Historische Anthropologie und Europäische Ethnologie: Zur epistemologischen Verklammerung von Geschichte und Gegenwart in einem Forschungsprogramm

Von
Jens Wietschorke, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien

Historische Anthropologie ist eine Forschungsrichtung, die aus einer Erneuerungsbewegung der Geschichtswissenschaften hervorging und auf ganz verschiedene genealogische Herleitungen verweisen kann. Das Spektrum reicht von der klassischen deutschen Kulturgeschichte und der Historischen Soziologie über die Mentalitätengeschichte der „Annales“ bis hin zur Alltags- und Mikrogeschichte der 1980er-Jahre sowie die Traditionslinien der Philosophischen Anthropologie. Begriffsprägend war die Orientierung von Teilen der Geschichtswissenschaften an Methoden und Zugangsweisen der Kultur- und Sozialanthropologie. Dabei sind deren Forschungsarbeiten teilweise nur sehr verkürzt rezipiert worden, wobei man sich zudem von „ziemlich abseitigen Vorstellungen über diese Disziplin nicht hat lösen mögen“.1 Das Programm aber war relativ klar konturiert: Die Annäherung an qualitative anthropologische Ansätze sollte die Dominanz eines strukturfixierten Blicks auf die Sozialgeschichte brechen, die Betonung des Kulturbegriffs sollte die „agency“ der historischen Akteure in den Mittelpunkt rücken: ihr konkretes Handeln, ihre Deutungsmuster und ihre Selbst- und Fremdbilder. „Historische Anthropologie“ lässt sich von hier aus als Versuch charakterisieren, die ungeheure Komplexität von Lebenswelten und der „lived experience“ zumindest theoretisch als den Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung zu bestimmen. Zugleich aber war die Tendenz zur Historischen Anthropologie auch Teil einer reflexiven Wende, wie sie die Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt in den 1980er- und 1990er-Jahren durchliefen. Was in der Ethnologie unter dem Etikett von „writing culture“ debattiert wurde, erreichte ansatzweise auch Teile der Geschichtswissenschaften, deren auktoriales Schreiben im Sinne von „situated knowledge“, Narrativik und Dialogizität neu überdacht wurde.

Dass sich die ethnologisch inspirierte europäische Geschichtswissenschaft und die historisch arbeitende Europäische Ethnologie – respektive Volkskunde – in vielen ihrer Grundannahmen und Herangehensweisen treffen, ist vor diesem Hintergrund leicht nachvollziehbar. Denn in diesem traditionell mit „Volkskultur“ befassten Fach gehörte eine praxeologische und akteurszentrierte Perspektive auf historische Lebenswelten schon längst zu den Grundlagen. So gab es durchaus Fachvertreter, die disziplinäre Besitzansprüche anmeldeten, als sich in den 1980er-Jahren die Historische Anthropologie und mit ihr eine kulturgeschichtliche Volkskulturforschung im Spektrum der Geschichtswissenschaften zu etablieren begann. In einigen volkskundlichen Rezensionen historisch-anthropologischer Werke war damals ein skeptischer Unterton zu hören, und insbesondere als eine Gruppe deutscher Historiker/innen um Richard van Dülmen das Thema „Volkskultur“ entdeckte und überaus produktiv bearbeiteten, ohne sich dabei als bloße Nachhut der Volkskunde zu fühlen, klang immer wieder ein gewisses Konkurrenzdenken an. So schrieb der Volkskundler Andreas Kuntz in einem kleinen, 1995 publizierten Text: „Seit sich ein Teil der Geschichts- oder doch mindestens Sozialgeschichtswissenschaft in der Bundesrepublik anschickt, dem Pfad des ‚going native’ zu folgen und damit der weit über hundertjährigen Wissenschaftstradition der Volkskunde sich anzuschließen, seitdem sich der ‚Missionar im Ruderboot’ befindet [...], werden die Lebensformen der Menschen als ‚anthropological history’ untersucht“.2 Und wenig später findet sich nochmals der Hinweis darauf, dass das Fach Volkskunde der Historischen Anthropologie „allererst den Weg bereitet“ und