Forum: Topographischer/Lokaler Ansatz und europäische Dimension

Von
Joachim von Puttkamer, Friedrich-Schiller Universität Jena

Die Konzeption, die Martin Schulze Wessel und seine Mitstreiter für die Ausstellung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vorschlagen, setzt auf konkrete Orte, um das Vertreibungsgeschehen in seiner Komplexität und seinen Verflechtungen zu veranschaulichen. An Orten wie Breslau/Wroclaw, Wilna/Vilnius/Wilno/Wilne oder Aussig/Ústí lasse sich zeigen, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa als Teil eines Gewalthandelns zu verstehen ist, dessen Ursachen sich erst aus dem größeren Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges erschließen. Wie Massenmord, Zwangsarbeit und Shoah mit der Vertreibung der Deutschen zusammenhängen und was diese wiederum mit den Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen und Deportationen von Polen, Ukrainern und Weißrussen oder Litauern, Letten und Esten verbindet, werde erst an solchen topographischen Modulen verständlich. Aber auch die Wiederbesiedlung der Vertreibungsgebiete, das Scheitern wie das Gelingen der Integration von Vertriebenen in ihrer jeweiligen neuen Heimat und nicht zuletzt der erinnerungskulturelle Umgang mit dem Vertreibungsgeschehen lasse sich auf diese Weise angemessen veranschaulichen. Es bleibt zu ergänzen, dass gerade die Darstellung konkreter Orte deutlich machen kann, wie sehr die Gesellschaften des östlichen Europas bis heute von Gewalt, Vernichtung und Vertreibung im Jahrzehnt zwischen 1938 und 1948 geprägt sind und welche Formen multiethnischen Zusammenlebens und nicht zuletzt auch deutscher Kultur im östlichen Europa durch Flucht, Vertreibung und Massenmord zerstört wurden.

Der topographische Ansatz beruht auf zwei Thesen, die unmittelbar an die Frage nach den Ursachen und Kontexten der Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa rühren. Erstens könne die Ausstellung auf diese Weise zeigen, dass die Ursachen der Vertreibung im Zweiten Weltkrieg liegen und nur aus diesem Kontext heraus verständlich werden. Sie richtet sich damit unmittelbar gegen die Aussage der 2006 im Kronprinzenpalais gezeigten Ausstellung „Erzwungene Wege“, dass die tiefere Ursache von Zwangsmigrationen im vermeintlichen „Jahrhundert der Vertreibungen“ auf das abstrakte Prinzip des ethnisch homogenen Nationalstaats zurückzuführen sei. Zweitens impliziert der topographische Ansatz, dass die Ursachen des hochkomplexen Gewaltgeschehens mindestens ebenso sehr in alltäglichen, lokalen Spannungen und Gewaltbeziehungen zu suchen seien wie in den Beschlüssen und Planungen maßgeblicher Politiker wie Hitler oder Stalin, Beneš oder Churchill. Auch für diese These spricht in der Tat vieles. Zwar ging die systematische, auch in ihrer konkreten Durchführung bürokratisch bis in die Details durchgeplante Vertreibung von Millionen Menschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, aus der Tschechoslowakei, Ungarn oder Jugoslawien ebenso auf zentrale Beschlüsse zurück wie die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nur aus den Vorgaben der Wannsee-Konferenz oder des Generalplans Ost verstanden werden kann. Das konkrete Morden, Vertreiben und Erniedrigen lässt sich jedoch nur aus lokalen Bezügen erklären. Dies gilt cum grano salis auch für die Orte, die das Papier für die topographischen Module vorschlägt.

