Dissertant:innen-Tagung Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 2022

Dissertant:innen-Tagung Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 2022

Organisatoren
Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz; Austrian Economic and Social Historians (AESH); Environmental History Cluster Austria (EHCA)
Ort
Linz
Land
Austria
Vom - Bis
24.02.2022 - 25.02.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Marian Niedermayr, Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz

Die Veranstaltungsreihe richtet sich an Promovierende österreichischer Universitäten oder mit thematischem Österreich-Bezug, die an einer Dissertation in den Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte arbeiten. Die Teilnehmer:innen präsentierten ein Paper, in dem entweder methodische und konzeptionelle Überlegungen oder ein Kapitel oder Fallbeispiel aus der Dissertation vorgestellt wurden. Im Anschluss folgten jeweils ein Peer- und ein Experten-Kommentar sowie eine Diskussionsrunde.

Im ersten Beitrag präsentierte JULIAN HELMCHEN (Berlin) einen Werkstattbericht zur digitalen Erfassung spätmittelalterlicher Wiener Grundbücher im Rahmen des DFG-Projekts „Mapping Medieval Vienna“. Bis auf die ältesten mittelalterlichen Grundbücher konnten diese Quellen, aufgrund der Masse an vorhandenem Material, bisher nicht editorisch bearbeitet werden. Mithilfe der Texterkennungssoftware Transkribus1 können die Grundbücher automatisiert transkribiert werden, was einen erheblich verringerten Arbeitsaufwand und mehr Zeit für die eigentliche Erhebung der Forschungsdaten und ihre Analyse verspricht. Ziel des Projekts ist es, die Personen, Orte, Preise und Datumsangaben in den Grundbüchern in einer Datenbank zu erfassen und eine Rekonstruktion des mittelalterlichen Stadtplans zu erstellen, auf den sozialtopographische Analysen aufbauen können. Als Fallbeispiel für das Potential einer solchen Herangehensweise wurde ein Plan der Häuser in der Huterstraße präsentiert, die durch das Feuerstättenverzeichnis des Jahres 1448 bereits zum Teil rekonstruiert werden können. Die Kommentare und Diskussion drehten sich vor allem um die Möglichkeiten und Grenzen sozialtopographischer Methoden und um Fragen nach Nachbarschaft, sozialem Raum, sozialer Zugehörigkeit, Besitzstrukturen und Muster in der Besitzweitergabe.

MICHAEL PROKOSCH (Wien) widmete sich der oft wenig beachteten Quellengattung frühneuzeitlicher Bürgerbücher, mithilfe derer er einen Vergleich der Gewerbestruktur dreier österreichischer Städte bzw. Märkte – Innsbruck, Linz und Tarvis – vornehmen möchte. In den Bürgerbüchern wurde die Aufnahme von neu ankommenden oder bereits ansässigen Personen in den Bürgerstand dokumentiert. Neben Namen und Beruf der Neubürger lassen sich in den Quellen auch Hinweise zur Herkunft, zur Höhe der Einbürgerungstaxe und zu den verwandtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu bereits ansässigen Bürgern finden. Neben der quantitativen Auswertung der Anzahl verschiedener Berufe bieten die Quellen auch die Möglichkeit, Einblicke in die spezifischen Bedingungen der Aufnahme als Bürger oder in die Regulierungen, denen bestimmte Berufe unterworfen waren, zu gewinnen.

LISA MARIA HOFER (Linz) sprach über den theoretischen Hintergrund ihres Dissertationsvorhabens zur Linzer Taubstummenanstalt im langen 19. Jahrhundert. Die Untersuchung ist von der Strömung der Disability History inspiriert und fragt nach den sich wandelnden Beurteilungen und der sozialen Konstruktion von Beeinträchtigung. Als maßgeblich für die gesellschaftliche Inklusion oder Exklusion werden dabei die Zuschreibungen von außen identifiziert, nicht die medizinisch feststellbare Behinderung. Gerade im langen 19. Jahrhundert mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und dem Aufkommen sozialer Nützlichkeitsideale kommt diesen Prozessen besondere Bedeutung zu. Anhand einer Mikrostudie über die 1812 gegründete Taubstummenanstalt sollen in diesem theoretischen Kontext Fragen nach dem Bedeutungswandel von Behinderung, der Zuschreibung von Bildsamkeit und der gesellschaftlichen Funktion von Schule beantwortet werden. Außerdem sollen die Vernetzung und Modellwirkung der Taubstummenanstalt und die Auswirkungen der praktischen pädagogischen Arbeit auf gesetzliche und wissenschaftliche Normen untersucht werden. In der Diskussion wurde angemerkt, dass anhand der Konstruktion von Beeinträchtigung auch Erkenntnisse über die gleichzeitige Konstruktion von Normalität in einer sich industrialisierenden Gesellschaft gewonnen werden können.

