Forum: K. Ubl: Mehr Kooperation!

Von
Karl Ubl, Historisches Institut, Universität zu Köln

Das Positionspapier spricht einen divergierenden Trend an: Immer mehr Originaldokumente aus der Vormoderne werden digital verfügbar gemacht, während die Vermittlung von Kompetenzen zur Deutung dieser Dokumente in der universitären Lehre fast im gleichen Ausmaß geschwunden ist.

Die Konsequenzen der digitalen Revolution wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Ganze Archive und Bibliotheken sind inzwischen im Netz verfügbar gemacht worden. Doch darin liegt meines Erachtens nicht die zentrale Bedeutung der digitalen Revolution für die Geschichtswissenschaft. Schließlich lagen auch zuvor die Originaldokumente für alle einsehbar in den Archiven und Bibliotheken bereit. Vor zehn Jahren tingelte man auf der Jagd nach karolingischen Handschriften noch mit dem Wohnmobil durch die Kleinstädte Frankreichs, heutzutage kann ein Großteil dieser Arbeit zuhause vor dem Bildschirm erledigt werden. Mehr Bequemlichkeit ja, aber mehr auch nicht.

Eine neue Qualität gewinnt die universale Verfügbarkeit erst mit den Chancen und Möglichkeiten der Erschließung, die von den Digital Humanities entwickelt und zur Verfügung gestellt werden. Interaktive Forschungsportale, digitale Editionen und Big-Data-Projekte schießen in Deutschland in letzter Zeit beinahe wie Pilze aus dem Boden. Eine vor kurzem vorgestellte Studie der Mellon Foundation unterstreicht die hohe Reputation Deutschlands im Bereich Digital Scholarship.1 Dennoch stehen diese Kooperationsprojekte von Geschichtswissenschaft und Digital Humanities noch am Rand der diskursiven Aufmerksamkeit. Man schaue nur auf die Rezensionsteile der wissenschaftlichen Zeitschriften: Jeder Sammelband wird dutzendfach besprochen, eine Sichtung und Bewertung der neuen digitalen Erschließungsprojekte wird dagegen nicht vorgenommen. Das gebundene Buch steht weiterhin im Fokus. Die Immaterialität des Netzes gereicht hier zum Nachteil.

Von dieser Entwicklung unabhängig kam es in den letzten Jahren zum allmählichen Abbau der historischen Grund- oder Hilfswissenschaften. Die Entwicklung folgte der Logik des Bologna-Prozesses. Im Rahmen der neuen Bachelor-Studiengänge war für dieses kleine Nebenfach kein Platz mehr. Dies als Verlust zu beschreiben, leuchtet ein. Gerade die Grundwissenschaften zwangen durch die quellenspezifische Perspektive zum Blick über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinaus. Historiker mit dieser Ausbildung entwickelten ein Verständnis für die gesamte Epoche, welches in der immer weiter voranschreitenden Spezialisierung der Wissenschaft verloren zu gehen droht. Die bestehenden Lehrstühle für Grundwissenschaften sollten daher unbedingt erhalten werden, auch um die Fortbildung der Methoden und der Inhalte dieser Disziplinen zu gewährleisten. Das Positionspapier fordert darüber hinaus eine „Verankerung von Grundwissenschaften an möglichst allen Historischen Seminaren“ – aber wie?

Eine Rückkehr zur guten alten Vergangenheit ist nicht denkbar. Im heutigen „Studienbetrieb“ kann es nur darum gehen, die Vermittlung solcher Fähigkeiten im akademischen Bachelor sowie vermehrt im Master-Bereich zu verankern. Möglicherweise ist es dann auch an der Zeit, die traditionelle Struktur des mittelalterlichen Pro- oder Einführungsseminars zu überdenken, da in vielen Studiengängen die Anfertigung einer Hausarbeit in einem weiterführenden Seminar gar nicht mehr erforderlich ist. Die Differenzierung der Studiengänge sollte auch eine Differenzierung des Unterrichts zur Folge haben. Dann müssten auf Master-Ebene aber auch genügend Freiräume geschaffen werden, um Fertigkeiten und Kenntnisse der Historischen Grundwissenschaften zu erlernen. Hier können die außeruniversitären Forschungsprojekte, Institute und Archive in den Dienst genommen werden, die durch ihre vielfältigen Kooperationen mit den Universitäten die Sonderstellung der deutschen Geschichtswissenschaft ausmachen. Daneben sollte bei den Einrichtungen zur Forschungsförderung ein Bewusstsein für diesen divergierenden Trend geschaffen werden, damit bei der Mittelvergabe auch Projekte mit einer grundwissenschaftlichen Ausrichtung zum Zuge kommen. Die Akademienunion beschreitet seit langem diesen Weg, aber auch die DFG sendet in letzter Zeit wieder positive Signale aus (siehe das jüngst bewilligte Wuppertaler Graduiertenkolleg). Die größte Chance, den Grundwissenschaften wieder Relevanz zu verleihen, sehe ich jedoch in der Kooperation mit den Digital Humanities. Beide brauchen einander dringend: So manches Projekt der Digital Humanities ist gescheitert (oder drohte zu scheitern), weil die erforderlichen Kompetenzen in den Grundwissenschaften nicht vorhanden waren. Um dieses Potential auszuschöpfen, ist allerdings auch ein Umdenken der häufig traditionalistisch arbeitenden Grundwissenschaften erforderlich. Mancherorts ist man schon auf gutem Weg – viel bleibt aber noch zu tun.

Eine Übersicht über alle Beiträge des Diskussionsforums finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890>.

Anmerkung:
1 Siehe <http://www.clir.org/pubs/reports/pub168> (19.11.2015).