Die Normativität sozialer Gedächtnisse

Die Normativität sozialer Gedächtnisse

Organisatoren
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) / Arbeitskreis „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen“, Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
Ort
digital (Potsdam)
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2022 - 18.03.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Fabrice Westphal, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von Normativität und Gedächtnis(-forschung) auszuloten. Dabei sollte der Blick auf zwei Sachverhalte gelegt werden: die normativen Implikationen sozialer Gedächtnisse und die Forschung zu expliziter oder impliziter Normativität in Prozessen des Erinnerns und Vergessens.

Nach der inhaltlichen und organisatorischen Einführung von Nina Leonhard (Potsdam) entwickelte MICHAEL HEINLEIN (München) im ersten Panel in Abgrenzung zu Émile Durkheims Vorstellungen von sozialer Zeit das Konzept der Gedächtniszeit, das auf einer Annahme der wechselseitigen Konstitution von Zeit und Gedächtnis beruht. Mit Thomas Khurana zeigte er auf, wie aus dieser Gedächtniszeit Normativität entspringt: durch eine Regelhaftigkeit, mit der Wahrnehmungen sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen werden können. Dies geschieht – so Heinleins These – über Erwartungen. Diese Erwartungen würden intersubjektiv zu Erwartungserwartungen und bildeten damit auch im Sozialen eine normative Regelhaftigkeit der Gedächtniszeit aus.

GERD SEBALD (Erlangen) beleuchtete das Verhältnis von Diskursen über kollektive Identitäten und transsituativ gültige Werteordnungen. Mit der Analyse von drei Texten (einer Rede des AfD-Politikers Alexander Gauland bei einem Parteitag der „Jungen Alternative“, der Dankesrede von Aleida und Jan Assmann zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sowie eines Artikels der taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah zum Fusion-Festival) zeigte Sebald auf, dass Vergangenheitsbezüge für die Konstruktion von kollektiven Identitäten stets eine Rolle spielen, dass dabei jedoch unterschiedliche Werteordnungen zum Tragen kommen: Während es bei Gauland die Nation sei, fokussierten die anderen beiden Texte supranationale Werteordnungen. Alle drei Texte behandelten darüber hinaus das Vergessen, indem bewusst der Rückgriff auf Vergangenheitsbezüge genutzt werde, um das Vergessen bestimmter Ereignisse oder Vorstellungen zu verhindern. Normativität könne demnach als ein Versuch der dauerhaften Steuerung bzw. Kontrolle der Selektivität der involvierten sozialen Gedächtnisse gesehen werden.

Im zweiten Panel setzte JAN FERDINAND (Berlin) mit Überlegungen zu Niklas Luhmann anhand dessen Gedächtnis- und Ethikbegriff an. Er unterschied zwischen unbemerkten und reflexiven Gedächtnissen und konkretisierte sodann, was das Gedächtnis erinnert, wenn es erinnert (und nicht vergisst). Ethik als zweite Begrifflichkeit wurde anschließend im Sinne Luhmanns als Reflexionstheorie der Moral gedeutet. Die Ethik des politischen Gedächtnisses könne Luhmann zufolge nun darin gesehen werden, dass vergangene (abgeschmetterte oder unterdrückte) Interessen durch den Rekurs auf Werte aktualisiert und damit in die politische Kommunikation wieder eingebracht werden. Im Fazit schloss Ferdinand, dass die Erforschung sozialer Gedächtnisse mit Luhmann nicht politisiert werden müsse, da direkt der Blick auf das politische Gedächtnis gerichtet werden kann, und dass Luhmanns Vorstellung von politischem Gedächtnis selbst nicht normativ sei.

Ausgangspunkt für INGO MEYERs (Bielefeld) Überlegungen war die Diagnose einer Schrumpfung des Archivs der massenmedialen Kultur – beispielsweise im Sinne von Popmusik, die gegenwärtig genauso klinge wie vor 20 Jahren, oder von Filmreihen, die in gewissen Zeitabständen immer wieder gezeigt würden. Unter Rekurs auf Hartmut Rosa und Hans Ulrich Gumbrecht sprach er in diesem Zusammenhang von einem „rasenden Stillstand“ und verknüpfte dies mit einer Normativität des Gewünschten, mit der eine Furcht u.a. vor Dissens verbunden sei und die zu einer Geschichtsklitterung führe, in der Fakten schlichtweg fehlten. Um niemandem mehr weh zu tun, würde nur noch ein reduzierter Kanon von kulturellen Artefakten gezeigt. Meyer schloss seine Ausführungen mit der These, dass dieser reduzierte Kanon dessen, was möglich ist und gewusst werden darf, dem überlasteten Subjekt als Kompensation der beschleunigten Zeitstrukturen der Moderne diene.

VALENTIN RAUER (Istanbul) ging im dritten Panel von Christoph Möllers Begriff von Normen als sozialen Praktiken aus, die mögliche, d.h. von der jeweiligen Gegenwart abweichende Zustände affirmativ markierten. Normen liege somit eine Kontingenz und damit eine grundsätzliche Möglichkeit zur Veränderung eines Zustandes zugrunde. Rauer stellte sodann einen Bezug zur Zeitlichkeit über den Begriff der „Zeitschaften“ unter Verweis auf Achim Landwehr her. Die Referenz auf einen zu realisierenden Zustand könne dabei sowohl über die Vergangenheit als auch über eine Imagination, also einen Zukunftsentwurf, hergestellt werden. Durch die Bezugnahme auf etwas Vergangenes und die Gründe, warum ein Zustand so realisiert wurde und nicht anders, seien Normen, so Rauer weiter, auf ein soziales Gedächtnis, beispielsweise verstanden als die Referenz auf Erfahrungen einer geteilten Vergangenheit, angewiesen. Normativität lasse sich so als ein Möglichkeitshorizont begreifen, als Bezug auf das, was jeweils erinnert werde und das soziale Handeln immer wieder neu anleite.

