Historikertag 2010: 'Humanitarismus' und 'Entwicklung'

Von
Martin Rempe, Freie Universität Berlin / Heike Wieters, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Besprochene Sektionen

"Humanitäre Entwicklung und Rassismus in Afrika südlich der Sahara 1920-1990"
"Genealogien der Menschenrechte"
"Humanitäre Interventionen und transnationale Öffentlichkeiten seit dem 19. Jahrhundert"
"Creating a World Population: The Global Transfer of Population Control in the 20th Century"

Der Versuch, vier Sektionen des Berliner Historikertages aneinander binden zu wollen, birgt unweigerlich die Gefahr, tendenziell Inkompatibles auf Biegen und Brechen passend zu machen. Die gemeinsame Betrachtung der Oberthemen Rassismus und Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Interventionen, Menschenrechte sowie Bevölkerungspolitik droht in der Tat recht assoziativ zu werden, gehört doch keines dieser Themen zu den traditionellen und lang bearbeiteten Forschungsfeldern der deutschen Geschichtswissenschaft. Dass hinsichtlich methodologischer und thematischer Bandbreite, forschungspraktischer Fragen und inner- wie interdisziplinärer Schnittstellen dadurch ein weites Feld eröffnet wird, lässt sich jedoch umgekehrt auch als erste Gemeinsamkeit aller vier Bereiche deklarieren. Diese Offenheit bringt Vor- und Nachteile: Argumentative Kantersiege und kanonische innerdisziplinäre Bezüge scheinen im Vergleich mit anderen Forschungsfeldern seltener, dafür sind ungeklärte Fragen und neue Ansätze Legion. So verwundert es nicht, dass die Zahl an Forschungsprojekten, Qualifikationsarbeiten und sonstigen Publikationen in den letzten Jahren geradezu sprunghaft angestiegen ist. Alle vier Themen sind in den letzten Jahren – etwas salopp gesagt – sexy geworden. Doch was verbindet sie darüber hinaus?

Im Hinblick auf die Anlage aller vier Sektionen wäre da zunächst einmal die trans- und internationale Perspektive zu nennen – das Motto des diesjährigen Historikertages „Über Grenzen“ wurde somit durchwegs und in beispielhafter Art und Weise aufgegriffen. In der Zusammenschau lässt sich ein klarer Trend innerhalb der Geschichtswissenschaft erkennen, internationale Geschichte nicht mehr ausschließlich als Diplomatie- oder Politikgeschichte zu deuten, sondern den Akteursradius zu erweitern: Neben Internationalen Organisationen rücken zunehmend halbstaatliche und private Entwicklungsagenturen, wissenschaftliche Experten, aber auch zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen in den Fokus. Zweifellos verspricht eine derartige Erweiterung grundlegende neue Einsichten hervorzubringen. Die vielfältigen Handlungsradien unterschiedlicher Akteure in den Blick zu nehmen, ergänzt die ehedem staatsfixierte Perspektive um eine wesentliche, namentlich transnationale Dimension. Neue Formen von Governance jenseits des Nationalstaates, die sich etwa im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit oder des international relief herausbildeten, bedürfen einer Integration in historische Forschungsdesigns, nicht zuletzt um die zumeist recht statischen politikwissenschaftlichen Governancemodelle zu ergänzen und historisch zu perspektivieren. Es ist ein großes Verdienst aller vier Sektionen, dabei Themenbereiche auf die Tagesordnung gesetzt zu haben, die vor wenigen Jahren noch außerhalb des Blickfeldes der historischen Zunft lagen.

