Covid, History, and the Medical Humanities

Covid, History, and the Medical Humanities

Organisatoren
Lehrstuhl für Medizingeschichte, Universität Zürich
Ort
digital (Zürich)
Land
Switzerland
Vom - Bis
26.11.2021 - 26.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Jakob Odenwald, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historisches Seminar, Universität Zürich

Vor einhundert Jahren wurde die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften (SGGMN) gegründet. Die Jahreskonferenz, mit der man dieses Jubiläum in Zürich beging, bot einen feierlichen Anlass zur Retrospektive: In ihrem Festvortrag blickten FLURIN CONDRAU (Zürich), LEANDER DIENER (Zürich) und HUBERT STEINKE (Bern) auf die Geschichte der SGGMN und damit der Schweizer Medizingeschichte im 20. Jahrhundert zurück. Neben maßgeblichen Entwicklungstendenzen wie der zunehmenden Professionalisierung der Disziplin, der Anbindung an die Geisteswissenschaften in der Mitte des Jahrhunderts sowie schließlich der Internationalisierung des Fachs identifizierten die Redner dabei auch eine nach wie vor offene Frage, die immer wieder neu gestellt und beantwortet wurde: Wie bestimmte die Medizingeschichte ihr Verhältnis zu Medizin und Gesellschaft? Dass damit nicht nur ein historiographischer Problemhorizont benannt war, machte auch der Tagungstitel klar, mit dem die Organisatoren die Herausforderungen, Chancen und Perspektiven der Medizingeschichte in den Mittelpunkt des Interesses rückten,1 die während der COVID-19-Pandemie in bisher unbekanntem Maße an Aktualität gewonnen haben: Alte und neue Forschungsfragen sind in den vergangenen zwei Jahren in den Vordergrund gerückt, und Medizinhistoriker:innen waren medial und politisch gefragt wie vermutlich kaum jemals zuvor. Die Pandemie wirkte sich aber auch auf einzelne Forschende und Forschungsprojekte aus, weil Zeitpläne durcheinandergerieten, Archivbesuche abgesagt oder verschoben werden mussten oder die gestiegenen Herausforderungen der Care-Arbeit sich auf die historische Forschung auswirkten. Die Tagung bot vor diesem Hintergrund neben den fachlichen Diskussionen Raum für disziplinäre Selbstreflexion, in deren Zentrum die eminent politische Dimension der Medizingeschichte stand. Die Beiträge der Tagung widmeten sich daher sowohl Fragen und Problemen der Forschung also auch strategisch-kommunikativen Aspekten der Medizingeschichte während der COVID-19-Pandemie.

Das erste Panel stand ganz im Zeichen der Geschichte der Epidemiologie, ihrer Perspektiven und Konzepte. SÉVERIC YERSIN (Basel) präsentierte seine Forschung zur Geschichte der öffentlichen Gesundheit in der Schweiz zwischen 1870 und 1920. Der Beitrag reflektierte eingehend, wie sich Perspektivenverschiebungen der medizinhistorischen Forschung im Kontext der gegenwärtigen Pandemie gleichsam aufzwangen: Erstens sei der eigene Forschungsgegenstand in gewissem Sinne real erfahrbar geworden; zweitens drängten sich mehr denn je Gegenwartsbezüge auf, die vor allem bei der Bewertung der politischen Opposition gegen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und der Gefahr von Tieren als Krankheitsvektoren relevant und mitunter brisant geworden seien. Drittens folge hieraus, dass sich Medizinhistoriker:innen in einer neuen öffentlichkeitswirksamen Position wiederfänden, die es nun zu konsolidieren und auszubauen gelte.