Anschließend ging HORST-ALFRED HEINRICH (Passau) der Frage nach, ob und wie aus der Geschichte gelernt werden könne. Gedanken von Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck über den Topos „Lernen aus der Geschichte“ aufgreifend, stellte er Überlegungen an, auf welche Weise sich Lernen als ein zunächst auf der individuellen Ebene angesiedeltes Konzept auf die Makroebene und damit auf soziale Kollektive übertragen und entsprechend untersuchen lasse. Heinrich griff vor allem Ansätze des organisationalen Lernens auf und stellte Anschlussmöglichkeiten zur Diskussion.

Im vierten und letzten Panel unterzog FELIX DENSCHLAG (Hamburg) Friedrich Nietzsches und Walter Benjamins Spätwerk einer vergleichenden Analyse. Nietzsches Genealogie und Benjamins theologischem Geschichtsverständnis liegen – so Denschlag – ähnliche Motive und Absichten zugrunde, die in ihrer Kritik an einer konstruierten Kontinuität und damit in der Normativität des Vergessens zum Ausdruck kämen: Nietzsche zufolge seien faktisch vorhandene Werte und Institutionen nicht natürlich oder notwendig entstanden, sondern immer Ausdruck von Machtverhältnissen, was impliziere, dass es auch andere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben hätte. Benjamin auf der anderen Seite gehe davon aus, dass die „Geschichte der Sieger“ die „Geschichte der Besiegten“ verdränge, das Eingedenken jedoch das in der Geschichte erlittene Leid für Erlösung öffnen könne. Unter dem Titel „historische Gerechtigkeit“ zog Denschlag vor diesem Hintergrund das Fazit, dass beide Ansätze auf eine Ethik des Gedächtnisses hinauslaufen, die sich nicht für ein „Gedächtnis-Machen“ an bestimmte historische Ereignisse vereinnahmen lasse, wie es in erinnerungskulturellen und -politischen Debatten häufig getan werde.

Zuletzt zeichnete SVEN BEHNKE (Potsdam) das Traditionsverständnis der Bundeswehr mithilfe der verschiedenen Traditionserlasse nach und setzte den dabei herausgearbeiteten normativen Kern des Traditionsverständnisses mit dem Konzept der Erinnerungskultur nach Jan Assmann in Bezug. Unter Rückgriff auf die Davidüberlieferungen in der Bibel veranschaulichte er sodann, wie ein Erinnern an eine ambivalente Gestalt möglich sei und plädierte dafür, auch im militärischen Kontext nicht allein auf positive Anknüpfungspunkte zu blicken, sondern darüber hinaus zu reflektieren, was die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen dürften.

Abschließend griff Nina Leonhard die eingangs vorgestellten Leitfragen auf und stellte eine erste Zwischenbilanz zur Diskussion: Die normativen Ansprüche, die bei der politischen Mobilisierung von Vergangenheitsbezügen in den Vordergrund treten, ließen sich gedächtnissoziologisch am ehesten als intentionale Steuerung von Selektionen fassen, auf deren Grundlage Ansprüche rund um Vorstellungen von Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral (verstanden als Handlungsmaxime) artikuliert würden. Normativität im Kontext sozialer Erinnerungs- und Vergessensprozesse lasse sich allerdings auch als nicht-intentionale Bahnung von Selektionen im Sinne der Herausbildung einer Erwartungsstruktur durch Regelhaftigkeit verstehen sowie – drittens – als ein auf die Zukunft gerichteter Möglichkeitshorizont, der durch die positive Affirmation vergangenheitsbezogener sozialer Praktiken konstituiert werde. Aufgabe zukünftiger Forschung sei es, die während der Tagung aufgezeigten Perspektiven weiter zu präzisieren respektive zu ergänzen und dabei insbesondere die normativen Bezüge der Forschung zu Erinnerung und Vergessen reflexiv einzubeziehen.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Vergangenheit und Geschichte (I)

Michael Heinlein (München): Normativität und Temporalität: Soziale Zeit als Erwartungsstruktur sozialer Gedächtnisse

Gerd Sebald (Erlangen): Bewertung, Identitäten und Vergangenheitsbezüge. Überlegungen zur Dauerhaftigkeit von Normativität

Panel 2: Erinnern und Vergessen (I)

Jan Ferdinand (Berlin): Was heißt „Ethik“ des Gedächtnisses? Überlegungen mit Luhmann

Ingo Meyer (Bielefeld): Euphemismus und Reproduktion als Orthodoxie unserer Zeit. Über Erinnerungsimperative, Recycling und Geschichtsklitterung in massenmedialer Kultur

Panel 3: Vergangenheit und Geschichte (II)

Valentin Rauer (Istanbul): Eine andere Gegenwart ermöglichen. Über die Normativität sozialer Vergangenheitsbezüge

Horst-Alfred Heinrich (Passau): Lernen aus der Geschichte – ist das überhaupt möglich?

Panel 4: Erinnern und Vergessen (II)

Felix Denschlag (Hamburg): Historische Gerechtigkeit: Nietzsche und Benjamin zur Normativität des Vergessens

Sven Behnke (Potsdam): Das Gute erinnern ohne das Böse zu vergessen. Theologische Erwägungen zum Traditionsverständnis der Bundeswehr


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