dazu „die Vorlagen und Malbögen“ geliefert habe.3 Ein solches disziplinäres Selbstbewusstsein ist weder vor dem Hintergrund der transdisziplinären Genese historisch-anthropologischer Ansätze, noch in Rücksicht auf den „weit über hundertjährigen“ Beitrag der Volkskunde angebracht. Es erinnert an die kleinen Igel, die dem hin- und hereilenden Hasen ihr „Ick bün all hier“ nur deshalb entgegenhalten können, weil sie sich vom eigenen Fleck gar nicht erst wegbewegt haben. Sicherlich: Die Bemerkungen von Andreas Kuntz waren nicht zuletzt eine Reaktion auf das notorische Rezeptionsproblem der Europäischen Ethnologie. Denn freilich hatte man bei der Entdeckung der Volkskultur in den Geschichtswissenschaften – mit einigen gewichtigen Ausnahmen – die volkskundlichen Forschungsarbeiten nur wenig zur Kenntnis genommen. So fühlte man sich ausgerechnet in dem Moment übergangen, als die Stunde des eigenen Leib- und Magenthemas zu schlagen begann. Vereinzelte Überreaktionen sind da vielleicht verständlich.

Im Folgenden möchte ich einem Punkt nachgehen, der Europäische Ethnologie und Historische Anthropologie eng miteinander verbindet und in der vielleicht ein heimliches „essential“ dieses Forschungsprogramms gesehen werden kann: nämlich der epistemologischen Verklammerung von Geschichte und Gegenwart.4 Natürlich wird dieser Punkt von Geschichtswissenschaften und Europäischer Ethnologie in unterschiedlicher Weise und aus unterschiedlichen Perspektiven stark gemacht – gerade deshalb lässt sich an ihm aber auch so gut zeigen, welche neuen Wege die anthropologisch orientierte Geschichtsschreibung seit den 1980er- und 1990er-Jahren eingeschlagen hat und weshalb – unter anderem – dieses Paradigma einen prominenten Platz im Spektrum der historiographischen Zugangsweisen verdient. Wenn Hans-Ulrich Wehler auf die Frage nach Alternativen zur Historischen Sozialwissenschaft trocken antwortet: „Historische Anthropologie – sehe ich überhaupt nicht“5, dann ist das nicht nur einer alten, schon aus den Debatten um die Alltagsgeschichte bekannten Ignoranz geschuldet, sondern zeigt auch, dass es weiterhin notwendig ist, auf die Vorzüge einer akteurs- und praxiszentrierten, dabei methodologisch flexiblen und reflexiven Historiographie hinzuweisen. Um das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart in der Historischen Anthropologie näher zu erläutern, ziehe ich hier zwei ältere Texte heran, die aus sehr unterschiedlichen Kontexten stammen, aber ein ähnliches Thema behandeln. Vor allem aber verbindet sie eine Zugangsweise, die weder theoretischen noch methodologischen Charakter hat, sondern im Bereich der Epistemologie liegt.6

Im Jahr 1936 hat die Wiener Historikerin und Febvre-Mitarbeiterin Lucie Varga in den berühmten „Annales d’histoire économique et sociale“ eine mentalitätsgeschichtliche Studie über das Montafon veröffentlicht: „Dans une vallée du Vorarlberg: d’avant-hier à aujourd’hui“. Der Untertitel ist bedeutsam: Wenn Varga ihre Untersuchung in einem Zeitrahmen zwischen „vorgestern und heute“ ansiedelt, dann verweist sie nämlich auf einen bestimmten Modus, Geschichte und Gegenwart ins Verhältnis zu setzen. „Zwischen vorgestern und heute“ – das meint nicht einfach nur einen diachronen Ablauf, sondern es deutet auf Spiegelreflexe zwischen den Epochen hin, die nur aus einer akteurszentrierten Perspektive sichtbar werden. Nicht zuletzt darin liegt der Innovationsgehalt dieser Arbeit: Lucie Varga rekonstruiert nicht nur eine bestimmte lokale Entwicklung, sondern nimmt vor allem das in den Blick, was die Bauern als „Früher“ bezeichnen – einen „historischen Sinn“ der Talbewohner, der dazu führt, dass das Heute stets an den erlebten und erinnerten Epochen der Lokalgeschichte gemessen wird.7 Damit nähert sich Varga der Geschichte nicht als einer abgeschlossenen Vergangenheit, sondern