Von ähnlichen Erfahrungen konnte auch DAVID ROBERTSON (Princeton/Genf) aus seinem Projekt zur Geschichte der Herdenimmunität berichten. So habe das Konzept zunächst lange ein Schattendasein geführt; erst im Lauf der Pandemie sei es dann zusehends in den Blick der breiten Öffentlichkeit geraten und habe sich mittlerweile zu einem festen Bezugspunkt im politischen Diskurs über die Pandemiebekämpfung entwickelt. Robertson rekonstruierte vor diesem Hintergrund die Genealogie des Konzepts und ging dabei der zentralen Frage nach, wie die Übertragung des Begriffs der Immunität von einem individuellen Organismus auf die Bevölkerung eigentlich funktionierte. Erstmals tauchte der Begriff in einer US-amerikanischen veterinärmedizinischen Zeitschrift im späten 19. Jahrhundert auf, dreißig Jahre später wurde das Konzept in Großbritannien in der Humanmedizin verwendet. In den Folgejahren beschäftigten sich Bakteriologie, Epidemiologie, Virologie und andere Disziplinen mit der Herdenimmunität, um Laborforschung auf den größeren Kontext der Bevölkerung zu übertragen. Im Zuge dieser Wissenszirkulation wurde das Konzept angewandt, erweitert und uminterpretiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Konzept schließlich auf vielfältige Weise als Argument für massive Impfkampagnen, ähnlich wie es im Zuge der Corona-Pandemie diskutiert wurde.

Im zweiten Panel präsentierte JULIA ENGELSCHALT (Zürich) ihre Forschung zur kolonialen Medizin im US-amerikanischen Süden in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stand das Konzept der Tropikalität, durch das Erfahrungen des Spanisch-Amerikanischen Kriegs von 1898 und laborbasierte Methoden der Bakteriologie die Politik der new public health beeinflussten. Waren tropische Kolonien als Versuchsfelder für das neue bakteriologische Paradigma verwendet worden, galt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit diesem Paradigma die klimatischen (tropischen) Bedingungen von Krankheit in den USA anzugehen. Die Überschneidungen zwischen kolonialer Medizin und öffentlicher Gesundheit in den USA weisen auf eine besondere Konstellation hin, in der sich umweltmedizinische und laborbasierte bakteriologische Methoden zuweilen überlagerten.

Mit Blick auf die vergangenen zwei Jahre konstatierte LÉONARD DOLIVO (Lausanne) sodann eine gesteigerte „Lust auf Geschichte“ und plädierte für eine umfassende Historisierung der COVID-19-Pandemie. So sei gegenwärtig ein gesteigertes Bewusstsein dafür zu beobachten, in historischen Zeiten zu leben. Die Pandemie habe beispielsweise zu zahlreichen Initiativen geführt, Archive anzulegen, um Erfahrungen für die Nachwelt aufzubewahren. Eine kritische geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung sei auch deswegen geboten, da Akteur:innen aus Politik, Wissenschaft und Medien in den vergangenen zwei Jahren immer wieder auf historische Verweise und Vergleiche zurückgegriffen haben, um unsere Gegenwart in Zeiten der Pandemie zu deuten.

Das dritte Panel verschob den Fokus in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. IZEL DEMIRBAS (Bern) und MAGALY TORNAY (Bern) präsentierten neueste Ergebnisse aus ihrem Forschungsprojekt zur Geschichte der Medizin- und Bioethik in der Schweiz und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Demirbas zeigte am Beispiel bioethischer Kontroversen über Tierversuche und Embryonenforschung auf, wie die SAMW seit den 1970er-Jahren als vertrauensbildende Vermittlerin zwischen verschiedenen Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft agierte. Tornay rahmte diese empirischen Befunde mit überzeugenden methodologischen und konzeptionellen Überlegungen: An Niklas Luhmanns anknüpfend, bestimmte sie die Ethisierung wissenschaftlicher und medizinischer Verfahrensweisen, wie sie von der SAMW seit den 1970er-Jahren vorgenommen wurden, als Praktiken zur Herstellung von Vertrauen, die, wenn man sie gegen den Strich lese, einen Zugriff auf eine Geschichte des Misstrauens eröffnen können. Der vergleichende Blick in die Frühphase der SAMW erlaube es, so argumentierten beide, auch die gegenwärtige Krise des Vertrauens in politische und wissenschaftliche Institutionen kritisch zu reflektieren.