Es folgte ein Thema aus dem Bereich der Umweltgeschichte, mit trauriger Aktualität. DAVID NOVOTNY (Wien) widmet sich in seiner im FWF-Projekt „Great War and Anthropocene. Empire and Environment in Eastern Europe“ angesiedelten Dissertation der Veränderung und Zerstörung von – sowohl natürlicher als auch menschengemachter – Landschaft in Galizien im Ersten Weltkrieg. Er will Tagebücher und andere Egodokumente nach der Wahrnehmung von Landschaftsveränderungen befragen. Der Erste Weltkrieg wird als entscheidende Zäsur in Diskursen über Umwelt und als Katalysator von Landschaftsveränderungen im Anthropozän verstanden. Novotny präsentierte das Fallbeispiel der umkämpften Festungsstadt Przemyśl in den Jahren 1914/15. Anhand einer Auswahl von Tagebüchern österreichisch-ungarischer Soldaten und Zivilpersonen arbeitete er die heterogenen, subjektiven Wahrnehmungen einer Landschaft heraus, die verschiedenen tiefgreifenden Eingriffen ausgesetzt war: erst in Vorbereitung auf den Krieg, durch Festungsbau und „Lichtung“ umliegender Gemeinden und Wälder, dann durch den Einschluss und die Belagerungen der Stadt durch die russische Armee, die Artilleriebeschuss und eine sich rasch verschlechternde Versorgungslage mit sich brachten.

ERNST TIPKA (Wien) präsentierte zwei Quellenbeispiele aus seiner Arbeit zum Spinnverlagssystem der Linzer Wollzeugfabrik im Salzkammergut des 18. Jahrhunderts. Die staatliche Wollzeugfabrik agierte im Kontext kameralistischer arbeitsmarkts- und sozialpolitischer Vorstellungen. Innerhalb eines Spinnbezirkes verfügte die Fabrik über exklusiven Zugriff auf das Arbeitskräftereservoir und versuchte sich gegen Tätigkeiten konkurrierender Verleger zu verteidigen. Im Salzkammergut war vor allem die Kooperation mit dem Gmundner Salzoberamt von Bedeutung. Im Gegenzug für die Sicherung ihrer Privilegien sollte die Wollzeugfabrik dafür sorgen, dass die Untertanen des Kammerguts stets mit Spinnarbeit versorgt und abgesichert waren. Anhand der beiden Quellenbeispiele – einer Bittschrift der Hallstätter Witwen um Aufträge, der nicht stattgegeben wurde, und einer nur wenig später entstandenen Personenstandsliste, die das Potential an vorhandenen Arbeitskräften in den Haushalten eruieren sollte – zeigte Tipka das Spannungsfeld kameralistischer Politik exemplarisch auf. Die Kooperation mit dem Salzoberamt machte sich weiters auch auf Ebene der einzelnen Haushalte bemerkbar. Während Männer im Montanwesen beschäftigt waren, arbeiteten Frauen und Kinder häufig für die Wollzeugfabrik, um das Auskommen der Familien zu sichern. Die Protoindustrie im Salzkammergut operierte also nicht auf der Basis einer prekären Landwirtschaft, sondern auf der des Montanwesens.

RACHEL TRODE (Florenz) beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Beschaffenheit und Struktur der späthabsburgischen Herrschaft in Bosnien und Herzegowina. Den Ansätzen einer New Imperial History folgend, untersucht sie am Beispiel der im Mai 1906 ausbrechenden Arbeiterstreiks das Handeln von lokalen Beamten und Arbeiter:innen und die in Berichten und Telegrammen dokumentierten Verständnisse von Konflikt und Herrschaft. Gerade auf lokaler Ebene ergaben sich Debatten um die Konzeption von Herrschaft, die in den Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen der habsburgischen Verwaltung verfolgt werden können und ein komplexes Bild von konkreten Praktiken von Herrschaft ergeben. Trode stellte exemplarisch den Streik der Tabakarbeiter:innen in Ljubuški, die Handlungen des Bezirksvorstehers Georg Pavlić und die Reaktionen seiner Vorgesetzten auf diese vor. Pavlić musste sich dafür rechtfertigen, dass er angesichts des Streiks um militärische Unterstützung angesucht hatte und dass er aus der Sicht der Provinzverwaltung über den genauen Verlauf der Ereignisse zu spät und vor allem in Bezug auf die entscheidenden Punkte, die Motive und Ziele der Streikenden, zu wenig akkurat Bericht erstattet hatte.

NIKOLAUS THOMAN (Wien) untersuchte die Einführung, Nutzung und Wirkung von Intelligenzprüfung in der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung im Wien der Zwischenkriegszeit. Mithilfe eines vom Kinderarzt Erwin Lazar entwickelten Prüfungsverfahrens sollte Intelligenz „objektiv“ nach verschiedenen Kategorien gemessen und in einem vorgefertigten Raster als „Geisteskurve“ dargestellt werden. Das Verfahren diente erst dazu, im Rahmen der Jugendfürsorge besonders förderungswürdige Kinder und Jugendliche zu identifizieren und die stets knappen finanziellen Mittel, mit durchaus auch eugenischen Motiven, möglichst effizient aufzuteilen. Die Intelligenzprüfung Lazars kam in der Zwischenkriegszeit in verschiedenen Bereichen des Wiener Wohlfahrtssystems zum Einsatz, so auch in der staatlichen Arbeitsvermittlung und in der Berufsberatung von Jugendlichen. Mithilfe der Durchführung der Prüfung in Schulen und Gewerbebetrieben wurde versucht, die „optimale“ Geisteskurve für den jeweiligen Beruf zu finden. Die Anwendung dieser Techniken führte, so Thoman, nicht nur zu einer Normierung der Arbeitenden, sondern vor allem zu einer Rationalisierung und Medikalisierung der Verwaltung selbst.

