Forum: Diskussionsbeitrag zum Konzept für die Ausstellung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

Von
Marina Cattaruzza, Historisches Institut, Universität Bern

Jedes große Projekt im Bereich der musealen oder stadtplanerischen Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik ist in Deutschland mehr als in anderen Ländern dazu prädestiniert, nie enden wollende Debatten und hitzige Polemiken hervorzurufen. Dies ist leicht durch die Tatsache erklärbar, dass bei der Deutung der deutschen Geschichte im „kurzen zwanzigsten Jahrhundert“ unmöglich von der Shoah abstrahiert werden kann, einem Massenverbrechen singulärer Natur, das einem präzedenzlosen „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) gleich kam.

Die Tatsache, dass im Zweiten Weltkrieg unter der charismatischen Führung Hitlers und getrieben von einer rassisch-biologistischen Ideologie, die an Vernichtungswillen ihresgleichen suchte, Hunderttausende von Deutschen, meistens Männer, sich ungeheuerlicher Verbrechen schuldig machten, und damit an der Auslöschung eines ganzen Volkes mitwirkten, ist ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts Gegenstand einer umfassenden Aufarbeitung auf verschiedeneren Ebenen der deutschen Gesellschaft und unter Mitwirkung verschiedener Institutionen und Instanzen gewesen. Diese Aufarbeitung muss rückblickend als bemerkenswerter Erfolg bewertet werden: heutzutage wird in Deutschland die Singularität der Shoah auch gegenüber anderen Gräueltaten genozidalen Ausmaßes weitgehend anerkannt – ebenso wie das Gebot zur Erinnerung an dem Mord an den europäischen Juden für die jetzige und die zukünftigen Generationen.

Seit den neunziger Jahren, nach dem Fall der Berliner Mauer, dem „Zwei-plus-Vier“-Vertrag und der darauf folgenden Einigung, haben sich in Deutschland neue historische Meistererzählungen herausgebildet. Seither wird mit verschiedenen Mitteln und Medien (z.B. im Film und in der Literatur) auch an die „deutschen Opfer“ erinnert. Es ist unleugbar, dass der von Deutschland entfesselte Krieg auch über die deutsche Zivilbevölkerung unsagbares Leid brachte. Dieses Leid wurde in den allermeisten Fällen nicht nach einer Logik der „Bestrafung“ für individuell begangene Verbrechen zugefügt (und wenn doch, so wurde eher im Sinne einer undifferenzierten ‚Kollektivschuld’ argumentiert). Freilich trugen die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg verübten Gräueltaten dazu bei, dass die Empathie gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung seitens der alliierten Entscheidungsträger sowie unter den verschiedenen Akteuren in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten extrem niedrig war. Hinzu kamen in der letzten Phase des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Hass- und Racheausbrüche, die sich gegen alles „Deutsche“ entluden. Die tatsächlichen Dynamiken solcher Vorkommnisse – wie auch der nicht selten mit tödlichen Folgen verübten Massenvergewaltigungen seitens Soldaten und Offizieren der Roten Armee – sind auch heute in der Geschichtsschreibung nicht endgültig geklärt.

Eine historische Aufarbeitung der Leid- und Verlusterfahrungen verschiedener Gruppen von deutschen Opfern ist mit einer komplexen und diffizilen Aufgabe konfrontiert: der „historische Ort“ der Leiderfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung ist zweifellos der von Hitler entfesselte Zweiter Weltkrieg mit seinen beispiellosen Verbrechen. Dennoch besteht kein monokausales und ausschließliches Verhältnis zwischen den Verbrechen Nazi-Deutschlands und der Zwangsaussiedlung von etwa 14 Millionen Deutschen aus den sowjetischen, polnischen, tschechischen, jugoslawischen und ungarischen Gebieten. Die Massenaussiedlungen waren eine Folge des Krieges, aber nicht die Manifestation einer „Kollektivstrafe“ für den vom Zaun gebrochenen Konflikt. Aus der Tschechoslowakei wurden selbst deutsche Antifaschisten ausgesiedelt, die konsequent für die Erhaltung des tschechoslowakischen Staates gekämpft hatten. Es kommt nämlich leider selten vor – entgegen der hegelianischen Vorstellung einer „List der Vernunft“ –, dass historische Verläufe einer moralischen Logik folgen.

Seit den sechziger Jahren und bis 1989 hatte die Existenz des aus dem Zweiten Weltkrieg entstandenen bipolaren Gleichgewichts ein Narrativ begünstigt, demzufolge implizit oder explizit a.) nicht nur die Shoah, sondern auch alle anderen von Deutschen verübten Verbrechen mit denjenigen, die an Deutschen verübt wurden, nicht verglichen werden dürfen; b.) die Verbrechen, denen Deutsche zum Opfer fielen, pauschal als Folge der deutschen Verbrechen zu verstehen seien. Eine solche meist implizite Übereinkunft betraf notgedrungen auch die Erinnerungskultur. Deutsche Opfer waren kaum ein Thema der offiziellen Erinnerungspolitik und im Master Narrative nicht präsent.

Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Staatenblocks ging auch die „lange Nachkriegszeit“ zu Ende. Projekte wie die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gehören – mit all den damit einhergehenden Polemiken, Kontroversen, Rücktritten, Neuzusammensetzungen etc. – zu einer neuen historischen Phase, die der Zäsur von 1989 gefolgt ist und die nur im Lichte dieses neuen historischen Klimas verständlich sind.