über die sozial ausgehandelte Historizität der Gegenwart8, was auch zu instruktiven Einsichten in den untrennbaren Zusammenhang von Modernisierung und Traditionalisierung führt.9 Für eine klassisch ausgebildete Geschichtswissenschaftlerin der 1930er-Jahre ist das ein geradezu revolutionär neuer Zugang. Dass die historische Betrachtung hier nicht ohne ethnographische Daten auskommt, liegt auf der Hand. So hat Lucie Varga, um ihre historische Fragestellung nach „Beziehungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Ideen“ sowie dem „Kontakt zwischen weniger und höher entwickelten Kulturen“ zu bearbeiten, bei keinem Geringeren als Bronislaw Malinowski Rat eingeholt und ist zu einer kleinen Feldforschung ins Montafon aufgebrochen.10 Denn „wenn wir eine Zeitlang mit den Methoden der Ethnologen das Leben einer bestimmten, relativ einfachen Menschengruppe in der Gesellschaft von heute beobachten, erhalten wir möglicherweise nützliches Material für die angesprochenen Tiefenanalysen“.11 In ihrer historisch-ethnographischen Untersuchung der dörflichen Mentalität in Bezug auf den sozialen Wandel und die Epochenbrüche der vergangenen Jahrzehnte konnte Varga nicht zuletzt zeigen, inwiefern die neuen nationalsozialistischen Ideen im lokalen Kontext als Modernisierungsfaktor wirkten – antiklerikal akzentuiert und von den „Deklassierten“ getragen. Zugleich war es das zunehmende Zerbrechen des sozialen Rahmens aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise, das die neue Bewegung als eine Bewegung der Zukunft im Gegensatz zu den Schichtungen des „Früher“ erscheinen ließ.12 Lucie Varga schloss ihre Untersuchung mit einer Frage: „Wohin wird das führen? Wir können nur beobachten. Wir sind keine Propheten. In fünf, zehn oder zwanzig Jahren wissen wir mehr“.13

Knapp vierzig Jahre nach Vargas Studie haben sich die Tübinger Volkskundler Utz Jeggle und Gottfried Korff mit der „Entstehung des Zillertaler Regionalcharakters“ befasst und damit – wie zuvor Lucie Varga – ebenfalls ein österreichisches Tal in den Blick genommen. Sie weisen nach, dass der „Homo Zillertaliensis“ als Produkt einer ökonomisch motivierten Selbstfolklorisierung verstanden werden muss – einer Vermarktungsstrategie, bei der Waren und Dienstleistungen zusammen mit volkskultureller „Authentizität“ angeboten wurden.14 Dieses folkloristische Muster aus dem 19. Jahrhundert habe sich – so Jeggle und Korff – mentalitätsgeschichtlich und habituell verfestigt. Dem Zillertaler ist sein Verhalten „zur zweiten Natur geworden. Das Klischee, das er als Verkaufsstrategie zum besseren Absatz seiner ‚heimischen’ Waren entwickelt hat, ist zum lebendigen Menschen geworden“.15 Oder anders ausgedrückt: Im Lauf der Geschichte hat sich der Rückgriff auf das „Früher“ in die Körper und Praktiken eingeschrieben – letztlich bis heute. So wurde aus dem imaginierten „Vorgestern“ im Zillertal der ökonomisch nutzbare Regionalcharakter des Zillertalers. Im Fokus des von Jeggle und Korff bearbeiteten „Folklorismus-Syndrom[s], als dessen potenzierte Form sich die Zillertal-Kultur ja bis heute darstellt“16, bilden Beziehungen zwischen „Vorgestern und Heute“ also auch hier die Konstellation, in die das Thema eingespannt wird – auch wenn der tatsächliche Zeitrahmen dieser Untersuchung nicht wesentlich weiter als bis zum Ersten Weltkrieg reicht. Zwischen Vorgestern und Heute liegt aber das Gestern als Bezugspunkt, der zum Verständnis der habitualisierten Identitätspolitiken notwendig ist. Was also die beiden hier kurz vorgestellten Texte verbindet, ist zum einen die Kombination aus sozial- und wirtschaftshistorischer Argumentation und politischer Gegenwartsanalyse, die vor allem dazu führt, dass gesellschaftliche Deutungsmuster von Historizität ausgeleuchtet, aber ihrerseits auch wieder in ihrer Genese historisch verstehbar