 in westdeutschen Diözesen, um die Reformansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils umzusetzen und restaurativen Tendenzen entgegenzuwirken, waren bis 1970 in fast jedem Bistum vertreten und widmeten sich zunächst verstärkt innerkirchlichen Problemen sowie ab 1971 zunehmend politischen und gesellschaftlichen Themen. Um herauszufinden, mit welchen Protestformen die Ziele der Priester- und Solidaritätsgruppen – Demokratisierung, Humanisierung und Solidarisierung – umgesetzt werden sollten, konzeptualisierte Frühauf die theoretischen Analysemittel der Sozialen Bewegung und des (Anti-)Rituals und demonstrierte deren Anwendung exemplarisch am Treffen der europäischen Priestergruppen in Chur vom 5. bis 10. Juli 1969 und im Speziellen an der dort abgehaltenen Eucharistiefeier.

Die Aushandlung von Geschlechterkonzeptionen im DDR-Katholizismus in den ausgehenden 1940er- bis in die beginnenden 1970er-Jahre stellt ein noch zu wenig bearbeitetes Feld der Forschung dar – so die These von KATHARINA ZIMMERMANN (Tübingen). In ihrer Promotionsschrift untersucht sie daher, wie katholische DDR-Bürger:innen das Spannungsfeld von sozialistischer Politik und katholischer Lehre in Bezug auf Körper, Geschlecht und Sexualität in ihren alltäglichen Praktiken und Erfahrungen wahrnahmen. Zimmermann präsentierte das Forschungsdesign ihrer Arbeit und gab einen ersten Einblick in ihre Recherche, indem sie beispielhaft die Bedeutung von Flucht, Vertreibung und (sexualisierter) Gewalt nach 1945 im Hinblick auf das Verständnis von Geschlecht im DDR-Katholizismus analysierte.

ALEXANDER BUERSTEDDE (Hamburg) präsentierte sein geschichtswissenschaftliches Promotionsvorhaben zu Entwicklungen im Priesterbild und in der Priesterausbildung in der westdeutschen katholischen Kirche zwischen 1965 und 1989/90, die sich als Konflikte über Sakralität und Sakralisierung im Spannungsfeld von gesellschaftlichem Umbruch und nachkonziliarer Krise fassen lassen. Wurde in den Bistumsleitungen Mitte der 1960er-Jahre die Parole ausgegeben, nicht mehr Priester von gestern, sondern für morgen auszubilden, wich der anfängliche Reformeifer bald konservativen Eindämmungsversuchen, wie Buerstedde unter geschlechtergeschichtlicher Perspektive am Fall der Trennung der zuvor gemeinsamen Ausbildung von Pastoralassistenten und Priesterkandidaten im Erzbistum München und Freising Anfang der 1970er-Jahre ausführte. Ausblickend verwies er zum einen auf den Verlust stabiler Praktiken der Selbsttranszendenz (Hans Joas) im Untersuchungszeitraum, zum anderen auf erfolgreiche Strategien klerikalen Machterhalts trotz rapide rückläufiger Nachwuchszahlen. Daraus ergab sich die Frage, inwiefern der Abschied vom katholischen Milieu auch mit einer Verabschiedung des mit ihm verbundenen Priesterideals einherging.

DAVID TEMPLIN (Osnabrück) beleuchtete mit Blick auf das Beispiel Hamburg die Ausländermissionen der katholischen Kirche, die sich im Zuge der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren an zunehmend mehr Orten bildeten. Er betonte die Bedeutung der Missionen für Migrant:innen, da sie nicht nur im Sinne religiöser Orientierung wirkten, sondern u.a. über ihre Sozialbetreuung auch als soziale „Infrastruktur des Ankommens“ und Instanz der Vergemeinschaftung funktionierten. Gleichzeitig schilderte Templin die Konflikte und Aushandlungsprozesse über Fragen von Partizipation, finanzieller Unterstützung und Anerkennung migrantischer Strukturen, die sich insbesondere in den 1970er-Jahren entzündeten und an denen deutlich wurde, dass gesellschaftliche Debatten über Migration und Integration sich auch in der katholischen Kirche auf spezifische Weise artikulierten.

Der Dokumentarfilm „Friedland“ über das gleichnamige Erstaufnahme- und Grenzdurchgangslager in Niedersachsen, der unter der Moderation von Markus Leniger geschaut und diskutiert wurde, führte zum Thema der Generaldebatte. Sie thematisierte die Beziehung von katholischen Gläubigen wie der Institution katholische Kirche insgesamt zu Geflüchteten in gegenwärtiger und historischer Perspektive. In einem Dialog von Geschichtswissenschaft und Sozialethik wurde insbesondere nach den Motiven und (Glaubens-)Überzeugungen gefragt, die hinter christlichem respektive katholischem Engagement für Geflüchtete liegen, sowie nach Argumentationsstrukturen, die kirchliche Versuche der Integration und Aufnahmebereitschaft fundieren.