Stehen diese lokalen Ursachen der Vertreibung im Widerspruch zu den „europäischen Dimensionen“ der Vertreibungen, die laut Stiftungsgesetz in der Dauerausstellung zu berücksichtigen sind? Martin Schulze Wessel hat auf der Podiumsdiskussion des Historikertags am 29. September 2010 zu diesem Thema darauf verwiesen, dass der Zweite Weltkrieg und damit die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ein europäisches Phänomen gewesen seien. Lokale und europäische Dimension waren deshalb unmittelbar ineinander verschränkt. Noch offener liegen die europäischen Dimensionen auf der Hand, wenn wir nach den politischen Entscheidungen fragen, die dem Vertreibungsgeschehen zugrunde lagen. So hat sich Churchill ausdrücklich auf das Abkommen von Lausanne bezogen, um die Beschlüsse von Potsdam vorzubereiten und zu rechtfertigen. Weniger eindeutig belegt ist Hitlers Aussage vom August 1939, der Völkermord an den Armeniern sei längst vergessen. 1 Es lässt sich aber auch in der deutschsprachigen Publizistik seit dem Ersten Weltkrieg ein kontinuierlicher Bezug auf Zwangsaussiedlungen und Vertreibungen in Südosteuropa nachweisen, die als Inspiration und Modell für eigene Planungsphantasien herhalten mussten. Solche Bezüge zwischen verschiedenen Vertreibungen in Europa kann, ja muss die geplante Ausstellung thematisieren. Dafür bedarf es jedoch keiner umfassenden Darstellung des Völkermords an den Armeniern oder des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches. Im Gegenteil. Denn solche europäischen Querbezüge sind marginal, wenn es darum geht, die Ursachen von Gewaltherrschaft und Vertreibungen zu erklären, die im Kontext des Zweiten Weltkrieges stattfanden. Eine Zusammenschau, ein breites Panorama des unterschiedlichen Vertreibungsgeschehens vom Völkermord an den Armeniern über den Zweiten Weltkrieg bis hin zu den „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien oder Kroatien, die sich auf solche Zusammenhänge und Querverbindungen beruft, unterliegt einer schwerwiegenden Fehlperspektivierung, weil sie diese gegenüber den Ursachen der Vertreibung der Deutschen aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs, aber auch aus dem Kontext wachsender Gewaltbereitschaft und Gewalthandelns in Europa seit 1914 massiv übergewichtet. Ein Zusammenhang wäre hier eher in den Schützengräben vor Verdun zu suchen als in Trabzon oder Van, Izmir oder Saloniki, Vukovar oder Srebrenica. Eine Ausstellung zur Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, wie sie Michael Wildt vorschlägt, zu den Zusammenhängen von Rassismus und Vertreibung, Stalinismus und Shoah wäre völlig anders zu konzipieren als ein europäisches Panorama der Vertreibungen. Letzteres suggeriert zudem ein kontinuierliches Aufschaukeln von Nationalitätenproblemen und Gewaltbereitschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und lässt damit die in der Forschung vielfach herausgearbeiteten Ansätze der Zwischenkriegszeit außer Acht, ethnische Konflikte einzudämmen oder zumindest in ihrem Gewaltpotential zu entschärfen. Es führte eben kein direkter Weg von Versailles und St. Germain über Lausanne nach Jalta und Potsdam.

Die europäische Dimension lässt sich sowohl in den lokalen Handlungszusammenhängen wie in den zentralen politischen Entscheidungen darstellen, sie muss jedoch angemessen gewichtet werden. Was aus der Stiftung bislang zu diesem Thema zu vernehmen war, lässt befürchten, dass diese sich dem Problem verweigert oder es möglicherweise nicht verstanden hat. Manfred Kittel hat auf der Tagung des DHM am 18. September 2010 die Absicht der Stiftung erläutert, wegen des exemplarischen Charakters in der Dauerausstellung ausführlich auch den im Abkommen von Lausanne international sanktionierten Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken sowie die „ethnischen Säuberungen“ der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren zu schildern. 2 Zugleich betonte er, dass dieser Zugang nicht im Widerspruch dazu stehe, den „ungeheuren Zivilisationsbruch“ durch das nationalsozialistische Deutschland als zentrale Ursache auch für die Bereitschaft der Westmächte anzusehen, der Vertreibung der Deutschen zuzustimmen. An der Frage, wie sich die Ursachen der Vertreibung in einer Ausstellung darstellen lassen, geht dieses Argument vorbei. Die Ausstellung der „Erzwungenen Wege“ hat vielmehr überdeutlich gemacht, dass ein solcher Ansatz die Ursachen der Vertreibung verwischt, gar verzerrt, so lange sie darauf hinausläuft, Parallelen nahezulegen, noch dazu in der Konzentration auf das unbestrittene Leid der Vertreibungsopfer. Ihrem gesetzlichen Auftrag, „das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wach zu halten“, kann die Stiftung so nicht gerecht werden. Es kann zudem kaum das Ziel sein, neben den komplexen Ursachen des Vertreibungsgeschehens im und nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch die zentralen Unterschiede zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch oder zu den Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien differenziert herauszuarbeiten. Damit wäre jede Ausstellung heillos überfordert. Der topographische Zugang kann dagegen zeigen, dass der nationalsozialistische Vernichtungskrieg eben nicht nur die Bereitschaft der Westmächte begründete, der Vertreibung der Deutschen zuzustimmen. Er brachte diese Vertreibung überhaupt erst hervor.

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Joachim von Puttkamer ist Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Oktober 2010 leitet er gemeinsam mit Wlodzimierz Borodziej das Imre Kertész Kolleg Jena „Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“. Zuletzt veröffentlichte er die Monographie: Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. München 2010 [Oldenbourg Grundriss der Geschichte 38].

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Anmerkungen:
1 Zur problematischen Überlieferung des Zitats siehe den Beitrag von Michael Wildt vom 14.09.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=13641364>.
2 Das Ausstellungs- und Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Redebeitrag von Prof. Dr. Manfred Kittel auf der Tagung Flucht, Vertreibung, „ethnische Säuberung“. Eine Herausforderung für Museums- und Ausstellungsarbeit weltweit, 18. September 2010: <http://www.dhm.de/sfvv/docs/Vortrag_Kittel_Symposium2010.pdf>.