gemacht werden. Ob Strategien des Umgangs mit der Wirtschaftskrise im Montafon 1936 oder der folklorisierte Tiroler Fremdenverkehr des 20. Jahrhunderts – in beiden Fällen wird die Gegenwartsgesellschaft als dynamisches Produkt und aktive Produzentin von Geschichte kenntlich. Zum anderen aber sind beide Arbeiten durch ihren mikrologischen Blick miteinander verbunden, so wie er 1993 im Editorial der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ charakterisiert worden ist: „Besondere Aufmerksamkeit gilt dem ‚kleinen’, aber ‚dicht’ beschreibbaren Wirklichkeitsausschnitt. Von diesem Beobachtungspunkt aus werden strukturelle Gegebenheiten und Veränderungen, wird Überindividuelles und Nichtintentionales als Bedingungsmoment historischer Lebenspraxis greifbar, ohne daß die spezifischen Erfahrungen und ‚eigensinnigen’ Selbstbilder und Praktiken der betrachteten Menschen außer acht gelassen würden“.17

Die Texte von Lucie Varga sowie von Gottfried Korff und Utz Jeggle lassen sich beide als historisch-anthropologische Arbeiten sui generis kennzeichnen. Sie bieten anschauliche Beschreibungen der lokalen Kontexte in Montafon und Zillertal, nehmen kleine Felder in den Fokus, arbeiten mit einer praxis- und akteurszentrierten Nahperspektive und zielen auf die Untersuchung kollektiver, milieuspezifischer wie individueller Deutungs- und Identifikationsmuster in der Bewältigung ökonomischer Krisensituationen. Vor allem aber überschreiten sie die dogmatischen Gemarkungen von „Gegenwart“ und „Vergangenheit“ im Sinne einer Kulturanalyse, die zeigt, dass sich eine bestimmte Gegenwart ohne ihre Geschichte ebenso wenig verstehen lässt, wie man Geschichte ohne die Perspektivierungen und Problematisierungen einer bestimmten Gegenwart beleuchten kann. In diesem Sinne verstehe ich „Historische Anthropologie“ nicht zuletzt als ein Programm, das diesen Gegensatz konzeptionell überwindet. Denn die Übernahme ethnologischer Verfahrensweisen in die Geschichtswissenschaft war immer auch ein Versuch, das historische Feld „präsent“ zu machen – es so zu behandeln, als wäre es eine quasi ethnographisch zu erforschende Gegenwart. Norbert Schindler schrieb 1984 über das Motiv der Feldforschung in der Historiographie: „Hinter der Metapher vom Dialog mit denjenigen, die – zumindest im ‚Feld’ des Historikers – nicht mehr für sich selbst sprechen können, steht das methodische Postulat, die Dinge in einer Art ‚teilnehmender Beobachtung’ so sehen zu lernen, wie sie gesehen wurden“.18 Solche Überlegungen führen hin zu der allgemeineren Frage nach dem epistemologischen Status von Gegenwart und Vergangenheit. Der Pionier der „Annales“-Geschichtsschreibung Marc Bloch hat bereits 1949 intensiv darüber nachgedacht. In seiner „Apologie der Geschichtswissenschaft“ schreibt er über die „historische Beobachtung“: „Die Erkenntnis des gesamten vergangenen und eines Großteils des gegenwärtigen menschlichen Tuns läßt sich zunächst [...] als eine Erkenntnis mittels Spuren charakterisieren. Ob es sich um Gebeine handelt, die in syrische Befestigungsanlagen eingemauert wurden, um ein Wort, dessen Form oder Bedeutung eine bestimmte Gepflogenheit verrät, oder um den Bericht, den der Augenzeuge eines längst [oder weniger lange] vergangenen Ereignisses verfaßt hat – was verstehen wir anderes unter einem Dokument als eine ‚Spur’, d.h. das sinnlich wahrnehmbare Zeichen, das ein selbst nicht mehr faßbares Phänomen hinterlassen hat?“19 Bloch zieht aus seinen Überlegungen den Schluss, dass „der Unterschied zwischen der Erkundung der fernen und der nahen Vergangenheit [...] nur gradueller Natur“ sei.20 Und tatsächlich: Wenn wir Kultur mit Clifford Geertz als zu entziffernden „Text“ verstehen, warum sollen dann nicht auch die Texte der „fernen Vergangenheit“ ethnographisch erschlossen und „dicht beschrieben“ werden können?

