Review-Symposium "Westforschung": Beitrag M. Middell

Von
Matthias Middell, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Es erscheint sinnvoll, einleitend zu diesem Review-Symposium auf einige der Aspekte aufmerksam zu machen, die sich anhand der Veröffentlichung von “Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum 1919-1960“ und der Einbettung in eine breitere Konjunktur von Forschungsbeiträgen zur deutschen Ost- und Westforschung, zur Rolle der Historiker im Nationalsozialismus und zu den Konsequenzen für die Konzipierung eines Gesamtbildes deutscher Historiografiegeschichte im 20. Jahrhundert bemerken lassen. Diese seit etwa zehn Jahren anhaltende Konjunktur ist ebenso beträchtlich wie erklärungsbedürftig.

Die Herausgeber von „Griff nach dem Westen“ reflektieren einleitend zunächst ausführlich über die getroffene Wahl des Titels für ihr Werk. Ganz bewusst wurde mit dem Bezug auf Fritz Fischers Kontroversen auslösendes Werk signalisiert, hier stünde einiges auf dem Spiel, es sei mit einer grundsätzlichen Richtungsentscheidung für den Umgang mit Traditionen und vielleicht auch für die künftige Geschichtsschreibung zu rechnen. Diese bewusste Dramatisierungsstrategie, die nicht auf Kosten der verlegerischen Vermarktungsinteressen geht, mag funktionieren oder nicht, in jedem Fall reflektiert sie, dass wir es nicht mit einem erkalteten Gegenstand zu tun haben, sondern mit Emotionen weckenden Fragen der Identifikation von Historikern im Verhältnis zu ihrem Fach.

An der Neuerscheinung, die Gegenstand dieses Symposiums ist, fällt den meisten Kommentatoren zuerst der schiere Umfang von mehr als 1000 Seiten auf, der auch für historiografische Großprojekte ungewöhnlich ist. Ob dies einer um Eindeutigkeit bemühten Rezeption förderlich ist oder nicht, dürfte strittig bleiben.

In zweiter Linie gestattet die aus dem Umfang folgende beträchtliche Autorenzahl eine Kalkulation der Trägerschicht dieses Interesses. Die Beteiligung von Angehörigen ganz verschiedener Generationen (vielleicht mit einem Schwerpunkt auf den zwischen 1950 und 1960 Geborenen) ist zu konstatieren. Ebenso breit streut die Betrachtung von (wissenschafts-, politik- und ideengeschichtlichen) Aspekten des Gegenstandes und das zum Einsatz kommende methodische Instrumentarium (von der klassischen Textexegese über das Studium der Institutionalisierungsprozesse zu biografischen Skizzen oder Netzwerkanalysen). Die Debatte präsentiert sich, blicken wir noch einmal auf die Zusammensetzung der Autorenschaft nicht nur von „Griff nach dem Westen“, sondern genereller in die Bibliografie der Konjunktur, zu der dieser Band gehört, als eine deutsche mit dem Bemühen um die Einbeziehung ausländischer Stimmen.

Allerdings wirken Stellungnahmen, wie die des Niederländer Hans Derks, die an einigen Stellen von der inzwischen etablierten Agenda der Diskussion abweichen, offenkundig als eine so starke Provokation, dass sie eine etwas unentschiedene Mischung aus Interesse und (polemischer) Abwehr herausfordern. Der Punkt, auf den sich diese Provokation bezieht, liegt weniger bei einzelnen strittigen Urteilen, als vielmehr bei der Frage, was die aufwendig betriebene Eruierung von Westforschung mit uns heute und unserer Art, Historiografie zu praktizieren, noch zu tun hat. Hier liegt möglicherweise einer der blinden Flecken der so intensiven deutschen Diskussion seit dem Historikertag von Frankfurt am Main, worauf noch zurückzukommen sein wird. Immerhin kann uns dieser Gesichtspunkt zu einer differenzierenden Klärung führen, was eigentlich unter Kontinuität von personalen und institutionellen Konstellationen, von Paradigmen und Interpretamenten zu verstehen sei. Dabei erweist sich die Kontinuitätsdiskussion keineswegs als leidenschaftslos, sondern sie ist mit wechselseitigen Vorwürfen der (unzulässigen) moralischen Zuspitzung von Bewertungen bzw. der Annahme, die Taktik des Verharmlosens, Ablenkens und Verschweigens gehe weiter, verbunden. Einer gelassenen Klärung tut das nicht gut. Zugleich fällt aber auf, dass sich beide Richtungen darin einig sind, dass die Frage der Kontinuität vorrangig für die Zeit bis 1960 zu erörtern sei, nicht jedoch bis an die Gegenwart heranreiche.

