Jüdischer Film

Organisatoren
Forschungsgruppe „Was ist jüdischer Film?“, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam; Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Berlin
Ort
digital (Potsdam)
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.01.2022 - 12.01.2022
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Von
Eik Dödtmann, Filmuniversität Babelsberg, Potsdam

Das an Doktorand:innen und Post-Docs gerichtete Kolloquium hatte zum Ziel, Forschende im Bereich „jüdischer Film“ zu vernetzen und Synergien bei deren wissenschaftlichen Arbeiten zu erreichen. Geladen und gekommen waren Referent:innen und Teilnehmer:innen aus den Bereichen Film- und Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft, Jüdische Studien, Geschichte, Anthropologie und Soziologie. Sechs Referent:innen präsentierten ihre aktuellen Forschungsarbeiten in 20-minütigen Vorträgen mit anschließenden Responses und Diskussionen.

Zu Beginn arbeitete Lea Wohl von Haselberg, Leiterin der Forschungsgruppe „Jüdischer Film – Was ist das?“, die Genese und Problematik des Begriffs „jüdischer Film“ heraus. Der vor allem aus der Filmkultur und US-amerikanischen Jewish Studies stammende Begriff ist bis heute nicht klar definitorisch abgegrenzt und sieht sich immer wieder mit dem Vorwurf der Essentialisierung konfrontiert, weshalb Wohl von Haselberg eine pragmatische Begriffsverwendung vorschlug, die weniger einen abgrenzbaren Gegenstand als vielmehr ein interdisziplinäres Forschungsfeld bezeichnet.

Anschließend veranschaulichte Tirza Seene in einem Mentimeter, welche Forschungsschwerpunkte und Interessen die Teilnehmer:innen des Kolloquiums rund um „jüdischen Film“ mitbrachten.

Im ersten Vortrag stellte JOHANNES DOMINIK HARDT (Bonn) seine Arbeit zum avantgardistischen Fernsehfrühwerk des deutsch-uruguayisch-jüdischen Regisseurs Peter Lilienthal (geb. 1927 in Berlin) vor. Hardt zeigte auf der theoretischen Basis von Odins Semiopragmatik auf, wie der „Fernseh-Auteur“ Lilienthal in den beiden Kriegsfilmen „Picknick im Felde“ (TV-Film, SWF 1962) und „Guernica – jede Stunde verletzt und die letzte tötet“ (TV-Film, SWF 1965) mit Mitteln des Absurden und der „ludischen Verfremdung” (Hardt) den fiktionalisierenden Lektüremodus herausfordere und durch Fiktionalisierungen (Diegetisierung, mise en phase und Fiktivisierung) das bis dahin im westdeutschen Film wenig präsente Thema der Shoah und des Faschismus thematisierte. In seiner Reaktion zeigte das Plenum, in welcher Form beide Werke Lilienthals in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft der Bundesrepublik abgelehnt wurden und bis heute – nicht zuletzt wegen der schwierigen Zugänglichkeit der Fernseharchive – einem breiteren Publikum nur schwer zugänglich sind. Nicht zuletzt stelle sich die Frage, inwiefern Lilienthals Frühwerk im Kontext des absurden Theaters stehe und ob seine Störungen durch die Brille der jüdischen Ästhetik, konkret des Bilderverbots, gelesen werden können.

Im zweiten Vortrag stellte MICHAELA SCHARF (Gießen/Wien) Ellen Illichs Familienfilme vor. Die Wiener Künstlerin Eva Rose „Maexie“ Illich (1901–1965) drehte zwischen Mitte der 1930er-Jahre bis 1942 Amateurfilme, die das Leben der österreichisch-katholischen Familie Regenstreif-Illich zeigte. Illich und ihre Familie waren wegen ihrer jüdischen Vorfahren nach den NS-Rassegesetzen im seit 1938 dem Deutschen Reich eingegliederten Österreich enteignet und verfolgt worden und schließlich 1943 nach Italien geflohen, von wo aus sie später in die USA emigrierten. Illichs Filme, die im United States Holocaust Memorial Museum (Ellen Rose Regenstreif Film Collection) liegen, sind laut Scharf nicht explizit „jüdische Filme“. Sie waren vor allem Mittel der Selbstermächtigung und Selbstbehauptung angesichts der unmittelbaren NS-Bedrohung und Verfolgung. Das Medium Film habe hier „normalisierende und stabilisierende“ sowie Schutzfunktion gehabt und sei Ausdruck der Zugehörigkeit der Familie zur österreichisch-deutschen Kultur gewesen. Scharf stellte dar, wie die Kamera Illich bei der Ausformung einer Haltung als Beweisführung und eventuell auch als Beschämung der NS-Täter half und ihr so erlaubte, die Rolle des Opfers zu unterlaufen. Katja Baumgärtner wies in der Diskussion nicht nur auf die Momente der Ironie (Illichs Logo mit Ziege) und der Überhöhung bzw. Überspitzung in der eindrucksvollen Arbeit Illichs hin, sondern auch auf die Kategorien Gender und Klasse, die das Amateurfilmen beeinflussen.