An Blochs Überlegungen ist schon die Kapitelüberschrift „Historische Beobachtung“ hochinteressant. Denn damit rückt der/die spurenlesende Historiker/in in eine Beobachterposition, die auf die Standortgebundenheit allen Wissens verweist. Von hier aus erklären sich die Versuche, „den Forschungsprozeß Schritt für Schritt transparent zu machen und ihn in seinem Werkstattcharakter sichtbar werden zu lassen“.21 Solche Forderungen richteten sich gegen die auktoriale Erzählhaltung der Historischen Sozialwissenschaft und machten ein selbstreflexives „writing culture“ auch in der Geschichtsschreibung stark. Im Anschluss an solche Positionsbestimmungen der „dichten Beschreibung“ in der historischen Forschung wird innerhalb der Europäischen Ethnologie seit einigen Jahren eine kleine Debatte um das Konzept „Historische Ethnographie“ geführt. Auch dabei geht es immer wieder um die Frage, wie sich eine historische Konstellation quasi-ethnographisch als „Feld“ denken und damit methodisch „vergegenwärtigen“ lässt. 2001 hat Kaspar Maase die „konkrete Mehrdeutigkeit, in der die Akteure der Vergangenheit sich bewegten“, als den Bezugspunkt historisch-ethnographischer Forschung bestimmt und damit ein Plädoyer für eine „spezifisch interpretative und selbstreflexive Untersuchungsmethode“ in der historischen Forschung gehalten.22 Katharina Eisch und Andrea Hauser haben in einer Publikation aus dem gleichen Jahr darüber nachgedacht, „inwieweit archivalische Forschung nicht nur mit Feldforschung kombiniert, sondern selbst als Feldforschung begriffen werden könnte“.23 Und in den letzten Jahren sind mehrere weitere Beiträge erschienen, welche die Frage nach der „historischen Feldforschung“ und der Reichweite des Ethnographiebegriffs diskutieren.24 Mit allen dort beschriebenen Techniken, die Vergangenheit heuristisch „in die Nähe zu holen“, sind – wenn auch sehr unterschiedliche – Modelle von Reflexion der eigenen Tätigkeit als Forscher/in verbunden: von der persönlichen Involviertheit ins Thema über die exakte Phantasie der historischen Spurensuche bis hin zu den Schritten der Kontext- und Bedeutungsproduktion im Schreiben.