Bemüht man sich um Verortung des voluminösen „Griff nach dem Westen“, wird man auf den Versuch verwiesen, etwas verspätet ein Pendant zur ausgreifenden Untersuchung der so genannten Ostforschung zu liefern. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Schaut man auf die Bibliografie der letzten Jahre, dann dominierten zunächst Arbeiten, die Ost- und Westforschung miteinander im Sinne von Fallbeispielen für ein und denselben Gebrauch von Wissenschaft für das NS-System in Beziehung zu setzen versuchten. Man vergleiche etwa Willi Oberkromes vieldiskutierte Dissertation über die „Volksgeschichte“, die 1993 erschien, Karen Schönfelders Buch über „Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus“ von 1992 sowie den von Peter Schöttler herausgegebenen Band „Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945“ von 1997, der auf eine entsprechende Sektion des Leipziger Historikertages 1994 zurückging. In diese Reihe gehören die Studien zum Ensemble der Institutionen auslandsorientierten Geisteswissenschaften im Dritten Reich von Michael Fahlbusch oder Frank-Rutger Hausmann.

Erst von diesem Ausgangspunkt her kam es zu einer Differenzierung, die sich im beinahe zeitgleichen Erscheinen zunächst der Bücher von Ingo Haar (2000) über die deutsche Ost- und von Hans Derks (2001) zur deutschen Westforschung sowie nunmehr der Sammelbände „Griff nach dem Westen“ und „Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik“ 1 ausdrückt.

Eine gewisse Spezialisierung tritt an die Stelle von generelleren Antworten, während andererseits komparatistisch der Frage nachgegangen wird, ob das Terrain von Volksgeschichte tatsächlich mit den Grenzräumen und Anrainern des Deutschen Reiches abgesteckt ist. Dies war u.a. die Fragestellung zweier Konferenzen 2001 in Leipzig und 2002 als Sektion auf dem Hallenser Historikertag, deren Erträge in diesem Jahr publiziert werden sollen.2 Das Vergleichsdesign übersteigt damit langsam die früher sehr einseitige Gegenüberstellung zwischen deutscher Volksgeschichte und französischen Annales, bei der mit manch unlauter anmutender Argumentation das weltweite Prestige von Bloch, Febvre und Braudel auf die von ihrer eigenen Innovationskraft überzeugte deutsche Landesgeschichte umgelenkt werden sollte, so dass im Nebeneffekt die Kulturraumforschung der 1920er bis 1940er-Jahre ein Verbindungsglied zwischen der Kulturgeschichte um 1900 (bei der die Annales-Begründer in die Schule gegangen seien) und der Landesgeschichte der Nachkriegsära darstellt. Dass diese wagemutige Interpretation im Ausland, wo sich eine andere Version der deutschen Historiografiegeschichte durchgesetzt hatte, mit Misstrauen aufgenommen wurde und wird, sollte nicht verwundern. Peter Schöttlers Studien zum Verhältnis der deutschen und französischen Historiografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten Spekulationen inzwischen auch den Boden entzogen haben. Die Vervielfältigung der Vergleichsszenarien hilft jedenfalls, aus den Verstrickungen solcher Identifikationskonstruktionen herauszufinden.