Im abschließenden Beitrag präsentierte ANITA KONRAD (Innsbruck) die grundlegenden Aspekte ihres Dissertationsvorhaben zur Etablierung und Entwicklung der Pizza in Innsbruck und Tirol von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre. Am Beispiel der Pizza als „migrantische“ Gastronomie können Perspektiven der Ernährungs- und Migrationsgeschichte verbunden und verschiedene strukturelle und soziale Veränderungen nachvollzogen werden. Als Quellen sollen einerseits Interviews mit Gastronom:innen geführt und andererseits vom Zentrum für MigrantInnen in Tirol (ZeMiT) durchgeführte Interviews sowie gastronomische Drucksorten wie Speisekarten und Werbematerial ausgewertet werden. Essen als fundamentale Alltagspraxis transportiert stets wesentliche Diskurse über Ein- und Ausgrenzung, sowohl seitens der Migrant:innen als auch seitens der nicht-migrierenden Bevölkerung. Die Pizza bot nicht nur italienischen, sondern auch anderen Einwander:innen eine Möglichkeit, Restaurants zu eröffnen und ein Auskommen zu finden. Das Aufkommen einer Restaurantkultur vollzog sich ferner auch in einer Gesellschaft, die sich von einer von Mangel geprägten, eingeschränkten Ernährungssituation hin zu einer Konsumgesellschaft im Kontext expansiven Wirtschaftswachstums entwickelte.

Die Beiträge der Tagung haben einmal mehr die Breite der Themen und die Vielfalt der methodischen Zugänge der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte aufgezeigt und zu wertvollem, bereichernden Austausch geführt. Eine Fortsetzung der Reihe ist für 2023 vorgesehen.

Konferenzübersicht:

Julian Helmchen (Freie Universität Berlin): Mapping Medieval Vienna

Peer-Kommentar: David Novotny (Universität Wien)

Experten-Kommentar: Elisabeth Gruber (Universität Salzburg)

Michael Prokosch (Universität Wien): Österreichische Bürgerbücher der Frühen Neuzeit im Vergleich – Städtische Gewerbestrukturen anhand von Bürgeraufnahmen

Peer-Kommentar: Ernst Tipka (Universität Wien)

Experten-Kommentar: Margareth Lanzinger (Universität Wien)

Lisa Maria Hofer (Johannes Kepler Universität Linz): Die Linzer Taubstummenanstalt im langen 19. Jahrhundert

Peer-Kommentar: Nikolaus Thoman (Universität Wien)

Experten-Kommentar: Carlos Watzka (Sigmund Freud PrivatUniversität Linz)

David Novotny (Universität Wien): Versiegelt – Zerstört – Verändert: Landschaften des habsburgischen Galiziens im Ersten Weltkrieg

Peer-Kommentar: Julian Helmchen (Freie Universität Berlin)

Experten-Kommentar: Martin Schmid (Universität für Bodenkultur Wien)

Ernst Tipka (Universität Wien): Das Spinnverlagssystem der Linzer Wollzeugfabrik im Salzkammergut in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts

Peer-Kommentar: Michael Prokosch (Universität Wien)

Experten-Kommentar: Klemens Kaps (Johannes Kepler Universität Linz)

Rachel Trode (Europäisches Hochschulinstitut Florenz): May 1906 and the Nature of Late Habsburg Rule in Bosnia and Herzegovina

Peer-Kommentar: Anita Konrad (Universität Innsbruck)

Experten-Kommentar: Tamara Scheer (Universität Wien)

Nikolaus Thoman (Universität Wien): Intelligenzprüfung in der Arbeitsvermittlung im Wien der Zwischenkriegszeit

Peer-Kommentar: Lisa Maria Hofer (Johannes Kepler Universität Linz)

Experten-Kommentar: Sigrid Wadauer (Universität Wien)

Anita Konrad (Universität Innsbruck): Pizza Tirolese – Ernährungs- und Esskultur aus migrationsgeschichtlicher Perspektive am Beispiel der Entwicklung migrantischer Gastronomie in Innsbruck und Tirol seit den 1960er-Jahren

Peer-Kommentar: Rachel Trode (Europäisches Hochschulinstitut Florenz)

Experten-Kommentar: Ernst Langthaler (Johannes Kepler Universität Linz)

Anmerkung:
1https://readcoop.eu/de/transkribus/ (25.05.2022).