Forum: Interview zum FID Anglistik/Großbritannien- und Irlandstudien, Amerikastudien, Kanadastudien, Australien- und Neuseelandstudien mit Ursula Lehmkuhl (Univ. Trier) und Wilfried Enderle (SUB Göttingen)

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Wilfried Enderle, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen; Ursula Lehmkuhl, Universität Trier

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank an Sie beide für Ihre Bereitschaft zu unserem Gespräch über die entstehenden Fachinformationsdienste (FID). Frau Lehmkuhl, als Professorin für Internationale Geschichte mit Schwerpunkt auf die moderne nordamerikanische und britischen Sozial-, Kultur- und Außenpolitikgeschichte möchten wir Sie gerne um eine Einschätzung zu den vier FIDs Anglistik/Großbritannien- und Irlandstudien, Amerikastudien, Kanadastudien, Australien- und Neuseelandstudien bitten. Welche Zielstellungen des FIDs Anglistik/Großbritannien- und Irlandstudien, Amerikastudien, Kanadastudien, Australien- und Neuseelandstudien begrüßen Sie und welche schätzen Sie eher kritisch ein?

Ursula Lehmkuhl: Die starke Nutzerorientierung und die Bereitstellung digitaler Informationen inklusive der Volltexte von Aufsätzen oder Büchern ist ein großer Vorteil der neuen FIDs insbesondere für Studierende und Wissenschaftler an kleineren Standorten. Über die Library of Anglo-American Culture and History, beispielsweise, können wir sehr schnell einen guten Überblick über Neuerscheinungen auf dem inhaltlich vernetzten Gebiet der Anglistik/Großbritannien- und Irlandstudien, Amerikastudien, Kanadastudien, Australien- und Neuseelandstudien bekommen. Dabei stellt die Nutzerorientierung zugleich einen Nachteil dar. Denn wissenschaftliche Fragestellungen unterliegen bestimmten thematischen Konjunkturen und den kontingenten Interessen des einzelnen Wissenschaftlers bzw. Wissenschaftlerin. In den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften steht nach wie vor die Individualforschung im Zentrum. Individuelle Forschungsleistungen und nicht die Gruppenarbeit sind für eine Karriere im Wissenschaftssystem ausschlaggebend. Eine nutzerorientierte Anschaffungspolitik im Rahmen der FIDs wird diese Individualität der Forschungsinteressen wiederspiegeln. Von einem umfassenden Wissensarchiv, das mit Hilfe der SSGs geschaffen wurde, wird man somit in Zukunft nicht mehr sprechen können. Dies ist im Hinblick auf zukünftige geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung etwa im Bereich der Wissenschaftsgeschichte ein großer Nachteil. Aber auch für die Entwicklung von Forschungsideen, die sich außerhalb der gerade aktuellen thematischen Konjunkturen bewegen, ist die Nutzerorientierung in der Beschaffungspolitik potentiell problematisch. Es wäre wünschenswert, wenn wir hier mit Hilfe der Digitalisierung einen Mittelweg gehen könnten. In den USA ist die Digitalisierung des Buchmarktes bereits weit vorangeschritten. Auch in Kanada und Australien werden Bibliotheksbestände zunehmend digital bereitgestellt. Es wäre ungemein hilfreich, wenn der die Regionalstudien charakterisierende Forschungstrend in Richtung Transnationalisierung der Fragestellungen im Sinne von transkulturellen Studien, sich auch wissenschaftspolitisch niederschlagen könnte. Transnationale Kooperation zwischen zentralen Bibliotheken oder zwischen den jeweiligen Förderorganisationen (DFG, NEH, SSHRC, etc.) könnte zu einer deutlichen Verbesserung der Forschungsinfrastruktur deutscher Wissenschaftler beitragen und die potentiellen Nachteile der FIDs kompensieren.