Zur möglichen musealen Darstellung von „Flucht und Vertreibung“ im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben die Autoren der „konzeptionellen Überlegungen“ einen wertvollen Beitrag erbracht, der hoffentlich zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung führen wird. Zweifellos zu befürworten ist die Entscheidung, die mikrohistorische Perspektive zu wählen, die es erlaubt, die Komplexität und Mehrschichtigkeit des Phänomens Vertreibung zu fassen. Die ausgewählten Fallbeispiele – die Städte Wroclaw/Breslau, Ústí nad Laben/Aussig und Vilnius/Wilna/Wilno/Wilne – verdeutlichen auch, dass die Deutschen nicht die einzige Gruppe waren, die aus- bzw. umgesiedelt wurde. In Breslau bestand z.B. ein enges Verhältnis zwischen der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Ansiedlung von Polen aus der Westukraine oder aus Zentralpolen, wobei die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung zwischen der sowjetischen Regierung und dem Lubliner Komitee ausgehandelt worden war. Ähnlich erging es auch dem polnischen Bevölkerungsanteil in Vilnius. Sowohl in Aussig wie auch in Vilnius wurde zudem die jüdische Bevölkerung in die Todeslager deportiert und dort vernichtet. Die Deportation gehörte in diesem Fall in den Rahmen der Shoah und nicht der ethnischen Homogenisierung eines Gebietes. Zu Recht wird im Konzept die Unvergleichbarkeit beider Phänomene unmissverständlich betont. Freilich befanden sich auch unter den Tätern nicht nur Deutsche: bei der Judenvernichtung in Vilnius wirkten litauische Kollaborateure mit (ähnlich wie in der Ukraine, in Lettland, in Kroatien, in der Slowakei etc.). Die gewählten Fallbeispiele liefern Ansätze einer Aufarbeitung der jeweiligen Vergangenheit vor Ort, wobei die jetzigen Einwohner die Bereitschaft aufbringen, sich auch der dunklen Seite der „eigenen“ Geschichte zu stellen. Man bekommt den Eindruck, dass eine solche Aufarbeitung auf lokaler Ebene leichter fällt als im Rahmen des nationalen Narratives.

Gerade die aufgeführten Fallbeispiele zeigen allerdings auch, dass im Zweiten Weltkrieg „Vertreibung“ keine Praxis war, die nur Deutsche betraf. Polen und Ukrainer befanden sich sowohl unter den Vertreibern wie auch unter den Vertriebenen. Wie neulich von Manfred Kittel bei passender Gelegenheit in Erinnerung gerufen wurde, hatten in der Folge des so genannten „Hitler-Stalin-Paktes“ Deutschland und die Sowjetunion zahlreiche Verträge zur Umsiedlung von Bevölkerungsteilen mit dem Ziel abgeschlossen, in den jeweiligen Hoheitsgebieten eine größere ethnische Homogenität zu erzielen. Es wäre deshalb m. E. angemessen, das Szenario des von Deutschland entfachten Krieges in den breiteren Kontext des nation building1 bzw. der ethnischen Simplifizierung als Herrschaftsinstrument in denjenigen Gebieten Zentral- und Osteuropas zu stellen, die bis 1918 als plurinationale Imperien organisiert waren. Zu diesem Thema hat Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bedeutende und immer noch viel zu wenig beachtete Überlegungen angestellt.

Angesichts des Zusammenwachsens von West- und Osteuropa im Zuge der EU-Erweiterung (ab 2004) könnte eine solche breitere Kontextualisierung wesentlich dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur aufzubauen. Sie würde weiterhin signalisieren, dass die Staaten der Europäischen Union die „lange Nachkriegszeit“ tatsächlich hinter sich gelassen haben.

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Marina Cattaruzza ist Professorin für Neueste allgemeine Geschichte am Historischen Institut der Universität Bern. Letzte veröffentlichte Monographie: L’Italia e il confine orientale 1866-2006, Bologna, 2007 (Siehe dazu die Rezension von Hans Lemberg: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-054). Zum Phänomen „Vertreibungen“ hat sie auf Deutsch folgende Aufsätze veröffentlicht: Aussiedlungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Christoph Dipper, Andreas Gestrich, Lutz Raphael (Hgg.), Krieg, Frieden und Demokratie. Festschrift für Martin Vogt zum 65. Geburtstag, Frankfurt etc., 2001, S. 193-206; Der „historische Ort“ der Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Ralph Melville, Jirí Pešek, Claus Scharf (Hgg.), Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa, Mainz, 2007, S. 39-53; Endstation Vertreibung: Minderheitenfrage und Zwangsmigrationen in Ostmitteleuropa, 1919-1949, in: Journal of Modern European History, vol. 6, 2008/1, S. 5-29.

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Die Beiträge zum Diskussionsforum „Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können Sie auf der Webseite von H-Soz-u-Kult einsehen unter der Adresse: http://www.hsozkult.de/index.asp?pn=texte&id=13501350.

Anmerkung:
1 Siehe dazu Marina Cattaruzza, Endstation Vertreibung: Minderheitenfrage und Zwangsmigrationen in Ostmitteleuropa, 1919-1949, in: „Journal of Modern European History“, vol. 6, 2008/1, S. 5-29.