Der Zerfall der Sowjetunion und das Ende der DDR als historische Zäsuren – unter besonderer Berücksichtigung neuer methodischer und quellenmäßiger Zugänge

Der Zerfall der Sowjetunion und das Ende der DDR als historische Zäsuren – unter besonderer Berücksichtigung neuer methodischer und quellenmäßiger Zugänge

Organisatoren
Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen; Organisation: Beate Fieseler, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Oksana Nagornaja, Staatliche Pädagogische Universität, Jaroslavl’
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.01.2022 - 13.01.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Beate Fieseler, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der wegen der Corona-Pandemie von September 2020 zunächst um ein Jahr und schließlich auf Januar 2022 verschobene Nachwuchsworkshop, der selbst dann leider nur im Online-Format stattfinden konnte, war anlässlich der 30. Wiederkehr des Zerfalls der Sowjetunion und des Endes der DDR geplant worden. In fünf Panels wurden insgesamt neun Forschungsberichte zu verschiedenen Aspekten des Veranstaltungsthemas gehalten, anschließend von Expert:innen aus der Gemeinsamen Kommission kommentiert und zum Schluss von allen Workshop-Teilnehmer:innen lebhaft diskutiert. Die einzelnen Sektionen behandelten die Systemtransformation im internationalen Kontext, die Frage der Fremdwahrnehmungen in der Umbruchzeit, den Zerfall der Sowjetunion in regionaler Dimension, die Medialisierung des Umbruchs in der Sowjetunion sowie in der DDR und schließlich die nach dem Systemzerfall neu entstandene Erinnerungskultur bzw. Public History.

Die Frage nach neuen Methoden und Quellen zog sich wie ein roter Faden durch alle Beiträge der Tagung. Speziell zum Thema hielten KATHRIN ZÖLLER (Potsdam) und CLEMENS VILLINGER (Potsdam) einen Vortrag, in dem sie ihren gemeinsam mit Kerstin Brückweh herausgegebenen Band „Die lange Geschichte der »Wende«. Geschichtswissenschaft im Dialog“ (2020) und das besondere methodische Vorgehen beim Erstellen dieser Publikation – Schriftgespräch, kommentiert von Mitlebenden und anderen Forscher:innen, Dialogreise sowie künstlerischer und journalistischer Kommentar – den Workshop-Teilnehmer:innen vorstellten.

Als zusätzlicher Programmpunkt fand ein Zeitzeugengespräch mit NATALJA TIMOFEEVA (Voronež) und ELKE SCHERSTJANOI (Berlin) statt, die ihre persönlichen Umbrucherfahrungen einst jeweils als Gast im anderen Land, also als russische Historikerin in der DDR und als Historikerin aus der DDR in der späten Sowjetunion, sammelten.

Im ersten Panel ging es um einen Faktor, der sowohl beim Ende der DDR als auch beim Zerfall der Sowjetunion eine Rolle spielte, aber in der bisherigen Forschung eher vernachlässigt worden ist, nämlich die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf deren Wiener Folgetreffen, das am 19. Januar 1989 mit greifbaren Ergebnissen beendet wurde, konzentrierten sich die Vorträge von JONAS KAISER (Hildesheim) und NINA HECHENBLAIKNER (Innsbruck), die sich insbesondere mit dem Aspekt der Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) einerseits und der Frage der Menschenrechte andererseits beschäftigten. Die aktuelle politische Lage könnte nicht eindrücklicher vor Augen führen, wie weit wir heute von solchen erfolgreichen internationalen Gesprächen zwischen West und Ost zur langfristigen Konfliktlösung wieder entfernt sind.