Wilfried Enderle: Dass die Nutzerorientierung ein zweischneidiges Schwert ist, steht außer Frage, und zu dem, was hierzu gesagt wurde, muss man nichts hinzufügen. Ein entscheidender Gesichtspunkt, der ebenfalls bereits angesprochen wurde, und den ich nur noch etwas stärker akzentuieren und problematisieren möchte, ist die Frage, inwieweit die Digitalisierung nach neuen bibliothekarischen Erwerbungs- und Vermittlungsstrukturen verlangt, die dann die Defizite fehlender klassischer Sammlungskonzepte zumindest partiell ersetzen können. Transnationale Kooperationen zwischen Bibliotheken wie Förderorganisationen wären sicherlich hilfreich. Das FID-Konzept hat diesen Aspekt durchaus auch gesehen und die Bibliotheken zu solchen Wegen ermuntert. Damit kann freilich nur der Bereich abgedeckt werden, wo Bibliotheken oder generell wissenschaftliche Einrichtungen Sammlungen in digitaler Form aufbauen und den Zugriff darauf selbst organisieren und regeln können. Der gesamte Bereich der kommerziellen digitalen Medien, von digitalen Zeitschriften über E-Books und spezialisierte Fachdatenbanken und Textsammlungen, bleibt damit noch außen vor. Dass große einschlägige Wissenschaftsverlage, wie zum Beispiel Cambridge University Press, derzeit Angebote für Bibliotheken machen, über Evidence Based Selection-Modelle Zugriff für ihre lokalen Nutzer auf ihr gesamtes Angebot in digitaler Form zu bekommen, ist eher ein Indiz dafür, dass ein Teil der kommerziellen digitalen Medien in absehbarer Zukunft kooperativen, überregionalen Zugriffsmodellen entzogen bleibt, da die Verlage natürlich versuchen werden, ihre Produkte zuerst auf lokaler Ebene zu lizenzieren, um eine möglichst hohe Rendite zu erzielen. Auch konsortiale Angebote, wie sie im Bereich der digitalen Zeitschriften mittlerweile gängig sind, ändern nichts daran, dass letztlich Lizenzen für lokale Nutzergruppen, also für die Angehörigen einzelner Universitäten, erworben werden. Mit anderen Worten: Die Digitalisierung hat zu einer deutlichen Steigerung der Komplexität des Marktes wissenschaftlicher Informationen geführt und zu einer Intensivierung der Kommerzialisierung wissenschaftlicher Fachinformation. Überregionalen Zugriff auf kommerzielle digitale Medien für eine Fachcommunity zu organisieren, was eine Aufgabe der FIDs ist, ist bei realistischer Einschätzung der Sachlage ein ausgesprochen schwieriges Geschäft, das voraussichtlich eher mittelfristig zu konkreten Ergebnissen führen wird. Und dabei sollte meiner Meinung nach sehr genau untersucht und bewertet werden, wie die finanziellen Aufwände aussehen und ob sie in dieser Form auch vertretbar sind, um problematische Entwicklungen, wie wir sie aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen Fachverlage kennen, nicht auch bei den Geisteswissenschaften zu erhalten.

H-Soz-Kult: Frau Lehmkuhl, derzeit arbeiten Sie u.a. an zwei Buchprojekten, die sich mit der Geschichte von Auswandererfamilien, transnationalen Familien-Netzwerken und der Begegnung von Kulturen im atlantischen Raum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigen. Für unsere Leserschaft möchten wir Sie zunächst bitten, uns Ihre aktuellen Forschungsthemen etwas näher vorzustellen. Dabei sind wir insbesondere daran interessiert zu erfahren, wie ihre persönliche Recherchestrategie aussieht und welche Bedeutung Sie den bisher zur Verfügung stehenden Informationsangeboten von Bibliotheken und Informationsdienstleistern zu messen.