Im dritten Vortrag stellte TIRZA SEENE (Potsdam) ihre Forschung zum Zusammenhang von Antisemitismus und Film vor. Darin untersucht sie beispielhaft drei Kategorien des Antisemitismus im Film: a) Ausschluss von Juden und Jüdinnen und allem Jüdischen aus der Produktionspraxis und aus dem filmischen Text, b) strukturellen Antisemitismus im Film, c) Antisemitismus in und um den Aufführungsort Kino. Laut Seene reicht es nicht, die filmische Darstellung bzw. den filmischen Text allein als Marker für Antisemitismus zu untersuchen, sondern es müssen auch Debatten über mutmaßlich antisemitische Filme betrachtet werden. Exemplarisch zeigte Seene das am Bibelfilm „The Passion of Christ“ (USA 2004) des Schauspielers und Regisseurs Mel Gibson auf, bei dem jüdische Proteste gegen den Film auf antisemitische Reaktionen christlicher Fundamentalist:innen trafen. Johannes Bennke stellte dazu die Frage in den Raum, ob die filmbegleitenden Paratexte beim „jüdischen Film“ – als eine Form der jüdischen Schriftkultur – eine bestimmte Rolle spielten und welche Bedeutungen den Aushandlungsprozessen um die Zuschreibung des „Jüdischen” zukommen.

Im vierten Vortrag stellte OLGA WESOŁOWKSA (Łódź) die Anfänge ihres Promotionsprojektes vor. Sie arbeitet mit den Methoden der Memory Studies (Maurice Halbwachs, Marianne Hirsch) und Postcolonial Studies (Edward Said) und möchte untersuchen, inwiefern Darstellungen des „Jüdischen” in Dokumentar- und Spielfilmen aus Deutschland und Österreich nach 1990 durch die Erinnerungspolitik des jeweiligen Landes beeinflusst sind. Eine angestrebte Vergleichsstudie mit polnischen Produktionen desselben Zeitraums erwies sich als impraktikabel, da in Polen kein ausreichendes Materialkorpus bestehe. Lea Wohl von Haselberg wies auf den einzugrenzenden Umfang des Themas hin und auf die Problematik, eine Forschungsfrage auf das „Warum“ und die kausalen Zusammenhänge auszurichten.

Im fünften Vortrag präsentierte JUDITH VON BRESINSKY (Berlin) den israelischen Film „Chufshat Qayits“ von David Vollach aus dem Jahr 2007. Vollach, ein in der ultraorthodox-jüdischen Gesellschaft aufgewachsener und mit 25 Jahren zum säkularen Leben und zum Film gelangter israelischer Jude, thematisiert darin mehrere jüdische Texte: die biblischen Motive der Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham an Gott (Genesis 22,1-19), das jüdisch-religionsgesetzliche Gebot des Vertreibens der Henne aus dem Nest, bevor man ein Ei entnimmt, das Schiluach haKen (Deuteronomium 22:6-7), und die talmudische Schilderung, wonach Elischa Ben Abuyah, ein Apostat des Judentums im 1. Jh. u.Z., vom jüdischen Glauben und Religionsgesetz abfällt, nachdem er beobachtet, wie ein Kind bei der Ausführung jüdischer Gebote stirbt. Diese Allegorie zusammen mit mehreren talmudischen Kommentaren verdeutlichen laut Bresinsky die intertextuellen Bezüge in „Chufshat Qayits“. Der Film sei somit als Kritik am Herrschaftsanspruch des strengreligiösen Judentums zu verstehen. Eik Dödtmann wies in diesem Zusammenhang auf die wachsende Zahl ultraorthodoxer Themen im israelischen und internationalen Film sowie auf eigene ultraorthodoxe Produktionen und auf die Problematik der Normen- und Werteübersetzung im „religiösen jüdischen Film“ hin.