Gemeinsam war allen Sektionen zudem ein äußerst breiter, teils auch interdisziplinärer Zugriff auf ihr jeweiliges Oberthema. So brachte STEFAN-LUDWIG HOFFMANN (Potsdam) in seinem konzeptionell sehr überzeugend aufgestellten Panel ganz unterschiedliche Menschenrechtsnarrative miteinander ins Gespräch. Bereits in der Einführung stellte er klar, dass es der historischen Forschung zum vergleichsweise jungen Themenfeld Menschrechte nicht um gefällige Scheindebatten gehen dürfe. Unterschiedliche Ansätze und Perspektiven der Ideengeschichte, der Politik-, Rechts- und Mediengeschichte, aber auch anderer wissenschaftlicher Disziplinen müssten miteinander in Dialog treten, um sich gegenseitig in Frage stellen und so Synergieeffekte erzielen zu können. Paradigmatisch zeigte sich dies an der Einbeziehung von HANS JOAS (Erfurt/Chicago), dessen Thesen durchaus den Sozialwissenschaftler und Philosophen verrieten. Dennoch gelang es ihm, seine Überlegungen als Diskussionsgrundlage für darüber hinaus gehendes historisches Arbeiten anzubieten. Im Hinblick auf die Erweiterung von Perspektiven internationaler Geschichte lässt sich ferner JAN ECKELs (Freiburg) Vortrag hervorheben. Sein Beitrag lenkte den Blick auf eine menschenrechtsgeleitete Neuausrichtung und damit eine Humanitarisierung der internationalen Beziehungen in den 1970er-Jahren. Während einige seiner Beispiele durchaus im Rahmen konventioneller bilateraler Politik- und Diplomatiegeschichte blieben, stellte die Betonung des Faktors Menschenrechtsaktivismus durch NGOs und andere kollektive Akteure eine interessante und lohnenswerte Ergänzung dieser Perspektive dar.

Eine gleichfalls erweiterte, in diesem Fall wissenschaftsgeschichtlich orientierte Perspektive ließ sich in der von VERONIKA LIPPHARDT (Berlin) und CORINNA R. UNGER (Bremen) geleiteten Sektion zu „Population Control“ im 20 Jahrhundert beobachten. Neben einer globalgeschichtlichen Makroperspektive auf die Entstehung verschiedener Wissenssysteme von und über „Weltbevölkerung“ sollten auch Implementierungsprozesse und Rückkoppelungen von Mikro- und Makrostrukturen in den Blick genommen werden. Während „Population Control“ bisher häufig als „top down“ Prozess untersucht werde, müssten künftig auch gegenläufige Entwicklungen und Implementierungs- und Adaptionspraktiken von „Wissen“ vor Ort untersucht werden. Gerade das Forschungsfeld „Bevölkerungskontrolle“ müsse als multidimensionaler Prozess erforscht werden, der Wissenstransfers und wissenschaftliche Verarbeitung von vermeintlich neutralem Wissen vor einem bestimmten politisch-kulturellen Hintergrund untersuche. Diese Agenda erwies sich allerdings als voraussetzungsreich. Analysen, die die Entwicklung von Technologien, Institutionen und das Nebeneinander oftmals disparater Diskurse auf globalem wie lokalem Niveau in den Fokus nehmen und zueinander in Beziehung setzen, scheinen beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch etwas verfrüht, da die Vortragenden dem Anspruch der Sektionsleiterinnen nicht vollständig gerecht werden konnten. Ungeachtet dessen machte die Einbeziehung medizinhistorischer Forschungsprojekte deutlich, dass es nicht immer die unmittelbar am Wegesrand liegenden Themen sein müssen, die wesentliche Einsichten in ein übergeordnetes Thema versprechen. So konnte JESSE OLSZYNKO-GRYN (Cambridge) in seinem Vortrag zur (Weiter-)Entwicklung von Sterilisierungspraktiken bei Frauen in den USA, Indien und Pakistan ab den 1960er-Jahren illustrieren, dass die Produktion und Anwendung wissenschaftlichen „Wissens“ niemals losgelöst vom jeweiligen soziokulturellen Kontext betrachtet werden kann und soziale Errungenschaften nicht in jedem Umfeld auch als solche funktionieren.

Das hier identifizierte Problem der Rückbindung spezifischer Fallstudien an den größeren politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt ökonomischen Kontext wurde ebenso in der Sektion zu Rassismus und Entwicklungszusammenarbeit in Afrika im 20. Jahrhundert sichtbar. In diesem Panel dominierte, etwa in den Beiträgen von HUBERTUS BÜSCHEL (Gießen), RICHARD HÖLZL (Göttingen) und MARCEL DREIER (Basel), der kulturgeschichtliche Blick auf die konkrete (post)koloniale Situation und rassistisch konnotierte Begegnungen zwischen (weißen) Entwicklungshelfern und (schwarzer) indigener Bevölkerung. Erst im Vergleich mit dem wissensgeschichtlich angelegten Beitrag von DANIEL SPEICH (Zürich), der das Verschwinden der Kategorie ‚Rasse’ innerhalb der Entwicklungsökonomie nach 1945 nachzeichnete, gewann das eingangs von den Sektionsleitern diagnostizierte Paradoxon zwischen diskreditierten rassistischen Denkweisen in Theorie sowie Wissenschaft und gelebten Rassismen in der entwicklungspolitischen Praxis an Plausibilität.