Wenn die Geschichte als eine „vergangene Gegenwart“ gelten kann, dann kann auch die Gegenwart als eine „noch nicht vergangene Geschichte“ gelesen werden. So sind historische Perspektivierungen und Epistemologien auch in der gegenwartsethnographisch orientierten Europäischen Ethnologie zentral. Als wissensgeschichtlichen Grund dafür könnte man an dieser Stelle auf das spezifische Interesse der alten Volkskunde am „Leben in überlieferten Ordnungen“25 verweisen. Wo die Gegenwart vornehmlich unter dem Aspekt von Tradierung und Traditionalisierung untersucht wird, da entwickeln sich Techniken der Gegenstandskonstitution und Kontextualisierung, die der Geschichte von vornherein einen besonderen Platz einräumen. Das ethnographisch zu erfassende „Volksleben“ der Gegenwart war – ob nun als „Relikt“ oder als „lebendiger Überlieferungszusammenhang“ gedeutet – für die Volkskunde per se historisch verankert und nur sub specie historiae zu verstehen. Und auch das von der Volkskunde nach 1945 traktierte Thema „Folklorismus“ war ein Thema der wechselseitigen Spiegelungs- und Spannungsverhältnisse von Historizität, so wie sie auch von Utz Jeggle und Gottfried Korff vorgeführt wurden. Ausgehend von dieser fachspezifischen epistemologischen Blickeinstellung hat sich die Disziplin weiter zu einer „historisch ‚denkende[n]’ Kulturwissenschaft“26 bzw. „historisch argumentierende[n] Gegenwartswissenschaft“27 entwickelt – so Wolfgang Kaschuba in zwei neueren Standortbestimmungen der Europäischen Ethnologie –, einer Wissenschaft also, in der die Geschichte nicht nur einen Herleitungsdiskurs bildet, sondern einen Modus, den Gegenstand in seiner Historizität zu denken. Das bedeutet aber auch, den eigenen Standort zu historisieren und mit der erforschten Geschichte ins Verhältnis zu setzen: „Wir fragen, selbst wenn wir ‚historisch’ forschen, immer von heute und für heute. Anders zu fragen sind wir gar nicht in der Lage“.28

Eine solche besondere Aufmerksamkeit für die Historizität der Gegenwart, in der ich einen wichtigen Schlüssel für das Unternehmen „Historische Anthropologie“ sehe, ist auch von anderer Seite eingefordert worden. Pierre Bourdieu hat den Zugang seiner Kultursoziologie nämlich einmal in die etwas rätselhafte Bemerkung gefasst, diese sei letztlich „eine auf die Gegenwart angewandte vergleichende Geschichtswissenschaft“.29 Was ist damit gemeint? Bourdieu schreibt in der betreffenden Passage, „daß sich die innerste Logik der sozialen Welt nur erfassen läßt, wenn man ganz in die Besonderheit einer empirischen, in der Geschichte räumlich und zeitlich bestimmbaren Realität eindringt, aber nur, um sie als ‚besonderen Fall des Möglichen’ zu konstruieren [...], also als Einzelfall in einem endlichen Universum von möglichen Konfigurationen“.30 Was die „auf die Gegenwart angewandte vergleichende Geschichtswissenschaft“ also leistet, ist die Einsicht in die Strukturen des sozialen Raums – und zwar zugleich in ihrer Genese wie in ihrer generativen Bedeutung für gesellschaftliches Handeln. Auch der Habitusbegriff ist nicht zuletzt eine Vermittlungskategorie zwischen Geschichte und Gegenwart: Als opus operatum und modus operandi macht der Habitus erklärbar, wie soziale Strukturen in Praktiken, Praktiken wiederum in Strukturen übersetzt werden. Erkennen wir dies – mit Bourdieu – als ein wesentliches Moment von Gesellschaftsgeschichte, dann lässt sich die Differenz zwischen historischer und gegenwartsorientierter Forschung epistemologisch kaum aufrechterhalten. Sie wird dann vor allem zu einer Frage der Methodologie.