Auch im zweiten Panel ging SUSANNE MASLANKA (Berlin) auf die deutsch-sowjetischen bzw. -russischen Abkommen und Verständigungsvorhaben in der Transformationszeit ein und konzentrierte sich dabei auf das Thema der Zwangsarbeiterentschädigung und insbesondere die Erwartungen und Argumentationsmuster beider Seiten sowie die sich daraus ergebenden Konfliktlinien. Im Unterschied zu den deutsch-israelischen Erfahrungen kam im Fall der ausgehenden UdSSR noch eine humanitäre Dimension dazu. Für die Mehrheit der ehemaligen Zwangsarbeiter:innen war die Entschädigung lebenswichtig, wobei die für sowjetische Verhältnisse vergleichsweise große Summe Geldes sie aber tendenziell auch in Gefahr brachte. Der Vortrag von ARTEM SOKOLOV (Moskau), der sich mit der Berichterstattung der Pravda zur deutschen Wiedervereinigung und insbesondere mit der Arbeit des Korrespondenten Maj Podključnikov auseinandersetzte, hat eine ebenfalls bisher vernachlässigte Quelle für seine Forschung fruchtbar gemacht. Sokolov kam zu dem Schluss, dass die neu entstehenden Fremdbilder zur Veränderung sowohl des Selbstbildes als auch der Kommunikationspraktiken von sowjetischen Medien beitrugen: Pressedarstellungen über die Ereignisse in der DDR entwickelten sich zum freien Diskussionsraum. Darin konnten Themen wie Transformation und Reformen besprochen und auf diese Weise alternative Deutungsmuster etabliert werden.

Das dritte Panel konzentrierte sich auf regionale Entwicklungen in der Sowjetunion der Transformations- und der postsowjetischen Phase. POLINA GUNDARINA (Leipzig) stellte verschiedene methodische Ansätze (angelehnt an die postcolonial und urban studies) zur Erforschung postsozialistischer Städte (hier exemplifiziert am Beispiel der Jugendwohnkomplexe von Jekaterinburg) und veränderter sozialer Praktiken der Gebäudenutzung nach dem Zerfall der Sowjetunion vor, während SLAVJANA BOLDYREVA (Archangel’sk) und ROMAN BOLDYREV (Archangel’sk) die Entwicklung im Norden Russlands nach dem Ende des Machtmonopols der KPdSU beleuchteten und dabei die Entstehung neuer nationaler Organisationen näher betrachteten und die Ergebnisse von Wahlen und Referenden analysierten.

Das vierte Panel stand ganz im Zeichen der Nutzung neuer Bildquellen für die Erforschung der Transformationszeit. MAY JEHLE (Frankfurt am Main) bezog sich in ihrem Vortrag vor allem auf zwei Dokumentarfilme von Andreas Voigt aus der Reihe seiner „Leipzig-Filme“, um an Hand dieses Materials der Frage der Repräsentation von Ermächtigung und Entmachtung nachzugehen. Die Filmanalyse erlaubte es der Autorin, nicht nur die Intention des Regisseurs und die Arbeit des Kameramanns zu dekonstruieren, sondern sich auch hermeneutisch den unmittelbaren Erfahrungen damaliger Akteur:innen zu nähern. Dies wird nicht nur durch direkte Aufnahmen und Interviews mit Teilnehmer:innen an friedlichen Demonstrationen ermöglicht, sondern auch dadurch, dass die Stadt Leipzig im Transformationszustand selbst als Akteurin abgebildet wird. MARIJA ROMANOVA (Moskau) wählt für ihre Forschung eine hochinteressante Quelle: die sowjetische TV-Sendung Glasnost-Kabine aus den frühen 1990er-Jahren. In dem mobilen Studio, das an ganz verschiedenen Orten der damals noch existierenden Sowjetunion bzw. nach deren Zerfall in den GUS-Staaten auftauchte, konnte jeder/jede im Verlauf einer Minute seine/ihre Meinung zu einem beliebigen Thema kundtun. Diese Möglichkeit der völlig freien Meinungsäußerung steht in scharfem Kontrast zu der einseitig verzerrten Staatspropaganda im aktuellen russischen Fernsehen sowie generell zur umfassenden Zensur und den vielen Medienverboten durch die russische Regierung, die kaum noch Spielräume für abweichende Meinungen übriggelassen hat.