Das von MARTIN H. GEYER (München) geleitete Panel setzte demgegenüber – zumindest dem Titel nach – humanitäre Interventionen in Bezug zur Entstehung transnationaler Öffentlichkeiten und zielte dadurch auf eine Erweiterung der internationalen Geschichte in gleich doppelter Hinsicht ab, zumal mediengeschichtliche Dimensionen ebenso akzentuiert werden sollten wie das politische Handeln transnationaler Akteure im Rahmen humanitärer Interventionen. So aufschlussreich die drei Vorträge von FABIAN KLOSE (München), VOLKER BARTH (Köln) und DANIEL MAUL (Gießen) für sich genommen waren, so gelang es nur letzterem in seiner Analyse von internationalen relief Aktionen des amerikanischen Roten Kreuzes ansatzweise, einen Bogen zwischen beiden Ansätzen zu spannen und Reaktionen der Öffentlichkeit mit einzustreuen.

Auch in dieser Sektion wäre deshalb weniger vielleicht mehr gewesen, zumal das in der anschließenden Diskussion zu beobachtende Ringen um Begrifflichkeiten allein bereits den großen Mehrwert des Panels verdeutlichte. Begriffsbildung ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft, und so zeigte es sich in allen vier Sektionen, dass es behutsamer begrifflicher Annäherungen bedarf, um das jeweilige Forschungsfeld erst einmal zu ‚sichern’ und eine gemeinsame Basis für darauf folgende Analysen zu finden.

Dabei traf der Versuch, den Begriff der „humanitären Intervention“ für verschiedene Prozesse des 19. Jahrhunderts fruchtbar zu machen, auf deutliche Ablehnung im Publikum. Heutzutage verstanden als militärisches Eingreifen, dessen Rechtfertigung in der Verletzung von Menschenrechten gründet, wertete Fabian Klose demgegenüber den Aufbau einer transnationalen Gerichtsbarkeit – der sogenannten mixed commissions – in verschiedenen westafrikanischen Kolonien zur Durchsetzung des 1807 in London verabschiedeten Verbots des Sklavenhandels als erste und längste humanitäre Intervention in der Geschichte. Kloses Begründung basierte im Wesentlichen auf einem Quellenzitat, demzufolge jene Maßnahme „in the cause of humanity“ erfolgt sei. Abgesehen davon, dass jene Gerichte dazu dienten, die imperiale Kontrolle des Empire zu festigen, wie Kommentator SAMUEL MOYN (New York) und andere herausstrichen, wurde in Kloses Argumentation auch nicht erkennbar, wie sich eine britische Politik der ‚humanitären Intervention’ von ‚regulärer’ britischer Kolonialpolitik abgrenzen ließe. Kurzum überwogen letztendlich starke Zweifel darüber, jenen Begriff derart weit zu fassen.

In der Sektion zu ‚Population Control‘ wurde ebenfalls deutlich, dass die „Weltbevölkerung“ ein schwer fassbarer Begriff sei, den es letztlich zu dekonstruieren gelte. Wer ab wann von wem als Teil dieser verallgemeinerten Kategorie gesetzt wurde, muss sehr genau differenziert werden. Dies zeigte beispielsweise auch die Diskussion im Anschluss an den Vortrag von SYBILLA NIKOLOV (Bielefeld), die zur graphischen Darstellung von Bevölkerungsstatistiken am Beispiel Otto Neuraths referierte.

Abgesehen davon sollte Bevölkerungspolitik keineswegs mit Bevölkerungsbegrenzung gleichgesetzt werden, wie ALEXANDRA WIDMERs (Berlin) Vortrag zur Verbesserung der Geburtsmedizin durch die britische Kolonialverwaltung in Vanuatu illustrierte. Den vor Ort implementierten medizinischen Vor- und Nachsorgepraktiken ging die von Beamten und christlichen Missionaren artikulierte Sorge über einen massiven Bevölkerungsrückgang auf der südpazifischen Inselgruppe voraus.