Ursula Lehmkuhl: Mein Buchprojekt „Die Auswandererfamilie Johann Heinrich Carl Bohn: Lebensgeschichten und soziale Praxis eines transnationalen Familien-Netzwerks, 1852-2005“ untersucht auf der Grundlage einer 201 Briefe umfassenden Auswandererbriefserie aus Thüringen die soziale und kommunikative Praxis eines transnationalen Familiennetzwerkes über unterschiedliche Generationen und historische Umbruchsituationen hinweg (Revolution 1848, Erster und Zweiter Weltkrieg, sowjetische Besatzung, Mauerbau, DDR). Dabei soll neben den sozialhistorisch relevanten Fragen nach sozialer Inklusion und Exklusion, den Kohäsionsfaktoren innerhalb des Netzwerkes und seiner Bedeutung als soziales Kapital für die ausgewanderten Familienmitglieder auch die subjektive und damit mikro-historische Dimension der Auswanderungserfahrung (Erwartungen, Identitäten, Kontinuitäts- und Umbrucherfahrung etc.) in den Blick genommen werden. Hierzu werden die in den Briefserien aufscheinenden individuellen Lebensgeschichten bzw. Lebenslaufkonstruktionen (life stories) und die Schreibpraxis brieflicher Selbstthematisierung analysiert und die Koordinations- und Kommunikations- sowie die Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Netzwerkes rekonstruiert. Das Forschungsprojekt leistet damit nicht nur einen Beitrag zur historischen Netzwerkanalyse, sondern auch zur Auswandererbriefforschung im engeren Sinne und zwar insofern, als das Genre „Auswandererbrief“ als Medium der transnationalen Selbstverständigung, der Tradierung von Identität stiftenden Familienmythen sowie als Medium des Kulturtransfers betrachtet und ausgewertet wird. Diese und weitere historische Erkenntnismöglichkeiten, die das Genre „Auswandererbrief“ für die Erfassung insbesondere der subjektiven Dimension der Wanderungserfahrung bietet, sind bisher in der Auswandererbriefforschung nur geringfügig genutzt worden.

Für dieses Buchprojekt nutze ich Quellen – Auswandererbriefe -, die ich im Rahmen einer von der DFG finanzierten Briefsammelaktion in den 2000er Jahren zusammengetragen habe und die jetzt Bestandteil der in den 1980er-Jahren an der Ruhr-Universität Bochum aufgebauten Auswandererbriefsammlung sind (siehe www.auswandererbriefe.de). Neben der inhaltlichen Auswertung der Briefe geht es dabei vor allem um die Kontextualisierung der Lebensgeschichten der Briefschreiber. Für Recherchen zur amerikanischen Seite des ausgedehnten Familiennetzwerkes kann ich auf kommerzielle digitale Datenbanken wie „Ancestry.com“ zurückgreifen. Ich habe diese Datenbank privat abonniert, sie ist aber auch an ausgewählten Forschungsstandorten, wie etwa dem Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven (dah-bremerhaven.de) zugänglich. Hilfreich ist auch die Datenbank „North American Immigrant Letters, Diaries, and Oral Histories“, die von der DFG im Rahmen der Nationallizenzen für die deutsche Forschung zugänglich gemacht worden ist. Weitere Datenbanken, wie beispielsweise Datenbanken zur Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges, Datenbanken, die zeitgenössische County Histories in digitaler Form vorhalten, können zur Zeit nur über einen Archiv- und Bibliotheksaufenthalt an der Library of Congress in Washington eingesehen und genutzt werden. Hier ist also noch eine tatsächlich Archivreise notwendig. Für die deutsche Seite musste ich ganz klassisch in die zuständigen Landes- und Kirchenarchive fahren. Archivmaterial liegt auf dieser Ebene in der Regel nicht in digitalisierter Form vor. Da es sich hier um eine primär aus den Quellen arbeitende Studie handelt, ist die Literaturrecherche eher von sekundärer Bedeutung.

Das zweite Buchprojekt ist aus dem Kontext des Internationalen Graduiertenkollegs „Diversity: Mediating Difference in Transcultural Spaces“ erwachsen. Das Forschungsprojekt untersucht die historische Entwicklung des verflochtenen euro-atlantischen Diskurses über religiöse und ethnische ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘ und die damit verbundenen Formen und Inhalte der Konstruktion von Fremdheit/Alterität. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen verflochtenen euro-atlantischen Diskurs zum Problem von ‚Gleichheit‘ und ‚Vielfalt‘ gibt. Ziel des Projektes ist es, diese verflochtene diskursgeschichtliche Entwicklung und die damit verbundenen Imaginationen und Repräsentationen von ‚Differenz‘ zu rekonstruieren. Ausgehend von der inhärenten Historizität der Konzepte von (politischer und sozio-kultureller) ‚Gleichheit‘ und (religiöser und ethnischer) ‚Vielfalt‘ und der gegenwärtigen Neuverhandlung der Politik des Multikulturalismus in Nordamerika und Europa werden dazu programmatische politisch-philosophische Texte vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart im Hinblick auf die diskursive Repräsentation von ‚Vielfalt‘ (Diversität) und ‚Differenz‘ (Fremdheit, Alterität) analysiert. Ausgewählt wurden Texte, die den euro-atlantischen intellektuellen und wissenschaftlichen Diskurs um ‚Gleichheit‘ und ‚Vielfalt‘ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert maßgeblich geprägt haben und damit einen zentralen Beitrag zur Konstruktion und Imagination von ‚Differenz‘ im Sinne von Fremdheit und Alterität geleistet haben.