Die allerjüngste Vergangenheit stand auch bei CLARA DOBBELSTEIN (Köln) im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit quantitativen Methoden wertete sie den Gebrauch von Metaphern in Beiträgen zweier deutscher Zeitungen (Die Zeit, Der Spiegel) zur COVID-19-Pandemie aus. Dabei zeigten sich gewisse Konjunkturen des metaphorischen Sprechens: Während die „Wellen“-Metaphorik im ersten Jahr der Pandemie um ein vierfaches zugenommen habe, habe sich die Häufigkeit des Wortes „Ausbruch“ halbiert. Dazu habe vermutlich die ansteigende Progression der Infektionszahlen beigetragen, während die Globalität der Infektionskrankheit Berichte über lokale Ausbrüche in den Hintergrund treten ließ. Eine vergleichende Auswertung mit der Berichterstattung über AIDS/HIV im Zeitraum von 1982 bis 2012 machte deutlich, dass über die Zeit metaphorisches Sprechen seltener wurde und stattdessen technische Begriffe der Epidemiologie und Virologie normalisiert würden. Dieser Befund erlaube es, so Dobbelstein, von einer Verwissenschaftlichung des populären Sprechens im Verlauf von Pandemien zu sprechen.

Auch das vierte Panel widmete sich dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Wissenschaft, tat dies jedoch unter den Vorzeichen der fachlichen Selbstreflexion, indem es die Chancen und Herausforderungen der Vermittlung medizinhistorischen Wissens in Zeiten der Pandemie in den Fokus rückte. JOHANNA LESSING (Göttingen) fragte am Beispiel der Ausstellung „Die Ingolstädter Maskentonne. Eine Corona-Ausstellung mit medizinhistorischen Bezügen“ nach den Möglichkeiten eines museologischen Umgang mit Wissen, das sich immer wieder und mitunter in kurzer Zeit ändert. Die Ausstellung thematisiere, so Lessing, auf produktive Weise die Vorläufig- und Vergänglichkeit von Wissen, indem sie dessen Historizität selbst sichtbar mache, und weise somit den Weg für eine kritische Geschichtswissenschaft mit Öffentlichkeitsauftrag.

Daran knüpfte TIZIAN ZUMTHURM (Luxemburg) an, der die zahlreichen medizinhistorischen Initiativen, Echtzeit-Archive der COVID-19-Pandemie anzulegen, zum Gegenstand machte. In diesen Projekten würden, reflektierte Zumthurm, Historiker:innen zu Archivar:innen, die das zukünftige Erinnern an die Pandemie maßgeblich beeinflussten. Anhand mehrerer digitaler Plattformen zeigte der Beitrag Möglichkeiten, Probleme und Unabwägbarkeiten dieser Crowdsourced-Archive und stellte die Frage nach der zeitlichen Gebundenheit einer Medizingeschichte der Gegenwart.

Im Rahmen der Guggenheim-Schnurr Lecture blickte BRUNO STRASSER (Genf) in seinem Abendvortrag auf die Maske als „epidemische Technologie“ und betonte dabei die Wichtigkeit einer medizinhistorischen Perspektive auf Diskontinuitäten und Brüche. So sei in ihrer langen Geschichte immer etwas „hinter der Maske“ gewesen. Ihr wandelnder Gebrauch und Kontext sowie die Bedeutungen, mit der sie zu unterschiedlichen Zeiten aufgeladen wurde, machten die Maske zu einem zutiefst historischen Ding, in dem sich medizin-, umwelt-, sozial- und geschlechtergeschichtliche Geschichten kreuzten. Vor diesem historischen Hintergrund sei die Zukunft der Maske offen, wie Strasser abschließend mit Blick auf unsere Gegenwart festhielt.