Im letzten Panel befasste sich ELGUJA KAKABADZE (Tbilissi) mit der Frage, wie historische Museen in Georgien und Deutschland die sowjetische bzw. die DDR-Geschichte im Kontext der jeweiligen Nationalgeschichte darstellen und skizzierte dabei die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede der Erinnerungspolitik beider Länder. Eine wichtige Differenz besteht seinen Ergebnissen zu Folge darin, dass die georgische historische Aufarbeitung noch eine sehr viel jüngere ist als die deutsche. Letztere begann bereits vor 30 Jahren, während dieser Prozess in Georgien erst seit zehn Jahren währt und dabei – anders als in Deutschland – nicht auf Strukturen zurückgreifen konnte, die nicht vom Vorgängerregime bzw. sowjetisch geprägt waren. Nicht zufällig nahm das Geburtshaus von Stalin in Gori – heute ein Museum – im Vortrag einen zentralen Platz ein. Dieser historische Ort, der bereits in der Sowjetzeit zu einer veritablen Pilgerstätte wurde, entwickelte sich im postsowjetischen Georgien zum Verflechtungspunkt radikal unterschiedlicher Erinnerungsnarrative. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 rückte Gori erneut ins Zentrum kontroverser Debatten um die (post)sowjetische Erinnerungskultur.

Der Nachwuchsworkshop hat gezeigt, wie fruchtbar die Befassung mit Verhandlungen und Abkommen aus der Transformationszeit sein kann und welche - bislang erst wenig genutzten Möglichkeiten - die Analyse visueller Quellen sowie die Anwendung von Methoden der urban und/oder postcoloial studies für die thematischen Schwerpunkte der Tagung bieten.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Die Systemtransformation im internationalen Kontext

Jonas Kaiser (Universität Hildesheim): Von Stockholm über Wien nach Paris: Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und das KSE-Mandat im Rahmen des KSZE-Prozesses 1984 – 1990

Nina Hechenblaikner (Universität Innsbruck): Durchbruch bei den Menschenrechten? Die humanitäre Dimension des dritten KSZE-Folgetreffens in Wien (1986 – 1989)

Kommentar: Yuliya von Saal (Institut für Zeitgeschichte, München)

Panel 2: Fremdwahrnehmungen in der Umbruchzeit

Susanne Maslanka (Institut für Zeitgeschichte, Berlin): Hypotheken der Vergangenheit in den Verhandlungen zum deutsch-sowjetischen Vertragspaket von 1990

Artem Sokolov (Institut für Internationale Beziehungen, Moskau): Die deutsche Wiedervereinigung in der sowjetischen Zeitung „Pravda“ (1989 – 1990)

Kommentar: Viktor Iščenko (Russische Akademie der Wissenschaften)

Zeitzeugengespräch: Historikerinnen erleben den Umbruch

Natalja Timofeeva (Institut für Hochtechnologie, Voronež) und Elke Scherstjanoi (Institut für Zeitgeschichte, Berlin) im Gespräch mit Sandra Dahlke (DHI Moskau)

Panel 3: Der Zerfall der Sowjetunion in regionaler Dimension

Polina Gundarina (GWZO Leipzig): Die post-sozialistische Stadt erforschen: Methoden, Instrumente und Herausforderungen

Slavjana Boldyreva und Roman Boldyrev (Pomoren-Universität Archangel’sk): Die Haltung der Bevölkerung des russischen Nordens zum Zerfall der UdSSR und der Aufbau einer neuen Machtvertikale der Russländischen Föderation (1990 – 1993)

Kommentar: Aleksandr Vatlin (Staatliche Universität Moskau)

Panel 4: Medialisierung des Umbruchs

May Jehle (Goethe-Universität Frankfurt am Main): DDR 1989/90 – Mediale Repräsentationen, Erfahrungen und Deutungen von Ermächtigung und Entmachtung

Marija Romanova (Russländische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität Moskau): Die TV-Sendung „Glasnost‘-Kabine“ als Nachweis eines unabhängigen russländischen Fernsehens

Kommentar: Oksana Nagornaja (Staatliche Pädagogische Universität Jaroslavl‘)

Projektvorstellung: Die lange Geschichte der „Wende“

Kathrin Zöller und Clemens Villinger (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung)

Panel 5: Erinnerungskultur / Public History

Elguja Kakabadze (Ilya State University, Tbilissi): Deutsche und georgische Erfahrungen der Gedächtnis-/Erinnerungspolitik am Beispiel von Museen

Kommentar: Jörg Morré (Deutsch-russisches Museum Berlin-Karlshorst)