Auch wenn die entsprechenden Ausweitungen vorerst noch selten sind, drücken sie doch eine Unzufriedenheit mit der Beschränkung auf eine allein auf Deutschland fixierte Betrachtungsweise aus. Denn auch wenn man die Faszination, die von Michael Burleighs Studie „Germany Turn Eastwards“ (1988) auf Historiker hierzulande ausging, sicher nicht unterschätzen darf, bleibt doch zu konstatieren: Diese Diskussion über die Geschichtswissenschaft und ihre transdisziplinären Konstellationen im Nationalsozialismus ist eine Debatte, die aus dem Inneren der (west-)deutschen Historiografie kommt.

Es ist sogar mit Blick auf all das, was man aus polemischen Schriften von DDR-Wissenschaftlern in den 1950er und 1960er-Jahren schon zum Gegenstand wissen konnte, argumentiert worden, dass gerade diese als extern empfundenen Stellungnahmen und Vorwürfe eine eigene kritische Haltung zum Phänomen erschwert hätten. Und manches daran scheint sich jetzt im Falle der so genannten Derks-Debatte zu wiederholen, in der deutsche Historiker „von außen“ darauf hingewiesen werden, dass eine überzeugende Distanzierung von manchen Denkformen der 1930er und 1940er-Jahre ausgeblieben sei oder bis heute direkt unter Verweis auf den innovativen Charakter etwa der Kulturraumforschung verweigert wird, und dass Essentialisierungen kultureller Phänomene nach wie vor zum Repertoire der Geschichtswissenschaft – übrigens natürlich nicht nur in Deutschland – gehören.

Das Erstaunen darüber, dass das Selbstbild deutscher Historiker und ihre Wahrnehmung bei Kollegen in anderen Ländern nicht übereinstimmen, und der gereizte Ton, in dem diese Feststellung verarbeitet wird, deuten auf die Schwierigkeiten mit der Internationalisierung hin. Eine andere Facette derselben Situation beschreibt Rudolf Jaworski, wenn er auf die verhaltenere Distanzierung polnischer Historiker und Kunstwissenschaftler von ihrer zwischen den 1940er und 1980er-Jahren betriebenen „Westforschung“ spricht: „Von wenigen mutigen Ausnahmen einmal abgesehen, zeichnen sich die diesbezüglichen polnischen Rückblicke und Bilanzen größtenteils immer noch durch einen eher dokumentierenden, wenn nicht sogar ausgesprochen affirmativen Charakter aus.“ 3

Die theoretischen und methodologischen Postulate der Kulturraumforschung werden, wo sie nicht so evident mit einem verbrecherischen Regime wie dem Nationalsozialismus kombiniert, sondern Bestandteile etwa eines emanzipatorischen Nationalismus waren, sehr oft deutlich unkritischer betrachtet. Schon von dieser Warte aus, rückt das zu diskutierende Phänomen viel näher an unsere Gegenwart, an unsere eigene Geschichtskultur und diejenige europäischer Nachbarländer heran, als es eine alleinige Konzentration auf die Bindung der Volksgeschichte an die Zeit des Nationalsozialismus bzw. die Fixierung auf einzelne Exponenten des Interpretationsansatzes der Kulturraumforschung nahe legt.

Es gelte, so wird argumentiert, demzufolge zu unterscheiden zwischen dem Einsatz der Kulturraumforschung für die Begründung der territorialen Ansprüche gegenüber Nachbarländern, für die Infragestellung politischer Grenzen, die mit Grenzen konstruierter kultureller Gemeinschaften nicht übereinstimmten und für die Legitimierung der Expansion einerseits sowie der Kulturraumforschung im eigentlichen Sinne als Komplex innovativer Verfahren zur Operationalisierung kulturgeschichtlicher Ambitionen andererseits. Entsprechend sei für die aggressive Instrumentalisierung des Ansatzes strikte Diskontinuität wünschenswert, für das Anknüpfen an die wertvollen Forschungserfahrungen der Vergangenheit Kontinuität dagegen weder auszuschließen noch zu verurteilen.