In einer abschließenden Roundtable-Diskussion griffen MARTINA KING (Fribourg), HUBERT STEINKE (Bern), FLURIN CONDRAU (Zürich) und VINCENT BARRAS (Lausanne) die vielen Befunde, Argumente und Reflexionen der Konferenzbeiträge auf und loteten den Stand des Faches nach zwei Jahren Pandemie aus. Sie eröffneten damit eine wichtige Debatte, die über die Tagung hinausweist: Wie sind die zivilgesellschaftlichen und politischen Dimensionen der Disziplinen konkret auszugestalten? Welche der (neuen) Möglichkeiten für kritische Intervention soll man wahrnehmen? Und wie lässt sich das nicht selten spannungsvolle Verhältnis von Forschung und Wissenschaftskommunikation gerade in Zeiten einer globalen Pandemie neu aushandeln? So herrschte unter den Diskutant:innen zwar Einigkeit darüber, dass Medizingeschichte und medical humanities in die Öffentlichkeit gehören. Offen blieb hingegen, wie mit der plötzlichen medialen Präsenz der Medizingeschichte und der medical humanities konkret umzugehen sei. Sollte es darum gehen, tatsächlich politischen Einfluss zu nehmen, etwa als Mitglied in einer Science Task Force oder in politischen Gremien? Oder sollte die Aufgabe eher in der aktiven medialen Öffentlichkeitsarbeit liegen? Abschließende Antworten fand man auf diese Fragen nicht. Deutlich wurde jedoch, dass derartige Diskussionen auch nach einhundert Jahren Medizingeschichte in der Schweiz wieder ein Gebot der Stunde sind.

Konferenzübersicht:

Panel I

Séveric Yersin (Basel): Ecrire l’histoire du contrôle des maladies infectieuses durant le Covid-19 et la Fièvre porcine africaine. Un dialogue entre opportunités, difficultés et nouvelles perspectives

David Robertson (Princeton/Genf): Histories of the Herd: Veterinarians, Bacteriologists, and the Concept of Herd Immunity

Panel II

Julia Engelschalt (Zürich): The Great Obsession. Tropicality in U.S.-American Colonial Medicine and Domestic Public Health, 1898-1924

Léonard Dolivo (Lausanne): Covid-19 and Desire for History

Flurin Condrau (Zürich) / Leander Diener (Zürich) / Hubert Steinke (Bern): Centenary of the SGGMN

General Assembly/Sigerist-Preis (Caterina Anna Schürch: Die Suche nach fundamentalen physiologischen Mechanismen: Kooperationen zwischen Biologie, Physik und Chemie (1918-1939). PhD Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München)

Panel III

Izel Demirbas (Bern) / Magaly Tornay (Bern): Geschichte der Medizinethik in der Schweiz: Die Arbeit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften in Bezug auf aktuelle Fragen

Clara Dobbelstein (Köln): The Reader Becoming an Expert? Tendencies of Scientification Reflected by Metaphors to Depict Covid-19 and AIDS in Two German Newspapers

Panel IV

Johanna Lessing (Göttingen): On the Productivity of Preliminary Knowledge: Medical Historical Exhibiting and the Pandemic

Tizian Zumthurm (Luxemburg): The Historian as Archivist: Crowdsourced Corona Collections

Panel discussion: Covid, History, and the Medical Humanities

Martina King (Fribourg) / Hubert Steinke (Bern) / Flurin Condrau (Lausanne) / Vincent Barras (Genf)

Moderation and input: Lisa Haushofer (Zürich) / Felix Rietmann (Fribourg))

Guggenheim-Schnurr Lecture

Bruno Strasser (Genf): Epidemic Technologies: Masks, Medicine and Modernity

Anmerkung:
1 Leander Diener, Flurin Condrau: 100 Jahre Medical Humanities, in: Schweizerische Ärztezeitung 102 (2021): 1402-1406.


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