Die Quellen für dieses Forschungsprojekt liegen häufig in digitaler Form vor. Z.B. behandelt das erste Kapitel den Umgang mit Gleichheit und Vielfalt in J. Hector St. John de Crèvecoeurs „ Letters from an American Farmer“. Diese von Crèvecoeur in den USA verfasste Essaysammlung entwickelte sich nach seiner Publikation 1782 in einem englischen Verlag zu einem europäischen Bestseller und wurde innerhalb weniger Jahre ins Französische, Deutsche und Holländische übersetzt. Ich arbeite mit allen Ausgaben und gehe den Unterschieden in der Behandlung des Themas Gleichheit und Vielfalt nach. Bei der Beschaffung der Quellen war die digitale „Library of Anglo-American Culture and History“ äußerst hilfreich. Über eine einfache Titelsuche im Katalog gelangt man sofort auf die dreibändige deutsche Übersetzung, die in wenigen Mausklicks als digitales Faksimile auf dem Bildschirm erscheint. Ein großer Nachteil der hier gewählten digitalen Präsentation – das Buch ist nur am Bildschirm zu lesen und kann nicht als pdf heruntergeladen werden – ist die Arbeit mit der Quelle. Markierungen, Kommentare am Text, etc. können hier nicht eingefügt werden. Ich musste mich deshalb auf die Suche nach einer pdf-Version machen und wurde da in der Bayerischen Staatsbibliothek fündig. Hier ist das Buch als optisches Digitalisat verfügbar. Mit der Adobe Kommentarfunktion kann ich hier meine Leseeindrücke festhalten und bei der Niederschrift der Analyse darauf zurückgreifen. In ähnlicher Weise bin ich mit weiteren für meine Arbeit zentralen Texten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert verfahren. Bemerkenswert war, dass wichtige Arbeiten aus der Soziologie der 1930er- bis 1960er-Jahre kaum digitalisiert vorliegen. Hier musste ich die einschlägigen Bücher per Fernleihe bestellen und die für mich wichtigen Passagen digitalisieren bzw. kopieren. Die meisten Fernleihen kamen aus Göttingen oder Köln. Einige wichtige Bücher waren auch am John-F.-Kennedy-Institut vorhanden, konnten allerdings nicht über Fernleihe bestellt werden. Stattdessen bekam ich von der die Fernleihbestellung auslösenden Bibliothek die Rückmeldung, dass das gewünschte Buch nicht in deutschen Bibliotheken vorhanden sei. Diese Erfahrung macht zweierlei deutlich: Zum einen die Wichtigkeit von Sammlungen im umfassenden Sinne des Wortes; und zweitens die Notwendigkeit einer noch besseren Vernetzung der Bibliotheksbestände untereinander, so dass vorhandene Bücher auch tatsächlich von allen Universitätsbibliotheken Deutschlands aus vom Bibliothekspersonal gefunden werden können.

H-Soz-Kult: Viele FIDs zielen auf die Förderung des digitalen Publizierens über Open Access-Optionen. Erwarten Sie für sich in den nächsten Jahren eine Hinwendung zu digitalen Publikationsformaten?