Demgegenüber argumentieren Kritiker der Kulturraumforschung, dass dieser Zugang sich kaum von seinem politischen Gebrauch trennen ließe. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg formuliert als Angebot für eine Politik, die die Festlegungen von Versailles revidieren wollte und galt seinen Begründern (die sich auf dem Frankfurter Historikertag 1924 erstmals massiv auf die nationale Bühne begaben) als Weg zu mehr Geltung und Ressourcen für ihr eigenes Fach. Die Praxis der Kulturraumforschung stellte nicht nur einen Deutungsrahmen und empirische Ergebnisse bereit, sondern sie engagierte sich in der Schaffung von Strukturen für das Zusammengehen von Politik und Wissenschaft. Dabei waren die „Auslands- und Grenzlanddeutschen“ ein wichtiger Gegenstand und zugleich eine Zielgruppe der völkisch-nationalistischen Aktivitäten, wie jüngst Wolfgang Freund in seiner Dissertation über „Volk, Reich und Westgrenze“ ausführlich gezeigt hat. Diese Praxis blieb nicht ohne massive Wirkungen auf die Formierung einer neuen Generation von Akademikern, die nach 1933 noch offensiver die Instrumentalisierung der Wissenschaft verlangten und selbst vorantrieben.

Der obskure Einsatz von biologistischen und offen rassistischen Argumentationen ist das aus heutiger Sicht befremdlichste Element der Kulturraumforschung – zweifellos ein erfreulich tief verankertes Ergebnis der geistigen Entnazifizierung. Aber die um solche Facetten gereinigte Version der Kulturraumforschung, die bis heute ihre engagierten Anhänger unter Sprach-, Literaturwissenschaftlern und Landeshistorikern findet, teilt mit den Anfängen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den essentialisierenden Zugang zu den Kategorien Raum, Kultur und Volk als zentralen Synthesekategorien. Dies wird erst dann deutlicher sichtbar, wenn sich Geschichtsschreibung von diesen Grundlagen wegbewegt, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Vor diesem Hintergrund verdient die Frage Aufmerksamkeit, was in den Deutungsmustern der 1960er bis 1980er-Jahre an die Stelle der Kategorie „Volk“ getreten ist, ob etwa die Kategorie „Gesellschaft“ tatsächlich frei ist von den Unschärfen, die mit dem zuvor benutzten Volksbegriff einhergingen. Ähnlich wird sich die neue Kulturgeschichtsschreibung immer wieder erinnern müssen, welche essentialistischen Aufladungen in der Vergangenheit ihr Leitbegriff erlebt hat. Raumkonzepte blieben gerade wegen ihrer Prominenz in der und durch die Kulturraumforschung lange Zeit fast tabu in der deutschen Geschichtswissenschaft. Es war diese fehlende Reflexivität, die auswärtige Beobachter immer wieder beunruhigt hat. Die jüngst in Gang gekommene Debatte um den Konstruktionscharakter des Raumes bzw. der Raumbezüge sozialen Handelns lässt ältere Vereinfachungen klarer hervortreten, als dies noch vor einem Jahrzehnt der Fall war.

Weiten wir die Kontinuitätsfrage auf diese Probleme aus, wird deutlich, welch lange Schatten der Gegenstand dieses Symposiums werfen kann. Hier geht es eben nicht mehr um individuelle Schuld in den Nationalsozialismus „verstrickter“ Wissenschaftler, sondern um Wirkungen von Paradigmen, und sie sollten nicht von der Tagesordnung geschoben werden, um sich allein mit der Verurteilung einzelner, inzwischen verstorbener Historiker zu begnügen.