Wie wichtig die Arbeit an der begrifflichen Basis sein kann, zeigte sich ferner auch in der Menschenrechtssektion. Die in der Diskussion aufgebrachte Frage nach „sozialistischen“ Menschenrechtskonzeptionen – man könnte aber ebenso an die Entstehung islamischer Menschenrechte denken – führte allen Teilnehmenden klar vor Augen, dass es sich bei „den Menschenrechten“ um einen sehr dehnbaren Begriff für oftmals sehr unterschiedliche Narrative handelt, der nicht mit dem abschließenden Verweis auf die Französische Revolution oder die UN-Charta von 1948 als definiert betrachtet werden kann. Die Frage, ob sich komparative Annäherungen zwischen sozialen Rechten und den besonders von Samuel Moyn betonten disparaten „westlichen“ Menschenrechtsnarrativen anbieten, offenbarte zudem mögliche Fallstricke und terminologische Geflechte, die sehr vorsichtig entworren und neu zusammengesetzt werden wollen. So sagt der performative Akt einer Berufung auf Menschenrechte noch nichts über die zu Grunde liegende Menschenrechtskonzeption aus. Vielmehr sollten Menschenrechte als Teil verschiedener Diskurse und daraus folgender Praktiken untersucht werden.

Schließlich blieben auch in der Diskussion um Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit kritische Töne am Rassismusverständnis der ReferentInnen nicht aus, die ihren Vorträgen insoweit eine weiche Definition von Rassismus zugrunde legten, als jegliches othering zwischen Europäern und Afrikanern mit Rassismus in Verbindung gebracht wurde. Kommentator PATRICK HARRIES (Basel) wies demgegenüber zurecht daraufhin, dass Konflikte und daraus resultierende Differenzkonstruktionen nicht ausschließlich rassistisch motiviert sein mussten, sondern beispielsweise ebenso auf Klassenunterschiede oder Geschlechterverhältnisse zurückgeführt werden könnten. Gerade in dieser Hinsicht machte sich ein Stück weit die fehlende Rückbindung an den politischen Diskurs bemerkbar, da sich beispielsweise afrikanische Regierungsvertreter nicht selten einer ganz ähnlichen Sprache in Bezug auf ihre Landbevölkerung bedienten wie europäische Entwicklungsexperten.

Die teils sehr ausführlichen Diskussionen um Terminologien verweisen darauf, dass die jeweiligen Forschungsfelder noch eine Menge Arbeit vor sich haben, zugleich in ihnen aber auch einiges an Potential schlummert. Was schließlich bleibt, ist ein caveat – und viel Zuversicht: Anzumahnen ist, dass gerade bei den thematisch durchaus reizvollen Detailstudien auch Grenzen historischer Erkenntnis und teils auch methodisch-perspektivische Fallstricke manifest wurden. So hätte es einigen Vorträgen gut getan, ein wenig über rein deskriptive Ebenen hinaus zu blicken, verstärkt nach Erklärungen zu suchen und nicht zuletzt eine konsequentere Rückbindung an politische, aber auch gesellschaftliche und ökonomische Strukturen und Entwicklungen anzustreben. Die Anlehnung an sozial- oder politikwissenschaftliche Theoreme oder die Historisierung derselben hätte sicherlich einiges an Tiefenschärfe und Stringenz erbracht. Man muss nicht zwingend eine detaillierte Netzwerkanalyse betreiben, um der Frage nach den Beziehungen verschiedener Akteure Aufmerksamkeit zu widmen. Dies in Rechnung gestellt, überwiegt dennoch die Zuversicht darüber, dass die internationale Geschichte durch neue Themenfelder und innovative interdisziplinäre Perspektiven in den nächsten Jahren eine ungemeine Bereicherung erfahren wird. Besonders die Sektion zu Bevölkerungskontrolle fiel positiv durch die regen und ergebnisoffenen Diskussionen im Anschluss an die Vorträge auf. Doch auch insgesamt stimmt optimistisch, dass in Berlin ein konstruktiver und offener Austausch der historischen Zunft beobachtet werden konnte, was darauf schließen lässt, dass selbst die letzten Verfechter des methodischen Nationalismus inzwischen die Notwendigkeit der Einbeziehung transnationaler Perspektiven in die geschichtliche Forschung anerkannt haben. So werden die vorgestellten und in Angriff genommenen Projekte von Vanuatu bis Indien, von Tokio bis San Francisco und von der afrikanischen bis zur chilenischen Westküste sicherlich wesentlich dazu beitragen, die in aller Munde geführte Globalgeschichte mit weiterer und vor allem empirisch gesättigter Nahrung zu versorgen.