Ursula Lehmkuhl: Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen und Arbeitsprozessen und der Beobachtung des wissenschaftlichen Arbeitens meiner Doktoranden, der Doktoranden in dem von mir geleiteten Internationalen Graduiertenkollegs, oder auch fortgeschrittener Masterstudierender gehe ich davon aus, dass digitales Publizieren über Open Access-Optionen in den nächsten Jahren immer wichtiger wird. Die Fülle der publizierten Forschungsliteratur ist ohne den digitalen Zugriff kaum zu rezipieren, geschweige denn im Hinblick auf eine spezifische Forschungsfrage selektiv zu rezipieren. Der schnelle Zugriff auf Inhaltsverzeichnisse, Einleitungen und ausgewählte Kapitel z.B. über Google Books gehört für mich zum Forschungsalltag. In meiner Google Books Bibliothek befinden sich bereits zahlreiche digitale Bücher, die entweder frei zugänglich sind, oder die ich gekauft habe. Ohne diesen raschen Zugriff auf Literatur könnte ich viele meiner Forschungsarbeiten nicht durchführen.

Wilfried Enderle: Die Förderung von Open Access-Optionen spielt in den genannten FIDs eine wichtige Rolle. Dafür gibt es mehrere Gründe, nicht zuletzt die oben angesprochene Problematik kommerzieller digitaler Medien und die Erwartung, dass in den kommenden Jahren in der Tat Open Access auch in den Geisteswissenschaften einen festen Platz einnehmen wird, auch wenn noch offen ist, wie dieser genau aussehen wird und wie groß der Anteil am Gesamt der einschlägigen Publikationen sein wird. Als eine mögliche Gegenbewegung gegenüber der Intensivierung der Kommerzialisierungstendenzen ist Open Access wichtig, auch wenn in den Naturwissenschaften bereits erkennbar wird, dass die großen Verlage solche Strategien geschickt aufnehmen und unterwandern können. Ich persönlich sehe die Open Access-Entwicklungen, nicht nur aufgrund dieser jüngeren Entwicklungen, indes durchaus auch kritisch. Für den Endnutzer, wie es im bibliothekarischen Jargon gerne heißt, also die Wissenschaftlerin und den Wissenschaftler, wird dabei allzu leicht verdeckt, dass es auch um eine Umleitung von Finanzierungsströmen geht. Ebenso sollte man auch die möglichen Folgen für eine noch mittelständisch geprägte Landschaft geisteswissenschaftlicher Fachverlage nicht außer Acht lassen, die bislang eine tragende infrastrukturelle Säule der geschichtswissenschaftlichen Fachinformation und mit ihren spezifischen Profilen auch ein integraler Teil der Evaluierungskultur des Faches sind, worauf in den letzten Jahren insbesondere Olaf Blaschke hingewiesen hat. Und was Google Books angeht, so ist dies letztlich die Privatisierung einer öffentlich finanzierten Allmende über deren Zugriffsoptionen am Ende Alphabet Inc., der Mutterkonzern von Google, entscheidet. Trotz aller kritischen Differenzierung sehe ich aber auch, dass Open Access eine Chance für die Entwicklung geisteswissenschaftlicher Publikationsoptionen darstellt; und dass eine intensive Diskussion im Fach wünschenswert wäre, in welcher Form diese Optionen genutzt werden sollten. Die FIDs können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den nächsten Jahren dabei unterstützen, indem sie entsprechende Infrastrukturen zur Verfügung stellen.

H-Soz-Kult: Die Ende 2015 ausgelaufene Förderung des Sondersammelgebiets für den angloamerikanischen Kulturraum orientierte sich am klassischen Fächerkanon (Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte, Geographie, Politik und Verfassungskunde) mit einem regionalen Tableau. Bei den FIDs rücken die „Area Studies“ als interdisziplinär orientierte historische Kulturwissenschaften ins Zentrum. Frau Lehmkuhl, wie kommt dies Ihren persönlichen Arbeitsweisen, Interessen und Perspektivierungen entgegen bzw. welche Entwicklungen in den Fächern sind passfähig zu dieser Entwicklung der FID-Angebote?