Wer zudem einen Unterschied zwischen der auf den europäischen Osten applizierten Kulturraumforschung, die aus ihrem Postulat eines west-östlichen Kulturgefälles Unterwerfungsbegründungen ableitete, und ihrem auf den Westen bezogenen Pendant, das auf der gleichen theoretisch-konzeptionellen Grundlage natürlich größere Erklärungsnöte hatte, macht, bezieht sich vorrangig auf die Instrumentalisierbarkeit durch ein konkretes politisches Regime, und weniger auf die verhängnisvollen Spuren, denen man bis heute in der populären (und zuweilen auch in der akademischen) Geschichtskultur nachgehen kann.

Mit der Kulturraumforschung wird nicht selten die Einbeziehung bis dahin unbeachteter, teilweise quantifizierender Verfahren aus Sprachwissenschaft, Volkskunde und Geografie in die Geschichtswissenschaft verbunden. Ebenso finden Interdisziplinarität als notwendige Konsequenz aus einer Disziplinierung und organisatorischen und kommunikativen Abschließung der akademischen Fächer gegeneinander Lob, und die Institutionalisierung zu neuen Formen der geisteswissenschaftlichen Großforschung Hervorhebung. Dies geschieht jedoch oft unter Ausklammerung entgegenstehender Aspekte, vor allem der unbewältigten Probleme beim Einbau der Ergebnisse aus Nachbardisziplinen in Deutungen, die ihre Kohärenz nur noch durch eine beträchtliche Unschärfe der Kategorien retten konnten. Und ist Interdisziplinarität ein Wert an sich oder (bis heute) häufig nur begriffliches Mäntelchen für rein additive Verfahren der Wissensakkumulation?

Andersherum lässt sich anhand der institutionellen Formen der Volksgeschichte sowie der ihr affiliierten Soziologie, Ethnologie, Sprachwissenschaft, Geografie und Ur-/Frühgeschichtsforschung in Netzwerken von universitären und außeruniversitären Akteuren fragen, was die deutsche Wissenschaftspolitik aus dem Versuch der 1930er-Jahre zur Übernahme von Großforschungsmodellen in die Humanwissenschaften gelernt hat? Ist die häufig instinktive Ablehnung der kollektiven Forschungsformen ebenso auf dieses Trauma zurückzuführen wie andererseits das kaum begründete Beharren auf Netzen wie den Sonderforschungsbereichen? Um richtig verstanden zu werden. Hier kann von expliziter Kontinuität keine Rede sein, eher vor einem Zurückschrecken vor der Erörterung von Zweckmäßigkeiten angesichts eines ins kollektive Unterbewusstsein des Faches abgedrängten doppelten institutionengeschichtlichen Bruches 1933 und nach 1945.

Mit solchen eher die Ideen- und Sozialgestalt von Wissenschaft evozierenden Fragen tritt ein weiterer strittiger Punkt hervor: Bereits seit längerem sind die 1920er-Jahre als Formierungsphase der in den folgenden beiden Jahrzehnten instrumentalisierten Kulturraumforschungen erkannt worden. Dies hatte den Blick auf das Kriegsende von 1918 zurückgelenkt und auf den verbreiteten Revisionismus gegenüber dem Versailler Vertrag als Motiv für Grenzland- und Auslandsdeutschtumsforschungen. Nunmehr werden längere Linien zurück zur Kulturgeschichtsdebatte um 1900 gezogen.