Im letzten Vortrag stellte LUCY ALEJANDRA PIZAÑA PÉREZ (Potsdam) ihr Promotionsprojekt über jüdische Filmfestivals vor. Seit dem Ende der 1980er-Jahre sei weltweit (mit Schwerpunkt in den USA) ein Circuit von heute fast 200 jüdischen Filmfestivals entstanden. Exemplarisch will Pizaña Pérez in ihrer Arbeit die Geschichte ausgewählter Festivals (San Francisco, Boston, New York, Hongkong, Moskau, Berlin, u.a.) darlegen und sich in der Programmanalyse auf drei Festivals (San Francisco, Berlin/Brandenburg, Mexico City) beschränken. Untersuchen möchte sie dabei, wie jüdische Filmfestivals Filmen eine „jüdische Vita“ einschreiben und zur Kanonisierung beitragen können. Inwieweit jüdische Filmfestivals Akteure einer kulturell-politischen jüdischen Avantgarde gegenüber dem Mainstream sein können, veranschaulichte sie am Beispiel San Franciscos, wo sich das Filmfestivalteam im Programm von 1988 über das vom Staat Israel und wichtigen jüdischen Organisationen ausgesprochene Verbot des Kontakts mit Palästinensern hinweggesetzt hatte und wo der Wegfall von bisherigen Finanziers durch progressive jüdische Kräfte kompensiert worden war. Dani Kranz betonte die für die Forschungsarbeit Pizaña Pérez‘ wichtigen Punkte des Programmierens als diskursive Praxis: die politics of funding, die hohe Fluktuation der Festival- und Programmmacher:innen, den sich wandelnden Zeitgeist. Auch die Fragestellung der quantitativen vs. qualitativen Forschungsmethoden wurde aufgeworfen.

Das Kolloquium hat nicht nur die thematische Bandbreite des Gegenstandes „jüdischer Film“ dargestellt, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten verdeutlicht, diese disparaten Zusammenhänge zusammenzudenken. Dabei stoßen Versuche der strikten Definition an die Grenzen des Gegenstandes. Die offene Beschreibung hingegen bietet die Chance, das haben die unterschiedlichen Forschungsprojekte gezeigt, Zuschreibungen zu hinterfragen und Konstruktionen der Differenz herauszufordern. So kommen nicht nur filmische Texte, sondern auch jewish moments in der Rezeption, die Materialität und der Kollektivcharakter des Films sowie die verschiedenen Aushandlungsräume jüdischen Films in der Filmkultur in den Blick. Die interdisziplinäre Vernetzung kann nicht nur neue methodische Ansätze – wie beispielsweise die Verschränkung der Memory Studies und der Postcolonial Studies – hervorbringen, sondern auch den Blick für Erkenntnisperspektiven schärfen. Diese reichen von konkreten Blicken auf Teilaspekte des Feldes, wie die jüdische Ästhetik, bis zu breiteren Kategorien wie Klasse und Gender, die die Forschungen intersektionell überlagern. Im Kolloquium hat sich konkretisiert, wie sich die Verschränkungen zwischen historischen Ereignissen, Populärkultur und Fremd- und Selbstzuschreibungen des „Jüdischen“ an der Schnittstelle „jüdischer Film“ neu denken lassen. Hierin liegt auch die große Chance des Feldes: Es schafft eine Verbindung zwischen Film und jüdischer Erfahrung und interpretiert ihre Zusammenhänge als selbstermächtigendes Ausdrucksmittel, sei es als Instrument der politischen Störung oder Ausdrucksmöglichkeit jüdischer Selbstverständnisse durch die Filmkultur.

Am Abschluss des Kolloquiums stand der Wunsch, den Austausch der Forscher:innen untereinander zu intensivieren und das Netzwerk zu verstetigen.1

Konferenzübersicht:

Panel 1

Johannes Dominik Hardt (Universität Bonn): Über das Politische der „Störungen“ im avantgardistischen Fernsehfrühwerk Peter Lilienthals

Response und Moderation: Claudia Sandberg (University of Melbourne)

Panel 2

Michaela Scharf (Justus-Liebig-Universität Gießen / Ludwig Boltzmann Institute for Digital History, Wien): Ellen Illichs Familienfilme. Selbstermächtigung im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung

Response und Moderation: Katja Baumgärtner (Humboldt-Universität zu Berlin)

Tirza Seene (Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam): Antisemitismus und Film. Vorschläge für die Untersuchung eines komplexen Zusammenhanges

Response und Moderation: Johannes Bennke (Hebrew University, Jerusalem)

Panel 3

Olga Wesołowska (Universität Łódź): Das Leben nach dem Überleben. Darstellung der Juden (der Überlebenden und der nächsten Generationen) im gegenwärtigen deutschen und österreichischen Film

Response und Moderation: Lea Wohl von Haselberg (Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam)

Judith von Bresinsky (Freie Universität Berlin): Von der Bibel zur Religion. Von der Bindung des Yitzchoq zu Chufshat Qayits – My father, My Lord. Von erdachten Bildern zu bewegten Bildern – über einen israelischen Film von David Volach

Response und Moderation: Eik Dödtmann (Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam)

Panel 4

Lucy Alejandra Pizaña Pérez (Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam): Jüdische Filmfestivals. Annäherung an ein Verständnis „Jüdischen Films“ anhand der Programmierungsarbeit

Response und Moderation: Dani Kranz (Ben-Gurion Universität des Negev, Be’er Scheva)

Anmerkung:
1 Weitere Kolloquien zum „jüdischen Film“ sind geplant und werden auf der Website der Nachwuchsforschungsgruppe unter https://www.juedischefilmgeschichte.de angekündigt. (17.03.2022)