Ursula Lehmkuhl: Die Entwicklung der „Area Studies“ in Richtung auf interdisziplinär orientierte Kulturwissenschaften ist insbesondere für die stärker sozialwissenschaftlich arbeitenden Fächer problematisch. „Area“-orientierte Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften entfernen sich gegenwärtig wieder von interdisziplinären Ansätzen, um sich gegen die Dominanz der „cultural studies“ abzugrenzen und die eigenen disziplinäre Identität zu stärken. Dieser Trend zur stärkeren disziplinären Ausrichtung innerhalb der „Area Studies“ wird durch die mittlerweile gut etablierte Forschung zu transnationalen Phänomenen unterstützt. Auch die „Area Studies“ müssen sich mit dem Problem des methodologischen Nationalismus auseinandersetzen. Auch Kulturräume stellen keine klar abgegrenzten Container dar, sondern sie sind auf vielfältige Weise miteinander vernetzt. Der Forschungstrend hin zu transkulturellen Studien stellt auch für die FIDs eine Herausforderung dar. Auch hier ist es wichtig, vernetzte Recherchemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, mit denen Forschungsarbeiten, die über den engeren Bereich des in Frage stehenden Kulturraums hinausgehen und die transkulturellen Dimensionen in den Blick nehmen, einen schnellen Zugriff auf einschlägige Publikationen erhalten.

H-Soz-Kult: Einer der Schwerpunkte der FIDs wird die nutzergesteuerte Erwerbung von Literatur sein. Deshalb wird ein sog. "vorausschauender" Erwerb und Sammlungsaufbau nicht mehr stattfinden. In verschiedenen Statements von Bibliothekaren und Wissenschaftlern wurde dies bemängelt, da zukünftig Lücken entstehen würden. Wie schätzen Sie diese Szenarien ein: Kann eine stärkere Orientierung an Bedürfnissen der Wissenschaftler nicht tatsächlich zu einer Fokussierung auf den Erwerb wesentlicher Literatur führen? Und wie würden Sie selbst an einem nutzergesteuerten Erwerb partizipieren?

Ursula Lehmkuhl: Meine Befürchtungen habe ich oben bereits ausgeführt. Ich sehe die Gefahr, dass bei einer nutzerorientierten Beschaffungspolitik Lücken entstehen, die spätere Forschergenerationen schmerzlich zu spüren bekommen könnten. Gleichzeitig ist natürlich jeder einzelne Wissenschaftler daran interessiert, möglichst rasch die aktuelle Literatur zu dem von ihr oder ihm gerade verfolgten Forschungsgebiet zu erhalten. Häufig stoßen dabei die Universitätsbibliotheken an finanzielle Grenzen. Ich könnte mir eine nutzergesteuerte Partizipation am Erwerb zentraler Literatur so vorstellen, dass die von mir zur Anschaffung empfohlene Literatur von der zuständigen Fachreferentin resp. dem Fachreferenten der Bibliothek geprüft und an die SUB Göttingen als Anschaffungsempfehlung weitergeleitet wird. Für den Wissenschaftler hätte dies den Vorteil, nur mit einer Stelle kommunizieren zu müssen und die weitere bibliothekarische Koordination von Literaturbeschaffung den Fachleuten zu überlassen. Für die Sicherstellung eines funktionierenden Kommunikationssystems zwischen den Bibliotheken hätte ein solches Kaskadenmodell den Vorteil, dass die Erwerbungsreferenten immer wieder an die Existenz der FIDs erinnert werden und sie in einen kontinuierlichen Abstimmungsprozess eingebunden werden.