Carola Lipp hat vor über 15 Jahren in ihrer kritischen Zusammenschau der Neuen Kulturgeschichte fünf Punkte benannt, welche die Rezeption kulturanthropologischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft bestimmt haben: 1. die „Verfremdung“ des Blicks, 2. die induktive Entwicklung von Hypothesen aus dem Material, 3. die „mikroskopische Beschaffenheit“ (Geertz) von Feldern und Gegenständen der Forschung, 4. die emische Perspektive auf Bedeutungen sozialen Handelns und 5. der systematische Versuch einer „dichten Beschreibung“ von Lebenswelten“.31 Fragen wir darüber hinaus nach einer spezifischen Kompetenz, die die Volkskunde/Europäische Ethnologie in das transdisziplinäre Feld Historischer Anthropologie einbringen kann, dann ist sicherlich die besondere Erfahrung dieser Disziplin mit Verklammerungen von Geschichte und Gegenwart zu nennen. Für das Programm einer Historischen Anthropologie ist die Europäische Ethnologie insofern ein wichtiger Partner, als es kein anderes ethnographisch arbeitendes Fach mit einer vergleichbar intensiven historischen Perspektive und historischen Forschungserfahrung gibt. Sie ist „historisch denkende Kulturwissenschaft“, die sich aber gleichzeitig immer auch explizit historischen Feldern zugewandt hat. Was es also bedeutet, die Gegenwart konsequent zu historisieren und Geschichte im Modus eines quasi-ethnographischen Präsens in den Blick zu nehmen, das lässt sich hier besonders gut lernen. Zudem wird hier die Frage nach der wissenschaftlichen Reflexivität – auch im historischen Forschen – ernster genommen als anderswo: Das zeigen die Debatten über „historische Ethnographie“ ebenso wie neuere Anschlüsse an die Wissensforschung, mit denen über „situated knowledge“ nachgedacht wird. Was man eigentlich – von der Gegenstandskonstitution bis hin zur Kontextkonstruktion – tut, wenn man historisch forscht, das wird dabei ebenso diskutiert wie die experimentelle Frage, inwiefern man sich dabei selbst als Akteur in einem „Feld“ bewegt. Trotz alledem wäre es vermessen, die Europäische Ethnologie als eine heimliche Leitdisziplin der Historischen Anthropologie ausgeben zu wollen. Dazu sind ihre Leistungen auf diesem Gebiet vorläufig zu bescheiden. Um disziplinären Leistungsabgleich sollte es freilich in einem solchen weitgespannten intellektuellen Unternehmen auch nicht gehen. So empfiehlt sich der entspannte, nicht-kompetitive Blick auf fachspezifische Epistemologien schlicht und einfach, um voneinander zu lernen. Damit wäre schon ein wichtiger Schritt in Richtung Transdisziplinarität getan.

Anmerkungen:
1 Thomas Sokoll, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, in: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 233-272, hier S. 236.
2 Andreas Kuntz, Vorbemerkung, in: Ders. (Hrsg.), Lokale und biographische Erfahrungen. Studien zur Volkskunde, Münster 1995, S. IX-XIV, hier S. IX.
3 Ebd., S. X.
4 Vgl. dazu aus Sicht der Europäischen Ethnologie schon Lioba Keller-Drescher, Die Fragen der Gegenwart und das Material der Vergangenheit – Zur (Re-)Konstruktion von Wissensordnungen, in: Andreas Hartmann / Silke Meyer / Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Historizität. Vom Umgang mit Geschichte. Münster 2007, S. 57-68.
5 Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, S. 109.
6 Eine komprimierte Fassung der nachfolgenden Ausführungen erscheint zeitgleich unter dem Titel: Jens Wietschorke, Spiegelungen von Geschichte und Gegenwart. Historische Anthropologie und Europäische Ethnologie, in: Rebekka Habermas / Jakob Tanner / Beate Wagner-Hasel: 20 Jahre Zeitschrift „Historische Anthropologie“. Historische Anthropologie 2 (2012).
7 Lucie Varga, Ein Tal in Vorarlberg – zwischen Vorgestern und Heute, in: Dies., Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939, herausgegeben von Peter Schöttler, Frankfurt am Main 1990, S. 146-169, hier S. 148.
8 Varga hatte bereits in ihrer Dissertation von 1931 eine ähnliche Problemstellung bearbeitet: Ihre „Untersuchung über die Entstehung des Schlagworts vom ‘finsteren Mittelalter’” – so der Titel der Arbeit – behandelt ebenfalls eine Geschichte des Umgangs mit Geschichte. Vgl. Peter Schöttler, Lucie Varga – eine österreichische Historikerin im Umkreis der „Annales” (1904-1941), in: Lucie Varga, Zeitenwende, S. 13-110, hier S. 18-19.