Im ersten Vortrag der Generaldebatte bestätigte MARKUS STADTRECHER (Ulm) am Beispiel der Integration der Geflüchteten und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg im Bistum Augsburg die Ausgangsthese, dass christliche Werte eine wichtige Motivation für eine Willkommenskultur darstellten. Daneben standen jedoch machtstrategische Interessen der Kirchenoberen, die versuchten, die neuen Gläubigen im Sinne ihrer Rekatholisierungsbestrebungen einzusetzen. Zugleich machte Stadtrecher deutlich, dass auch diese Migrationsbewegung seitens der Einheimischen von einem hohen Maß an Ablehnung geprägt war.

Ausgehend von den migrationsfreundlichen Positionen des kirchlichen Lehramtes, das Migrant:innen als Mitglieder der „Menschheitsfamilie“ weitgehende Rechte zuschreibt, wandte GERHARD KRUIP (Mainz) das bekannte Gedankenexperiment von John Rawls zur menschlichen Urzustandsgemeinschaft auf die globale Ebene an. Unter dem „Schleier des Nichtwissens“ würden sich die Urzustandsbeteiligten zwar für die Gründung von Staaten entscheiden, gleichzeitig aber für eine möglichst weitgehende Freizügigkeit und offene Grenzen plädieren. Die Anwendung dieser „idealen Theorie“ auf gegenwärtige Probleme der Migration verlange jedoch die Berücksichtigung von Zumutbarkeiten und möglichen negativen Folgen eines brain drain für die Herkunftsländer, so Kruip. Nach seiner Einschätzung liegt eine Erleichterung von Einwanderung zudem im wohlverstandenen Eigeninteresse der mitteleuropäischen Länder, die von einem starken demographischen Wandel geprägt sind.

In der nachfolgenden Diskussion zu beiden Vorträgen konnte zum einen das Augsburger Beispiel im Rahmen von Nachkriegskatholizismus und -gesellschaft kontextualisiert und mit anderen exemplarischen Fallbeispielen (u.a. aus dem Bistum Limburg) verglichen werden. Zum anderen ergab sich ein reger Austausch zu den Thesen Kruips, wobei insbesondere Chancen und Grenzen einer einwanderungsoffen gestalteten Politik im Zentrum standen.

Konferenzübersicht:

Dominik Heringer (Mainz): Hotspot Aachen – Neue Erkenntnisse zum Rheinischen Reformkreis

Lea Torwesten (Bochum): Ankerpunkte des (Glaubens-)Gedächtnisses – Christlich-religiöse Erinnerungsorte des Ruhrgebiets am Beispiel der BVB-„Gründungskirche“ (1898) und des Essener Katholikentages 1968

Maximilian Künster (Mainz): Die Feldpostbriefe der Alumnen des Mainzer Priesterseminars (1939–1945)

Sandra Frühauf (Hamburg): Abschied von „Hochwürden“. Priester- und Solidaritätsgruppen als Foren kirchlicher Selbstreflektion und klerikaler Kritik

Katharina Zimmermann (Tübingen): Gender-Konzepte zwischen Katholizismus und Sozialismus. Körper, Geschlecht und Sexualität im DDR-Katholizismus 1945–1973

Alexander Buerstedde (Hamburg): Katholisches Priesterbild und katholische Priesterausbildung in der Bundesrepublik von 1965 bis 1989/90. Ein Werkstattbericht

David Templin (Osnabrück): „Ausländermissionen“: Migration, institutionelle Einbindung und Konflikte in der Katholischen Kirche am Beispiel Hamburgs, 1960–1990

„Friedland – Der Dokumentarfilm“: Film und Diskussion, Moderation: Markus Leniger

Sarah Thieme (Münster) / Martin Belz (Mainz): Einführung in das Thema der Generaldebatte: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35) – Katholizismus und Geflüchtete in historischer wie gegenwärtiger Perspektive

Markus Stadtrecher (Ulm): „Brüder nehmt die Brüder mit“ – Christliche Willkommenskultur und ihre Grenzen am Beispiel der Flüchtlinge und Vertriebenen im Bistum Augsburg nach dem Zweiten Weltkrieg

Gerhard Kruip (Mainz): Gibt es ein Recht auf Einwanderung – wo doch alle Menschen Glieder der einen Menschheitsfamilie sind?


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