Wilfried Enderle: Um Missverständnissen vorzubeugen: Bei den hier genannten vier FIDs wird es in den nächsten drei Jahren, solange das Projekt läuft, bis zu einem gewissen Umfang weiterhin auch einen „vorausschauenden“ Erwerb und Sammlungsaufbau geben. Dafür wurden Mittel beantragt und bewilligt, auch wenn sie deutlich unter dem Niveau der Mittel für die Erwerbungen im Sondersammelgebiet liegen. Anders als beim Sondersammelgebiet wird allerdings nicht mehr systematisch Literatur für das gesamte Fach erworben, sondern nur - grob verkürzt - spezialisierte Fachliteratur, die voraussichtlich in Deutschland nicht oder nur von wenigen anderen Universitätsbibliotheken erworben wird. Praktisch heißt das zum Beispiel, dass sich die vorausschauende Erwerbung bis zu einem gewissen Grad auf Angebote kleinerer Verlage oder auf Monographien und Zeitschriften zu spezialisierten Themen fokussieren wird. Damit soll gewährleistet sein, dass weiterhin in Deutschland ein möglichst großes, fachlich einschlägiges Literaturangebot vorhanden ist, freilich nicht mehr konzentriert an einer Sondersammelgebiets- oder FID-Bibliothek, sondern verteilt an Universitätsbibliotheken und der FID-Bibliothek. Bei gängigerer Fachliteratur, die bei größeren Verlagen erscheint, wird davon ausgegangen, dass sie in der Regel an einigen Universitätsbibliotheken vorhanden ist, „hochspezialisierte“ Literatur hingegen bei der FID-Bibliothek. Der Zugang ist in beiden Fällen für die Wissenschaftlerin und den Wissenschaftler derselbe: Sie müssen eine Fernleihbestellung aufgeben.

Wie und in welchem Umfang nun die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an dem Bestandsaufbau aktiv teilnehmen werden, ist eine Frage, auf deren Antwort ich selbst gespannt bin. Eine Kooperation mit den Fachreferentinnen und Fachreferenten anderer Bibliotheken ist eine wichtige Option, die von den FIDs bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch bereits eingeplant ist. Es ist unter anderem vorgesehen, an möglichst vielen Universitäten vor Ort über die Angebote der FIDs zu informieren, wobei dies sowohl die Endnutzerinnen und -nutzer einschließt als auch die Bibliothekarinnen und Bibliothekare. Letztlich sollte man indes auch nicht vergessen, dass es diese Nutzerorientierung und -beteiligung auch schon bei den alten Sondersammelgebieten gab. Nutzerwünsche wurden auch schon damals, wenn die Erwerbungsrichtlinien es erlaubten, erfüllt, ebenso wie Bestellvorschläge, die von anderen Bibliotheken kamen.

H-Soz-Kult: Eine weitere Säule in den FIDs wird die Lizenzierung von Spezialdatenbanken sein. Wie schätzen Sie den Bedarf in der historischen Forschung an Online-Ressourcen bzw. Fachdatenbanken ein?

Ursula Lehmkuhl: Meine Erfahrung ist, dass der Bedarf an Spezialdatenbanken und Online-Ressourcen in der historischen Forschung deutlich zugenommen hat. Ich kann mir kaum international kompetitive historische Forschung vorstellen, die nicht mit den digital verfügbaren Quellenmaterialien arbeitet. Im Gegenteil: Ich halte es für eine vordringliche Aufgabe nationaler Forschungsförderpolitik, die digitale Bereitstellung von Quellensammlungen, wie etwa die oben erwähnte Auswandererbriefsammlung, für die internationale Forschung zu fördern. Angesichts der mittlerweile gut etablierten Standards für die digitale Edition geht es dabei nicht mehr vornehmlich darum, informationstechnische Fragen des digitalen Publizierens und Edierens zu klären, sondern die Anwendung und Umsetzung etablierter Methoden im Rahmen konkreter Quelleneditionsprojekten zu unterstützen. Inhaltlich sollte dabei nicht so sehr eine aus den individuellen Forschungsinteressen der beteiligten Wissenschaftler resultierende selektive Editionspraxis gefördert werden, sondern Quellensammlungen sollten als Sammlungen digital publiziert werden, ohne Kürzungen und ohne den Zwang, eine Auswahl treffen zu müssen. Die Auswertung von Quellensammlungen unter spezifischen Forschungsfragen ist ein nachgeschalteter Prozess.

Wilfried Enderle: In letzten Jahren haben einige kleinere angloamerikanische Fachverlage thematisch spezialisierte Fachdatenbanken unterschiedlicher Art aufgebaut. Die eingangs genannten „North American immigrant letters, diaries and oral histories” sind ein dafür typisches Beispiel. Das Angebot der FIDs, auf Nachfrage und mit einer gewissen Selbstbeteiligung durch die wissenschaftlichen Einrichtungen der jeweiligen Interessenten, solche Datenbanken zu lizenzieren, soll auch zeigen, wie groß der konkrete Bedarf an diesen Angeboten tatsächlich ist. Dies ist tatsächlich nicht einfach einzuschätzen, da diese oft mit Blick auf den nordamerikanischen Universitätsmarkt und die dortigen Studiengänge konzipiert wurden. Insofern ist es auch hier für uns eine spannende Frage, in welchem Umfang die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Angebot tatsächlich benötigen und annehmen werden; und dieser gleichsam experimentelle Charakter dieses Moduls der FIDs ist auch bewusst einkalkuliert worden.