9 So stellt Varga fest, dass die nach einem längeren Prozess der Modernisierung und habituellen Urbanisierung im Dorf die Krise der 1930er-Jahre zu Positionen führte wie: „Wir müssen zur Religion und Tradition zurückkehren.[...] Mit Religion und Obrigkeit werden wir zur guten alten Zeit zurückkehren”. Varga, Ein Tal in Vorarlberg, S. 160.
10 Zu Malinowskis Beitrag siehe die Danksagung Vargas in Anmerkung 1 des Aufsatzes, vgl. Varga, Ein Tal in Vorarlberg, S. 169. Zu Vargas Feldforschung generell vgl. Bernhard Purin, Das Früher und das Jetzt. Lucie Vargas Feldforschung im Montafon 1935 und die „nouvelle histoire”, in: Bludenzer Geschichtsblätter 13 (1992), S. 3-14.
11 Varga, Ein Tal in Vorarlberg, S. 146.
12 Ebd., S. 160-163.
13 Ebd., S. 168.
14 Utz Jeggle / Gottfried Korff, Zur Entstehung des Zillertaler Regionalcharakters. Ein Beitrag zur Kulturökonomie, in: Zeitschrift für Volkskunde 70 (1974), S. 39-57; Dies., Homo Zillertaliensis oder Wie ein Menschenschlag entsteht, in: Der Bürger im Staat 24 (1974), Heft 3, S. 182-188.
15 Ebd., S. 47.
16 Ebd., S. 50.
17 Richard Van Dülmen u.a., Editorial, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 1-3, hier S. 2.
18 Norbert Schindler, Spuren in die Geschichte der „anderen Zivilisation”. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: Richard Van Dülmen / Norbert Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, S. 13-77, hier S. 20.
19 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002, S. 63-64.
20 Ebd., S. 66.
21 Schindler, Spuren in die Geschichte, S. 20.
22 Kaspar Maase, Das Archiv als Feld? Überlegungen zu einer historischen Ethnografie, in: Katharina Eisch / Marion Hamm (Hrsg.), Die Poesie des Feldes. Beiträge zu einer ethnographischen Kulturanalyse, Tübingen 2001, S. 255-271, hier S. 270.
23 Katharina Eisch / Andrea Hauser, Erkundungen und Zugänge. Wie man zu Material kommt. Thesen und Diskussionspunkte, in: Klara Löffler (Hrsg.), Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde, Wien 2001, S. 61-63, hier S. 61.
24 Vgl. v.a. Michaela Fenske, Mikro, Makro, Agency – Historische Ethnografie als kulturanthropologische Praxis, in: Zeitschrift für Volkskunde 102 (2006), S. 151-177; Keller-Drescher, Die Fragen der Gegenwart und das Material der Vergangenheit; Jens Wietschorke, Historische Ethnografie. Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts, in: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), S. 197-224; Gesa Ingendahl / Lioba Keller-Drescher, Historische Ethnografie. Das Beispiel Archiv, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 106 (2010), S. 241-263.
25 Leopold Schmidt, Volkskunde als Geisteswissenschaft, in: Handbuch der Geisteswissenschaften, Band 2, Wien 1948, S. 9-31, hier S. 14.
26 Wolfgang Kaschuba, Europäische Ethnologie und der Raum der Geschichte, in: Berliner Blätter 13/14 (1997), S. 4-22, hier S. 5.
27 Wolfgang Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, 2. Auflage, München 2003, S. 85.
28 Konrad Köstlin, Im Feld. Zwischen Nähe und Distanz, in: Löffler (Hrsg.), Dazwischen, S. 7-11, hier S. 9.
29 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 14.
30 Ebd., S. 14.
31 Carola Lipp, Politische Kultur oder das Politische und Gesellschaftliche in der Kultur, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute (Geschichte und Gesellschaft: Sonderheft 16), Göttingen 1996, S. 78-110, hier S. 92.