Liegt im Lamprecht-Streit die Wurzel der „Entgleisung“ deutscher Volksgeschichte? Schon die Bielefelder Sozialgeschichte der 1960er-Jahre hatte dies behauptet, um ihre Diskontinuität zur vorangegangenen Historiografiegeschichte zu belegen. Zweifel sind trotzdem angebracht hinsichtlich der behaupteten intellektuellen und institutionellen Filiationen, etwa von Lamprecht zu Hermann Aubin, die nicht mehr als der gleiche Wirkungskreis im Rheinland im Abstand von rund 30 Jahren verbindet. Selbst die nahe liegendere Verbindung von Lamprecht zu Rudolf Kötzschke, einem der Matadoren der neuen Landesgeschichte nach 1918, übersieht den gravierenden Bruch, den der erste Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften 1916 im besetzten Belgien oder Rumänien bedeutet hatte. Hier lohnt die Erweiterung der Perspektive, auch wenn sie scheinbar von der Frage nach dem Zusammenhang von Historiografie und Nationalsozialismus wegführt. Das Gesamtbild der Entwicklung von Geschichtswissenschaft zwischen dem Ende des 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts stehen zur Debatte, nicht nur ein Ausschnitt zwischen der Mitte der 1920er und dem Beginn der 1960er-Jahre.

Um abschließend einige der erwähnten Fragestellungen zusammenzuziehen: Fragt man sich nach Gründen für die Intensität einer vor allem deutschen Debatte, so wird zu Recht auf deren Verbindung mit einem Generationswechsel verwiesen. Kann man hierbei aber stehen bleiben? Es bleibt jedenfalls offen, warum dieser Generationskonflikt gerade in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt ausgetragen wird. Wie sich auch in anderen Historiografien beobachten lässt, wenn man die Generationenfolge in der so genannten Annales-Schule betrachtet, geht der Wechsel von einer zur nächsten Generation mit einer Neuordnung der Traditionsbestände einher. Aufgrund der Zentralstellung der NS-Verbrechen und des Holocaust in der Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts spielt diese Periode noch immer eine wichtige Rolle, durch sie hindurch muss noch immer die ganze Geschichte des Faches betrachtet werden. Aber wie schon beim Wechsel in den 1960er-Jahren hin zur Sozialgeschichte haben internationale Einflüsse eine wachsende Bedeutung.

So bietet sich die Verbindung zu zunächst ferner liegenden Diskussionen an, nämlich die um die Wirkung des Postkolonialismus auf die Geschichtswissenschaft und allgemeiner des „cultural turn“ und des „spatial turn“ in den Humanwissenschaften. Diese Strömungen haben zunächst die Aufmerksamkeit für den Konstruktionscharakter von Wissenschaft geschärft, und damit auch wissenschaftshistorische und wissenschaftskritische Studien beflügelt – scheinbar unabhängig von der Erörterung des Verhältnisses einzelner Historiker zum Nationalsozialismus.

Die Perspektivenabhängigkeit und damit eine grundsätzliche Unmöglichkeit von Essentialisierungen kultureller Tendenzen und Phänomene werden stärker als früher betont. Dies alles sind Neuerungen, die nun auch einen Einfluss auf den Rückblick haben, den die deutsche Geschichtswissenschaft auf „ihr 20. Jahrhundert“ richtet.

Bei der Auseinandersetzung um die Verstrickung der Historiker in den Nationalsozialismus geht es wohl nicht nur um individuelle Schuld und das Versagen eines Faches im Verhältnis zur Politik, sondern auch um die Frage, woher die der Kulturraumforschung immanenten Essentialisierungen kommen und welche langen Wirkungen sie gezeitigt haben. Zweifellos haben sie sich durch die Annäherung an die verbrecherische Praxis im Nationalsozialismus im besonderen Maße blamiert, ihr fundamentaler Einfluss auf die Entwicklung der Humanwissenschaften im 20. Jahrhundert ist damit aber noch nicht erledigt.

Anmerkung:
1 Piskorski, Jan M.; Hackmann, Jörg; Jaworski, Rudolf (Hgg.), „Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik“, Osnabrück 2002.
2 Hettling, Manfred (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003; Middell, Matthias; Sommer, Ulrike (Hgg.), Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg - Verflechtungen und Vergleich, Leipzig 2004.
3 Piskorski, Jan M.; Hackmann, Jörg; Jaworski, Rudolf (Hgg.), „Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik“, Osnabrück 2002, S. 14.

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