H-Soz-Kult: Welche Veränderungen erwarten sie nach der Bereitstellung der neuen FID-Angebote und welche Wünsche und Vorschläge würden Sie an eine Weiterentwicklung der FIDs Anglistik/Großbritannien- und Irlandstudien, Amerikastudien, Kanadastudien, Australien- und Neuseelandstudien knüpfen?

Ursula Lehmkuhl: Ich denke, dass es im Hinblick auf die Weiterentwicklung der neuen FID-Angebote primär um zwei Dinge gehen wird: Erstens die flächendeckende Kommunikation der Angebote in die betroffenen Fächer, aber auch in angrenzende Fächer hinein. Universitätsstandorte, an denen die hier zur Diskussion stehenden Area Studies vertreten sind, müssen über ihre Bibliotheken Informationen über die FID-Angebote vorhalten, bei Bibliotheksführungen und Einführungen für Erstsemester auf die FID-Angebote hinweisen und die vorhandenen Recherchemöglichkeiten erläutern. Zweitens geht es darum, die Präsentation der Information und die bibliographische Erfassung relevanter Angaben für den Einzelnutzer zu verbessern. Hier sehe ich noch großen Entwicklungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Nutzung der bibliografischen Daten in Werkzeugen wie Citavi oder EndNote. Im Unterschied zu JSTOR oder zur Library of Congress oder anderen großen Bibliotheken sind die importierten Daten aus der „Library of Anglo-American Culture and History“ teilweise unvollständig.

Inhaltlich wäre es äußerst wichtig, in regelmäßigen Abständen die Beschaffungssituation zu überprüfen und zu evaluieren. Was wurde erworben? Welche Bereiche blieben unberücksichtigt? Was hätte man unter den alten Bedingungen des Sondersammelgebiets erworben und was ist unter den neuen Richtlinien der FID nicht angeschafft worden? Um welche Forschungsgebiete handelt es sich, was ist somit jetzt nicht mehr verfügbar? Nur über solche Maßnahmen der internen Qualitätssicherung durch regelmäßige jährliche Evaluation wird man in fünf Jahren feststellen können, ob die oben beschriebenen Befürchtungen hinsichtlich des Verlustes von Wissensarchiven durch Umstellung von „Sammeln“ auf „Nutzerorientierung“ tatsächlich eingetreten sind. Nach fünf Jahren hätte man noch Zeit gegenzusteuern und die Beschaffungspolitik wieder vermehrt an den Prinzipien des „Sammelns“ auszurichten.

Wilfried Enderle: Das FID-Konzept ist nicht monolithisch. Das Prinzip der Nutzerorientierung, so ambivalent und problematisch es auch sein mag, gewährleistet zumindest in der Theorie eigentlich immer auch eine Anpassung und Veränderung. Dass solche Anpassungsprozesse sinnvollerweise auf Evaluierungen beruhen sollten, steht außer Frage. Eine solche Evaluierung am Gesichtspunkt der Sammlung oder präziser, der Vollständigkeit der Sammlung unter dem Blick der Zugriffsmöglichkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland zu sehen, ist aus meiner Sicht ausgesprochen begrüßenswert. Nur so kann de facto eine Gewinn- und Verlustrechnung zwischen Sondersammelgebiet und Fachinformationsdienst erstellt werden. Die Entscheidung darüber, welche Bedeutung ein solches Kriterium für die weitere Entwicklung der FIDs hat, liegt freilich bei den zuständigen Gremien der DFG und hängt damit von deren wissenschaftspolitischen Leitlinien ab und der Frage, in welcher Form die DFG in Zukunft die spezialisierte Informations- und Literaturversorgung in Deutschland fördern und unterstützen will.